Lebensmodelle mit Verfallsdatum
Sayaka Murata demontiert mit „Schwindende Welt“ den Glauben an die Gültigkeit sozialer Normen und intimster Überzeugungen
Von Lisette Gebhardt
Schwindende Welt wurde kurz vor Muratas internationalem Bestseller Konbini ningen (2016; dt. Die Ladenhüterin) publiziert. In ihrem im japanischen Original 2015 erschienenen Werk Shômetsu sekai (dt. Schwindende Welt) zeigt sich die Meisterin beunruhigender Prosa mit dystopischer Prägung bereits als Vollendete. Der Text enthält alle Elemente von Muratas Kunst – die Diskussion um Werte und anerkannte Lebensmodelle, eine scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Mann und Frau, Fragen in Bezug auf die menschliche Sexualität sowie auf die Definition dessen, was als normal gelten soll.
Die letzte Eva oder Aufzeichnungen einer biopolitischen Transformation
Muratas Text, der eine nicht allzu ferne Zukunft beschreibt, gliedert sich in drei Teile und einen Prolog: Zunächst ein Zwiegespräch zwischen der zwanzigjährigen Protagonistin Amane und ihrem Freund, die zusammen im Bett liegen. In Anspielung auf biblische Vorstellungen meint der Geliebte, sie bliebe wohl das letzte menschliche Wesen, das sexuelle Aktivitäten aufzuweisen habe, während der Rest der Menschheit in einen neuen paradiesischen Zustand eingetreten sei. Mit innovativen hygienisierten und kollektivistischen Formen von Paarbeziehung, Familie und Sexualität sind die alten, in der tierischen Biologie des Menschen angelegten Lebensmodelle im Begriff zu verschwinden. Das Sexuelle ist durch biopolitische Richtlinien einer nicht näher in Erscheinung tretenden Regierung geregelt worden. Man hat vor allem die Reproduktion beschränkt.
Teil zwei schildert Amanes Leben nach ihrer Heirat mit dem sensiblen Saku. Das Eheleben gestaltet sich ganz nach dem Muster zunehmend entindividualisierter Paargemeinschaften: Erotische Abenteuer werden außerhalb gepflegt, das eheliche Bündnis versteht sich als eine streng Libido-lose Zone semi-geschwisterlicher Innigkeit zum Zwecke der Entspannung und Fortpflanzung durch Insemination. Amane hatte früh von ihrer Mutter erfahren, auf die herkömmliche Art gezeugt worden zu sein – was bedingt durch die aktuell vorherrschenden Normen tiefe Schamgefühle und Ekel bei ihr auslöst. Obwohl sie sich dem Einflussbereich der Mutter stets entziehen will, hängt sie zumindest noch am sexuellen Austausch mit dem anderen Geschlecht.
Teil drei behandelt die Umsiedlung des Ehepaars in die als Ideal visionierte, gerade eine Dekade alte Modellstadt Experimenta. In der computerverwalteten Gated Community vollzieht sich der offenbar global angestrebte Umbau hin zu einer Zukunftsgesellschaft jenseits der Menschenbilder vergangener Zeiten in noch rascheren Schritten.
Kinder der Menschheit
Saku erlebt dort einen großen Erfolg als erster Mann, der in einer künstlichen Gebärmutter extrakorporal ein Kind austrägt. Die Autorin spart nicht an drastischen Einblicken in die neue Normalität: „Eigentlich sah er so aus, als wäre er von einem riesigen Parasiten befallen.“ Oder: „Der Penis meines Mannes hing schlaff zur Seite, und die aufgeschnittene Gebärmutter wirkte wie eine aus seinem Bauch erblühte Blume aus künstlichem Fleisch.“
Im Laufe des Aufenthalts in Experimenta hat sich das Paar voneinander entfremdet. Entgegen der früheren Übereinkunft mit Amane, ihrer beider Nachwuchs zusammen zu betreuen, übergibt Saku das durch Befruchtung entstandene Baby dem Neugeborenen-Zentrum, wo es im Kollektiv aufwachsen wird. Das Mission Statement von Eden stützt sich wohl gänzlich auf den Leitsatz Follow the Science und verlautbart vollmundig die Erkenntnis verschiedener „Institute“: Die „traditionelle Kernfamilie (Family) sei für Tiere mit hoher Intelligenz ein ungeeignetes Aufzuchtsystem“. Ziel der nicht näher beschriebenen Regierung ist, wie man aus den Schilderungen schließen kann, das Humankapital nach bewährten totalitären Mustern – in biologistisch-technokratischer Manier – abzurichten und verfügbar zu machen:
Durch die Kontrolle, die wir über das Leben der Kinder ausüben, sind wir in der Lage, sie zu hervorragenden und fähigen menschlichen Ressourcen zu erziehen.
Individuelle Elternschaft gehört ebenso wie der biologische Geschlechtsunterschied und sexuelle Beziehungen unwiderruflich der alten Zeit an. Sämtliche dem Eros und der Libido (dieser entledigt man sich wie der Notdurft in öffentlichen Bedürfnisanstalten) entwöhnten Erwachsenen der Stadt sind nun die „Mütter“ einer Schar von androgynen Kindern ohne nennenswerte persönliche Charakteristika:
Alle trugen blütenweiße Kittel und hatten kurze Haare, die unterhalb der Ohren gerade abgeschnitten waren.
Weiter heißt es bei Murata, deren Schilderungen des grotesken und einigermaßen unheimlichen Kinderkollektivs teilweise an John Wyndhams (1903-1969) SF-Roman The Midwich Cuckoos (1957) erinnern:
Aber das Kind auf dem Arm meines Mannes und das auf dem Arm des Hauswirts hatten genau den gleichen Gesichtsausdruck. Das Kind bei meinem Mann hatte eine große Nase und das bei dem Hauswirt einen dunklen Teint, aber ihre Mimik war identisch. Wenn sie lachten, kniffen sie die Augen zusammen und sperrten den Mund auf. Bei näherem Hinsehen bemerkte ich, dass auch die sogenannten großen Geschwister der Kinder den gleichen Gesichtsausdruck und das gleiche Lachen hatten.
Am Ende folgt ein finales Furioso, das die sich vollziehende gesellschaftliche Transformation als Deformation erkennen lässt. In einer letzten Szene – suspendiert zwischen Verschmelzungsphantasie und Bodyhorror – offenbart sich die monströse Gestalt des zweifelhaften neuen Paradieses.
Im Versuchslabor der Menschenfabrik: Normen, Normalität, Wahn
Murata gelingt mit Schwindende Welt eine exquisite Dystopie der Gleichschaltung. Amane erkennt temporär den Irrweg der Entwicklungen: „Wir waren in einer Fabrik zur Herstellung einheitlicher, pflegeleichter Menschen.“ Die Autorin illustriert den selten aus einem solch distanziert-ironischen Blickwinkel betrachteten Umstand, dass Daseinsmodelle, moralische Haltungen und sogar intimste Überzeugungen der Bevölkerung viel weniger konsistent sind als gedacht. Man setzt sich auch nicht weiter mit der problematischen Natur der eigenen Spezies auseinander. Auf diese Weise kommt es dazu, dass sich Schritt für Schritt im Modus smarter Herrschaftstechnik eine gravierende Umwälzung Bahn brechen kann, die für Individualisten, Freiheitsliebende und Anhänger des ursprünglichen animalischen Menschen nichts Gutes erwarten lässt.
Der komplexe Roman hat seinen Ausgang u. a. in der Mutter-Tochter-Problematik und setzt sich zudem mit den manipulativen Strukturen der japanischen Kreativindustrie (Stichwort otaku-Konsum) auseinander. In erster Linie gestaltet er jedoch als eine beißende Kritik am zweifelhaften Wesen des Homo sapiens ein faszinierendes zeitgemäßes Szenario für ein altes Thema. Der Mensch fühlt sich am Ende als Herdentier wohler, ist für Gehirnwäsche äußerst empfänglich und ergibt sich wider besseres Wissen dem Diktat der Stunde. Amanes Diagnose lautet: „Diese Welt war verrückt.“ Trotzdem lässt sich die Protagonistin auf die Denkweisen von Experimenta ein.
Vielleicht der verwerflichste Charakterzug der Spezies bleibt ihr unheimlicher Drang zur Übereinstimmung mit dem Umfeld, aus dem sich ein grausamer Fanatismus entwickelt. Wenn die Aussicht auf pluralistische Lebensmodelle mit individuellen Entfaltungsmöglichkeiten schwindet, erreicht der Gleichschaltungsdruck seinen Höhepunkt. Die neue Normalität muss mit allen Mitteln verwirklicht werden: Das Artfremde wird gewaltsam assimiliert und die Ideologie von „Eden“ offenbart ihre wahnhaften, diabolischen Abgründe.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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