Mit Lust und Schrecken wiederentdeckt

Miku Sophie Kühmel verliebt sich in die Geschichte von Hannah Höch und verrät dabei viel über unsere Gegenwart

Von Christine FrankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Frank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal kommt alles zusammen. Eine Autorin, die schon zwei Romane erfolgreich in die Öffentlichkeit gebracht hat, Kintsugi (2019) und Triskele (2022), in denen sie von Lieben erzählt, die zu Lebensgeschichten wurden, von Lieben, die Generationen verbinden und trennen, wie von Lieben zwischen Geschlechtern, die sich gleichen oder auch nicht – diese Autorin, die 1992 im thüringischen Gotha geboren wurde wie eine andere große Künstlerin 103 Jahre vor ihr, entdeckt die Lebensgeschichte ebendieser Künstlerin und macht daraus einen Roman. Einen Roman?

Wahrscheinlich ist es nach wie vor notwendig, um gelistet, eingeordnet und verkauft zu werden, solche Schildchen auf Bücher zu kleben, damit sie preiswürdig werden. In diesem Fall erscheint das Buch eines Preises ebenso würdig, wie es sich der Etikettierung eigentlich entziehen müsste. Denn wie hätte sich die Liebens- und Lebensgeschichte der Dadaistin und begnadeten Collage-Künstlerin Hannah Höch auf einen Roman herunterbrechen lassen, ohne sie zu betrügen um die Essenz ihres Schaffens und ihres Seins? 

In Zitatmontage und stilistischer Akrobatik, mit denen sich Kühmel dem Geist der Zeit der beiden im Roman porträtierten Künstlerinnen – Hannah Höch und ihrer langjährigen Geliebten Til Brugman – anzuschmiegen sucht (und hier sprechen noch viele andere mit – von Kurt Schwitters bis zu Else Lasker-Schüler), wie in den eingestreuten Du-Ansprachen an „Hannah“ ist immer auch die klug-witzige, fest in dieser Welt und ihrer Gegenwart verankerte Autorin zu vernehmen, deren virtuos gehandhabte sprachliche Ausdrucksfähigkeit einer mindestens ebenso großen Empathiebereitschaft konsequent zuarbeitet. Herausgekommen ist das intensiv nachempfundene Profil weniger der historischen „Hannah“ Höch als einer transnationalen lesbischen Künstlerinnenbeziehung in einer gewaltigen Umbruchzeit, das auf geradezu unheimliche Weise auch unsere Gegenwart anspricht.

„der vorliegende roman […] ist eine geschichte“ gibt Kühmel zur Sicherheit vorab zu verstehen. „die szenen in diesem buch […] sind passiert, […] die figuren […] sind erfunden.“ Im Epigraph zu ihrem Buch streicht Kühmel explizit alle möglichen Spekulationen über den historischen Wahrheitsanspruch ihrer Darstellung durch und definiert dessen fiktionalen Charakter. Gleichwohl hat sie sorgfältig recherchiert – unter anderem im Deutschen Kunstarchiv, das den Nachlass von Hannah Höch hütet und mit ihm zahlreiche Dokumente ihres leidenschaftlichen Verhältnisses mit der niederländischen Übersetzerin und Schriftstellerin Til Brugman, die ganz zu Unrecht bis heute weit weniger Aufmerksamkeit erfahren hat als Höch selber (die gute Nachricht ist, dass das Archiv unter der Leitung von Susanna Brogi an der Publikation ihrer Korrespondenz arbeitet). Zumindest in einem gemeinsamen Werk, dem 1935 in Victor Otto Stomps’ „Rabenpresse“ erschienenen Buch Scheingehacktes, wurde ihre Beziehung aktenkundig. Die Liste von Kühmels Danksagungen und Nachweisen am Ende des Buches ist ihren umfangreichen Vorarbeiten entsprechend lang und erinnert an die Gepflogenheiten eines wissenschaftlichen Werks – und doch geht es hier um Fiktion.

Zusammengehalten wird das Buch durch Jahreszahlen statt Kapitelüberschriften und durch Zitate, die die geborene Erzählerin Kühmel in einem locker gehaltenen Netz aus Lebens- und Liebesszenen, Reisen und Gesprächen, Briefen und Ereignissen verschlingt, neu auswirft und arrangiert, und über dessen Löcher in den Maschen des an den Jahren 1926–1936/39 und schließlich Hannah Höchs Todesjahr 1978 befestigten Textes sich ihre akrobatische Erzählweise sicher hinwegtastet.

Aber wie lässt sich aus den gesichteten Dokumenten, Fotos, Bildern, Briefen, Notizen heraus vermitteln, wie „die figuren in diesem text […] handeln, träumen, atmen“? Wie lassen sich die Ängste und Hoffnungen, Glücksmomente und Ver-zwei-flungen der nicht allein in ihre Liebesbeziehung verwickelten, sondern zugleich um Veröffentlichung und Anerkennung ihrer Werke ringenden Künstlerinnen imaginieren – und zum Ausdruck bringen?

„Tils Hand liegt wie ein warmes Pferdemaul in Hannahs Nacken“; „ungeduldig wie Gefangene über die Planke treibt Hannah […] die Wörter ihre Zunge rauf“; „das Ticken der Wanduhr scheitelt das Arbeitszimmer diagonal“; „da stand die Eifersucht schon winkend in der Tür, mit einer Federboa um den Hals und einer schnieken Wasserwelle und sang eines ihrer fies-traurigen Chansons“; „dass die Gefühle einen Ort verändern können und aus einem sicheren Nest plötzlich ein zugiger Ast in einer Baumkrone wird, von dem das weite Ausschauen sich nicht mehr lohnt, weil man nur noch beschäftigt ist, sich mit seinen Klauen am Holz festzuhalten, bei jedem Windstoß fürchtend, dass der Ast abbrechen könnte“; „von den Enden der Welt: jede Karte ein Pfeil in meinem Rücken, in meinem Herz steckt jetzt so viel, dass es aussieht, als wäre ich ein Wegweiser“; „Hannah muss sich setzen. Die Wand gegenüber ist makellos gespachtelt, fast rutschen ihre Augen vor Verzweiflung daran herab, da setzt sich Gott sei Dank eine fette Stubenfliege in den oberen rechten Quadranten, die sie jetzt, vom Telefonbänkchen aus, an Tils Stelle anstarren kann“; „Zuhausegefühle wie das, wenn man auf einem Bild eine Max-Ernst-Sonne wiederfindet und dadurch plötzlich selbst ein wenig besser weiß, wo im Universum man grade steht“.

Kühmels Erzählen, das sich immer wieder überschlägt mit witzigen Wendungen, skurrilen Sprachbildern oder abenteuerlichen Ausdrucksweisen, die auch mal bis ins Manieristische gedehnt werden, verliert dabei doch fast nie die Bodenhaftung, orientiert sich an konkreten Beobachtungen, ahmt den Stil der Epoche, die sie zu evozieren sucht, bis in die sprachlichen Ausdrucksweisen des Lebens zwischen Berlin und Den Haag nach, und fügt ihren in der Imagination zusammengestellten Momentaufnahmen oder historischen Porträts – wie in der liebevollen Hommage an den unvergleichlichen Emil Orlik oder die ernste Käthe Kollwitz – doch immer ein ironisches Augenzwinkern hinzu. Getragen durch scheinbar grenzenlose Sympathie mit den aus den Dokumenten und Korrespondenzen heraus neu entworfenen und wieder ins Leben gestellten Figuren flicht Kühmel vielerlei Begegnungen der Künstlerinnen mit Raoul Hausmann, Kurt Schwitters, Theo van Doesburg oder Piet Mondrian und anderen mit ein und entwirft so, bei aller Fokussierung auf das lesbische Paar, zugleich ein eindrucksvolles Panorama der dadaistischen Bewegung zwischen 1926 und 1936/39.

Dabei wird die Epoche keineswegs in der berührenden Liebesbegegnung der beiden starken Frauen verklärt. „Und plötzlich brachen die Feuer aus. Ganz einfach so, neben uns, wir schauten kaum hin, und eh wir es uns versahen, standen sie in Flammen.“ 

Nachdenklich beginnt das Buch bereits mit der Beobachtung einer Szene im Jardin du Luxembourg, in der Paris, das Schiff im Wappen, seinem Wahlspruch „fluctuat nec mergitur“ wieder einmal gerecht wird. Das Bild des kleinen Jungen, dessen Schifflein untergeht und doch nicht untergeht, der „in den bitteren Brunnen seines Herzens“ versinkt und unversehrt, wenn auch verschreckt aus dem flachen Basin wieder auftaucht, einen Schiffbruch ohne Zuschauer erleidend, in seinem Aufmerksamkeit heischenden lauteren Weinen von den beiden Heldinnen des Buches beiseite belacht wird – das Bild dieses kleinen Jungen ist, man ahnt es, zugleich Sinnbild ihres eigenen gefährdeten öffentlichen Navigierens durch eine Welt, die sie schließlich zwar überleben durften, aber vielleicht, wie es am Ende heißt, um den Preis, einander verloren zu haben. Muss erfüllte Liebe, und sei es eine zeitlich begrenzt erfüllte Liebe, immer noch bestraft werden? 

Neben der Geschichte dieser mehr oder weniger offenen, nicht verbotenen und nicht anerkannten lesbischen Beziehung enthält das Buch in einem durchgängigen Strang Reflexionen über das Erinnern und das Erzählen („Wie einem ein paar Jahre später schon alles anders vorkommt“). Es sind poetologisch relevante Bemerkungen, die Kühmel gegen Ende zur explizit autopoetischen Reflexion über das eigene Projekt zuspitzt. Das vorvorletzte Kapitel trägt die Jahreszahl 1936 und beginnt mit Poetik und Traurigkeit. Das Ende der Geschichte ins Auge fassend, formuliert Kühmel hier zugleich die Maxime, die das Schreiben dieses, ihres Buches geleitet habe:

Wenn du nach dem Krieg deine Papiere ordnest, Hannah, wenn auch all die Liebesbriefe und alltäglichen Postkarten, die hinterlassenen Zettelchen und gewidmeten Heftlein darunter sind, wirst du feststellen, dass mancher Stil sich für bestimmte Phasen der Liebesbeziehung besser eignet als ein anderer.

So sind Dada und Surreales schön für alle Anfänge. Weil sie aufbrechen, weil sie verwirren, weil sie interessant sind. Das geht gut auf Holländisch, verspielt und wild und unvorhersehbar, dabei manchmal grob und manchmal wunderbar weich und warm.

Und je älter die Liebe wird, desto feiner die Brüche. Unzuverlässiges Erzählen, aus Spinnereien werden Mären, werden Epen. Das geht gut auf Deutsch, denn die Präzision ist eine der wenigen Sachen, die diese Sprache beherrscht. Präzision und – das eignet sich gut für die nächste Phase – die Gravitas. 

Diese unvermittelte Du-Ansprache an „Hannah“ findet sich an vielen Stellen des bei genauerem Hinschauen immer eigen-artigeren Buches. Sie fraternisiert (oder, besser gesagt, sororisiert), unterläuft die Distanz zu der dargestellten Figur – und führt auf seltsame Weise gerade auch wieder zu größerer Tiefenschärfe. Sie bewahrt die Autorin davor, sich selbst mit den dargestellten Personen zu verbünden, auf deren Liebes- und Künstlerbeziehungen sie sich so tief eingelassen hat. Denn mit der Du-Ansprache bekommt ihr Schreibstil zugleich auch eine distanzierend-belehrende Note. Dann finden sich plötzlich Sentenzen, Lebensweisheiten wie aus dem Bauernkalender der Post-Aufgeklärten: „Die Prozesshaftigkeit der Liebe lässt Prozessionen über Prozessoren laufen. Sie ist nicht das Heil. Sie ist genau richtig für den Moment, ist wichtig, um zu lernen und um den Horizont zu weiten.“ Die zu vielen ,SS‘ im ersten Satz triggern eine Vorahnung, die schon im nächsten Satz bestätigt und anstandsgemäß durchgestrichen wird. Ebenso abgewirtschaftet wirkt der elternhaft angefügte Nachsatz, der „richtig“ mit „wichtig“ vermählt, der das rebellische Moment in plötzlichem Erwachsengewordensein auslöscht und unbarmherzig nüchtern macht. Kühmels durchwegs weniger artistisch raffiniert als klug überlegt formuliertes Buch ist voller Stolpersteine und Fangeisen. Es verleugnet nicht, in was für einer Gegenwart es geschrieben worden ist, welch erschreckende Aktualität ihr historisches Panorama hat, und in welchem Maße diese Gegenwart an ihm mitschreibt – unwillkürlich kommt einem George Steiners unvergesslicher Essay „Warum Denken traurig macht“ (2008) in den Sinn.

Der mit Hannah unternommene Rückblick auf die Jahre 1926–1936 erscheint weniger beunruhigend, wenn man ihn als Roman einer Liebe liest und wenn man diese persönlich und historisch so aufgeheizten Jahre als abgeschlossene Epoche betrachtet. Kühmel aber gibt ihrer Geschichte mit Absicht eben diese andere Note, die gerade da, wo sie scheinbar zu beruhigen versucht, besonders unheimlich wirkt. „Vielleicht ist alles erst der Anfang. Vielleicht eine Wendung, eine aristotelische Wendung, genau, bevor die große Erkenntnis, das reinigende Verständnis kommen würde, damit danach die Lage sich besserte und die Leute es besser wüssten – bis zur nächsten Tragödie.“ Hoffnung, Mörder der Frauen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Miku Sophie Kühmel: Hannah. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2025.
304 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783103974928

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