Tagebuchaufzeichnungen als Verfallsgeschichte
Annie Ernaux porträtiert ungeschönt ihre an Demenz erkrankte Mutter
Von Michael Fassel
Im Sommer 1996 entschließt sich Annie Ernaux, die Tagebuchaufzeichnungen über ihre Mutter zu veröffentlichen – zehn Jahre nach dem Tod der Mutter. Im Vorwort deutet die französische Schriftstellerin an, warum sie so viel Zeit gebraucht hat, um die Einträge einem Publikum näherzubringen: „Vielleicht wollte ich von meiner Mutter und von meiner Beziehung zu ihr ein einziges Bild, eine einzige Wahrheit stehen lassen […].“ Insofern ist es verdienstvoll und womöglich auch schmerzhaft, dass die Literaturnobelpreisträgerin ihre sehr persönlichen Aufzeichnungen beim Transkribieren nicht überarbeitet hat. Der Titel, den Annie Ernaux für ihre Veröffentlichung gewählt hat, stammt von ihrer Mutter: Ich komme aus der Dunkelheit nicht mehr raus ist zwar eine starke Metapher, zugleich aber ist es der letzte Satz, den die Mutter geschrieben habe.
Die französische Schriftstellerin ist – wie wir es aus vielen ihrer Texte kennen – unerschütterlich ehrlich mit sich selbst, sie beschönigt weder die Beziehung zu ihrer Mutter noch die Situation im Pflegeheim. Annie Ernaux schildert in ihrem expositorischen Vorwort, dass die Gedächtnisprobleme ihrer Mutter nach einem Verkehrsunfall einsetzten, als sie als Fußgängerin von einem Auto erfasst worden ist. Auch wenn sie zunächst noch relativ selbstständig agieren konnte, schritt der Verfall des Gedächtnisses weiter voran. Der Arzt diagnostiziert Alzheimer.
Die Tagebuchaufzeichnungen beginnen im Dezember 1983 und enden im April 1986. In dieser Zeitspanne beschreibt Annie Ernaux ungeschönt und ehrlich den geistigen und körperlichen Verfall ihrer Mutter. Die Einträge sind fragmentarisch, teilweise umfassen die Besuche im Pflegeheim nur wenige Sätze von immenser Ausdruckskraft. Dabei handelt es sich meistens um jene Passagen, die die Mutter-Tochter-Beziehung reflektieren und ohne erklärende Erläuterung am Ende eines Tagebucheintrags stehen: „Ich wurde geboren, um meine tote Schwester zu ersetzen. Also habe ich kein Ich.“ Wie auch in ihren anderen autobiographischen Texten bleibt Annie Ernaux ihrem Stil treu: Kein Wort ist zu viel, einiges wird lediglich angedeutet, aber nie bis in die kleinste Regung auserzählt.
Die Besuche im Pflegeheim lösen Erinnerungen bei der Ich-Erzählerin aus. Auch hier schildert sie ungeschönt und wertfrei blitzartig Bilder, die ihr in den Sinn kommen: „Eine Szene aus meiner Kindheit. Sie liegt nackt auf dem Bett, meinem Vater zugewandt. Er prustet los: ,Kein schöner Anblick!‘“ Von derartiger Intensität sind auch die Passagen, in denen sie die Folgen der voranschreitenden Alzheimerkrankheit mit offener Schonungslosigkeit schildert. Sie beobachtet ihre Mutter dabei, wie sie versucht, ein Plätzchen zu essen, ihre Hand aber den Mund nicht findet. Offensichtlich wird überdies die eigene Hilflosigkeit, denen Angehörige demenzieller Personen in vergleichbaren Situationen oftmals ausgeliefert sind: „Sie streckte die Hand nach dem Kuchenpapier aus, ich gab es ihr, wie einem Kind […]. Sie wollte nicht, dass ich es ihr wegnehme, sie ballte die Faust um das Papier. Grauen angesichts dieser Umkehrung der Mutter-Tochter-Rolle.“
Zweifelsohne liegt mit den Tagebuchaufzeichnungen eine authentische Verfallsgeschichte vor. Zwischen den Zeilen schimmert aber auch eine Hommage an die Mutter hervor, etwa wenn Annie Ernaux sich trotz allem Ekel der Mutter fürsorglich zuwendet. Sie lotet die Ambivalenzen ihrer Mutter-Tochter-Beziehung aus, und erst in den letzten Einträgen kristallisiert sich die Liebe zur Mutter heraus: „Sie war mir verrückt lieber als tot.“ Das Porträt, das die Schriftstellerin von ihr zeichnet, bleibt allerdings unvollständig, fragmentarisch, auch wenn hin und wieder vergangene Episoden reminisziert werden. Dass der Text erst in diesem Jahr ins Deutsche übersetzt worden ist, ist angesichts der brisanten Thematik und der hochdekorierten Schriftstellerin verwunderlich und längst überfällig, ist das Original doch bereits 1997 erschienen. Dank der Übersetzerin Sonja Finck liegen die intimen und nachdenklich stimmenden Aufzeichnungen nun auch auf Deutsch vor.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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