II.2.12 Analyse von Text- und Kontextbeziehungen

Leseprobe

Von Moritz BaßlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Moritz Baßler

2.12 Analyse von Text- und Kontext beziehungen

»Wie das je Besondere des einzelnen literarischen Textes mit dem Überindividuellen der sozialen Strukturen, der Ideologien usw. ›vermittelt‹ sei, auch mit den jeweiligen Kulturen, ist eine der ›ewigen Debatten‹ der Literaturwissenschaft«. Man kommt aber um die Aufgabe, Text-Kontext-Beziehungen zu analysieren, nicht herum, wenn man literarischen Texten gerecht werden will. Texte sind schließlich ihrer Natur nach transsituativ und werden daher nicht selten in Situationen gelesen, die von ihrem Ursprungskontext sehr verschieden sind. Dazu kommt, dass kein Text vollständig ist, solange er nur in seiner gespeicherten, überlieferbaren Form (z. B. Buchstaben auf Papier) vorliegt, denn jede Textsequenz bedarf, um lesbar zu werden, ihrer Ergänzung durch Paradigmen (vgl. I.9.1). Man versteht nur, was dasteht, wenn man es mit dem vergleicht, was da stattdessen auch stehen könnte. Da die Paradigmen aber im Text nicht mitnotiert sind, ist es sehr leicht möglich, bei der Lektüre sozusagen das falsche Hintergrundwissen aufzurufen und damit den Text anders zu lesen, als das in seinem Entstehungskontext möglich oder gar intendiert war. Ob ich ein barockes Gedicht oder ein Schiller-Drama heute lese oder ein Rap-Stück aus einem amerikanischen Immigrantenviertel in Münster höre – immer besteht die Gefahr, dass ich mein eigenes kulturelles Wissen ganz unreflektiert an den Text herantrage und ihn dadurch ›falsch‹ verstehe.

›Falsch‹ steht hier in einfachen Anführungszeichen, denn solche ahistorischen, aktualisierenden Textlektüren sind in bestimmten Fällen durchaus möglich und legitim. Das je gegenwärtige Interesse an der Literatur vergangener Epochen ist ja selten ein bloß historisches – man denke nur an aktuelle Inszenierungen klassischer Dramen. Dennoch versucht eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft in der Regel, zunächst die zeit- genössische Bedeutung eines Textes zu rekonstruieren. An diesem Problem hat sich eine Vielzahl methodischer Schulen der Literaturwissenschaft abgearbeitet, und zwar mindestens schon seit Platons Klage, eine verschriftlichte Rede sei wie ein verirrtes Kind, sie bedürfe »immer des Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen«.

Hermeneutik: Kommentar

In der hermeneutischen Tradition wäre der Vater des Textes sein Autor. Der Text wird dabei im Kern als eine Aussage aufgefasst, die jeden Leser, gleich welcher Kultur er angehört, zumindest potenziell unmittelbar angeht – jedenfalls gilt das für bedeutende Texte der kulturellen Überlieferung: Plato, Shakespeare und Goethe sprechen direkt zu uns. Der Leser eines Textes ist also auf dessen historischkulturellen Ursprungskontext nur dann verwiesen, wenn sich Teile der Textaussage seinem unmittelbaren Verständnis verschließen. Verstehen findet in Gestalt eines hermeneutischen Zirkels statt, in dem die Textdetails zu einer Gesamtaussage zusammengefügt werden und zugleich von dieser Gesamtaussage her ihre Bedeutung erhalten. Ein unbekanntes Wort, oder ein Wort, unter dem wir heute etwas anderes verstehen (z. B. »Witz« im 18. Jh.), blockiert kurzfristig diesen Zirkel. Wenn ein Teil nicht ins organische Ganze passt, wird der reibungslose Verstehensprozess behindert.

Das bewährte literaturwissenschaftliche Mittel, solche Blockaden zu beheben, ist seit alters her der Kommentar. Ein Kommentar stellt punktuell Informationen zur Verfügung, die dem Text selbst nicht zu entnehmen sind. Er übersetzt sozusagen den unverständlichen Teil in den sprachlich-kulturellen Horizont des Lesers und beseitigt damit die partielle Verständnisblockade. Daraufhin steht dem Gewinn der ursprünglichen Textaussage im Durchlaufen des hermeneutischen Zirkels nichts mehr im Wege. Kommentare basieren dementsprechend immer auf mehr oder weniger expliziten Hypothesen über das kulturelle Wissen – und zwar weniger das Wissen des Autors oder der Zeitgenossen, sondern vor allem das des Lesers. Auch der zeitgenössische Leser kann ja bereits als kommentarbedürftig eingestuft werden, wenn der Text z. B. in einer historisch entlegenen oder exotischen Kultur spielt – man denke an die Fußnoten in den sogenannten Professorenromanen des Historismus.

Eine weitere Kommentarebene wird nötig, sobald der Text selbst seinem Entstehungskontext entrückt wird. […]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.