II.2.11 Vergleichende Textanalysen

Leseprobe

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

2.11 Vergleichende Textanalysen

Der Vergleich und die Literaturwissenschaft

Das Vergleichen ist ein grundlegendes geistiges Verfahren, das jeder wie selbstverständlich übt. Es ist auch in der Wissenschaft weit verbreitet und hat seinen Ort in der Mathematik ebenso wie in der Biologie, in der Rechtswissenschaft ebenso wie in der Politikwissenschaft, in der Sprachwissenschaft ebenso wie in der Religionswissenschaft (vgl. etwa Zima 2000). In der Literaturwissenschaft ist es seit Langem zu Hause. Gleichwohl ist es kaum einem li- teraturwissenschaftlichen Handbuch oder Lexikon einen Eintrag wert. Wenn in solchen Zusammenhängen einmal das Stichwort auftaucht, ist in der Regel der literarische Vergleich gemeint, die rhetorische Figur der comparatio. Über den literaturwissenschaftlichen Vergleich hat es auch keine großen interdisziplinären Diskussionen gegeben, die den weit ausgreifenden neueren Auseinandersetzungen über Begriffe wie Autor, Text oder Interpretation entsprächen. Auch deshalb ist das Bewusstsein für seine Eigenart und seine Bedeutung nicht stark ausgeprägt und manches Missverständnis über ihn im Umlauf.

Insbesondere kursieren zwei eng miteinander verbundene Ansichten über das literaturwissenschaftliche Vergleichen: die eine, dass Literaturvergleiche eine Sache der Komparatistik, der Vergleichenden oder – wie sie heute auch genannt wird – der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sei, und die andere, dass dementsprechend die Komparatistik als vergleichende Literaturwissenschaft zu definieren sei. Beides trifft so nicht zu.

Die Komparatistik hat seit Längerem darauf verzichtet, sich wie noch im 19. Jh. – und oftmals in Analogie zu vergleichenden Naturwissenschaften wie der Anatomie – als die Wissenschaft vom Literaturvergleich und damit als streng vergleichend und nur vergleichend zu verstehen. Ein emphatisches Bekenntnis zur »Literaturvergleichung«, wie es beispielsweise noch Louis Betz am Anfang des 20. Jh.s ablegte, ist seither selten geworden.321 Zwar hat etwa George Steiner betont: »Von allem Anfang an sind literarische Untersuchungen und die Kunst des Interpretierens ›vergleichend‹ gewesen« (Steiner 1997, 118), und hinzugefügt, »Ästhetisches Urteilen, hermeneutisches Offenlegen mit Hilfe von Vergleichen« seien »Konstanten in der Untersuchung und Diskussion literarischer Werke« (ebd., 119). Doch ist dies kaum ein Plädoyer für eine bestimmte wissenschaftliche, scharf profilierte Methode.

In manchen neueren, aber auch schon in einigen früheren Definitionsversuchen spielt der Vergleich tatsächlich kaum noch eine Rolle. Das gilt insbesondere für Konzepte, die Komparatistik als ›Weltliteraturwissenschaft‹ verstehen: als die Wissenschaft, deren Objekt die Weltliteratur bildet. Doch auch darüber hinaus wehren sich Komparatisten seit einiger Zeit dagegen, den Namen ihrer Wissenschaft zu wörtlich zu nehmen. »Heute«, schrieb Erwin Koppen schon 1978, »schlägt sich die Komparatistik vorwiegend mit ganz anderen Problemen herum, die Synopse ist für sie charakteristischer als der Vergleich, und selbst dort, wo sie tatsächlich noch vergleichend ist, ist sie es nicht mehr im Sinne des 19. Jahrhunderts«. Die Komparatistik definiert sich heute zumeist dadurch, dass sie literarische Phänomene, in erster Linie Texte, aus wenigstens zwei sprachlich verschiedenen Literaturen zum Gegenstand macht. Der Vergleich stellt dabei nur eine Möglichkeit der Untersuchung dar. […]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.