Will einer eine Reise tun, dann kann er was erleben

Navid Kermani erzählt davon, wie beschwerlich schon der Aufbruch zu einer Reise sein kann

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

‚Was ist denn schon eine Reise quer durch Afrika gegen all das, was einem an Ungemach und Abenteuerlichem schon auf dem Weg aus der eigenen Wohnung zum Flughafen begegnen kann?‘, ist man angesichts der sich an Kinder richtenden, doch auch Erwachsene ansprechenden und von Merhad Zaeri eindrucksvoll illustrierten Geschichte mit dem ungewöhnlichen Titel Zu Hause ist es am schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest versucht zu fragen. Und das nicht von ungefähr.

Denn man stelle sich vor: Da freuen sich schon die Augen auf den Nil, die Ohren auf den „Jazz […] in Addis Abeba“, die Nase auf die Gewürze auf dem „Markt von Timbuktu“, der Mund auf das „Lachen, mit dem mich die Gambier anstecken würden“, der Kopf auf die „Geschichtenerzähler“ in Marrakesch, das Herz auf „die Menschen, die ich überall in Afrika lieben lernen würde“, der „Popo“ auf die Kamele, „auf denen ich durch die Sahara reiten würde“, die Beine auf den Kilimandscharo, „den ich besteigen würde“, die Kehle auf die Cocktails „in den Bars von Nairobi“, die Füße auf die Aufzüge in den „Wolkenkratzer[n] von Johannesburg“ und die rechte Hand „auf die vielen Hände, die ich auf meiner Reise schütteln würde“ – – – und dann macht die linke Hand all diesen Vorfreuden einen dicken Strich durch die Rechnung!

„Ich will nicht nach Afrika!“, lässt sie mit aller Entschiedenheit wissen, und: „Zu Hause ist es schöner“, „Afrika ist mir zu weit!“ Da nützen denn auch das noch von dem Irrglauben an unbeschränkte Handlungsmacht zeugende „Papperlapapp, […] du kommst jetzt gefälligst mit!“ am Anfang und alles nachfolgende Flehen und Betteln und Schimpfen und Schreien des unschwer als Alter Ego des Autors zu identifizierenden Erzähl-Ichs nichts – dieser hat mit In die andere Richtung jetzt erst jüngst von ausgiebigen Afrika-Reisen berichtet, und das Erzähl-Ich gibt sich als Schriftsteller zu erkennen –, die linke Hand bleibt ungerührt und hält sich eisern an einem Heizungsrohr fest.

Ist man überrascht, dass darüber auch die anderen Körperteile – man fühlt sich entfernt an Agrippas Fabel vom Streit der Körperglieder mit dem Magen erinnert – mit der linken Hand und untereinander in Streit geraten und nur mit einem Machtwort des Ich zur Raison gerufen werden können? Selbstverständlich nicht! Ebenso wenig wie darüber, dass im Anschluss alle möglichen Körperteile auf ihre Weise reagieren – der Bauch zum Beispiel witziger Weise mit „Krämpfe[n] aus Angst, das Essen im Flugzeug zu verpassen“ – und nach den ihnen gegebenen, freilich konträr ausfallenden Möglichkeiten versuchen, Einfluss auf die linke Hand auszuüben. Während das Herz auf „Zärtlichkeit“ setzt, um die linke Hand „umzustimmen“, treten die Füße einfach nach ihr. Und der „Popo“ setzt allem die Krone auf, indem er – empfindsame Naturen und reinliche Sprachhüter mögen diesen Satz nicht zu Ende lesen! –, einen „dicken Furz“ loslässt, „damit die linke Hand es vor Gestank nicht mehr zu Hause aushielte“.

Doch alles vergebens. Erst ein herbeigerufener, wie das Ich anfangs auf Flehen und Betteln und Schimpfen und Schreien setzender Klempner, von dem sich der Kopf eine Lösung des Problems erhofft, vermag – um der Wiedergabe von Stileigentümlichkeiten willen wird Kermani wie bei anderen Aufzählungen zuvor paraphrasiert – klopfend, sägend, stöhnend, fluchend, bohrend, hämmernd, ziehend und zerrend Abhilfe zu schaffen. Dergestalt freilich, dass das gänzlich erschöpfte, wie seine Körperteile im Taxi gleich an der ersten Ampel in Schlaf fallende Ich nunmehr „mitsamt der Heizung auf dem Schoß zum Flughafen“ fahren muss. Einzig die linke Hand ruht nicht, „schaut[] sich“ vielmehr im Taxi nach weiteren Möglichkeiten um, die Reise nach Afrika zu sabotieren.

Bevor dann wie anderenorts auch unter massiver Verwendung von immersiv wirkender direkter Rede der Körperteile ausgiebig davon erzählt wird, auf welche Idee die linke Hand verfällt und wie die anderen Körperteile und das Erzähl-Ich darauf reagieren – bei der Ankunft am Flughafen, so viel sei vorweggenommen, klammert sich die linke Hand nunmehr an die Autotür –, kommt es aber erst einmal zu einer in diesem Falle sogar längeren reflektierenden Abschweifung bzw. Verzögerung des Erzählflusses. Solche reflektierenden, zuweilen vorläufig bilanzierenden Partien des Innehaltens sind für das in Zu Hause ist es am schönsten … praktizierte Erzählen charakteristisch:

… wie, die linke Hand schaute sich um?
Ja, sie schaute sich um, warum denn auch nicht? Auch Hände haben Augen, Ohren, Nase und so weiter, sonst könnten sie nicht so schnell reagieren, wenn zum Beispiel ein Ball […] oder sagen wir eine Faust auf uns zufliegt, die der Kopf noch nicht bemerkt hat […]. Ich finde, wenn etwas überschätzt wird, dann doch wohl der Kopf. Denn mindestens so klug wie der Kopf sind Die Augen,

fährt das Ich fort, um dann im Einzelnen von der spezifischen Klugheit aller Körperteile einschließlich des Pos zu berichten. „Ja, nicht nur der Kopf, unser ganzer Körper ist ziemlich klug“, resümiert das Ich schließlich, „und bei mir ist am klügsten, wie ihr schon bemerkt habt, meine linke Hand. Leider.“

Nun soll en détail dahingestellt bleiben, ob das, was das Ich von den Körperteilen, deren (Un-)Vermögen und deren Verhältnis zum Ich und wiederum dessen (Un-)Vermögen behauptet, richtig ist und uneingeschränkt dazu taugt, an Kinder weitergegeben zu werden. Grundsätzlich aber und eingedenk des in Zu Hause ist es am schönsten … praktizierten uneigentlichen Sprechens doch soviel: Klingt das Kopf-Bashing bei gleichzeitiger Aufwertung von Sinnlichkeit und – uneigentlich gesprochen! – Bauch und Herz nicht doch recht zeitgeistig, zumal aus der – eigentlich gesprochen! – Hand eines Kopfes wie dem von Navid Kermani? Der weiß doch sehr wohl zwischen zu Anmaßungen, Übergriffen und Instrumentalismus neigendem Verstand und der diesen übertrumpfender Vernunft zu unterscheiden. Jener Vernunft nämlich, die Sinnlichkeit, Bauch, Herz und Verstand die ihnen gemäßen Betätigungsfelder und damit auch ihre Grenzen aufzeigt. Mit anderen Worten: Wäre es nicht ein weiterer, zweckdienlicher Erzählgag gewesen, den Kopf des Ichs von zwei uneinigen Stimmen bewohnt sein zu lassen? Von Stimmen, die weiteres Öl ins munter prasselnde Konfliktfeuer kippen?

Apropos Konflikt: Klar scheint jedenfalls zu sein, was der Autor mit Zu Hause ist es am schönsten …, seinem nach dem von Toleranz und der Überwindung von Vorurteilen handelnden Ayda, Bär und Hase (2006) zweiten Kinderbuch, erreichen möchte: Am Beispiel von engstirnig-angstbesetzter, voreingenommener Heimatliebe und aufgeschlossen-furchtloser, unbefangener Reiselust nämlich so anschaulich und unterhaltsam vom Menschen und dessen inneren Konflikten, Widersprüchen und Zerreißproben erzählen, dass auch, nein, dass vor allem Kinder erreicht werden. Und diesen so davon erzählen, dass auch deren Neugierde, Wissendurst und Phantasie, deren Bedürfnis nach Identifikation, Ausloten von Grenzen, Gerechtigkeit, gutem Ausgang, erzählerischem Rhythmus und erzählerischer Wiederholung befriedigt werden.

Dass Kermani diese Zielsetzungen im Wesentlichen erreicht, dürfte kaum zu bestreiten sein. Dazu tragen neben Phantastik, Komik und den bereits zitierten, paraphrasierten oder explizit angesprochenen erzählerischen Mitteln auch mehrmalige Adressen an die kindlichen Leser wie „worauf würden sich eure Augen wohl am meisten in Afrika freuen […]?“, „Achtung, jetzt beginnt die eigentliche Geschichte!“ und „Denkt mal scharf nach!“ sowie die gelegentliche Verwendung eines das Erzähl-Ich und den Leser ‚zusammenschweißenden‘ „uns“ bei.

Selbstverständlich sind in diesem Zusammenhang aber auch die eigentlich eine eigene Besprechung verdienenden Illustrationen von Mehrdad Zaeri ein weiteres Mal eigens hervorzuheben. Zu diesen Illustrationen sei hier nur so viel gesagt, dass sie ein Erzähl-Ich präsentieren, das mit Kreissägehut, roter Jacke, gelbem Hemd, grüner Hose, gelben Schuhen, pechschwarzem Haar mit Koteletten und einem kantigen Gesicht mit mandelförmigen großen Augen, schmaler griechischer Nase, zierlich-langem, geschwungenem Oberlippenbart und markant vorstehendem Kinn hinreichend fremd und im Wortsinn bunt genug ist, um aus des (kindlichen) Lesers Sicht die Balance zwischen Attraktion und Distanz zu halten.

Stichwort Attraktion: Die bereits viele Elemente des Buchblocks (s.u.) aufnehmende Gestaltung des Einbandes, dazu der knallgelbe Vorsatz, die meist in wechselnden, kräftigen Farben gehaltenen Doppelseiten, der variantenreiche, durch die Größe, das Motiv und die Platzierung der Illustrationen bestimmte Satzspiegel, die sich nicht nur am Turn-Taking und an Semantik, sondern auch an Syntax und Rhythmus orientierenden Zeilen- und Absatzumbrüche, schließlich typographische, Schriftart, Schriftgröße, Schriftschnitt und Versalien betreffende Ausformungen: Dies alles sollte Zu Hause ist es am schönsten … nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene zu einem hohen ästhetischen Genuss werden lassen. Je nach Kindesalter und nach Rezeptionssituation (Lesen / Vorlesen) könnte dieser Genuss allerdings durch das eher kleine Format (18,5 x 11) des Buches ein wenig eingeschränkt werden.

Doch abschließend noch einmal zurück zu Inhaltlichem, das ja bei der Ankunft des Taxis am Flughafen mit dem Erzähl-Ich, dessen Körperteilen und der Heizung an Bord aus dem Blick geriet. Was sich dann noch alles am und im Flughafen ereignet, gehört nicht hierher, sagt mir mein Kopf, der an des Lesers Augen, Kopf, Herz usw. usf. denkt. Verraten werden aber darf durchaus, sagt eben dieser Kopf, dass es schließlich doch noch nach Afrika geht, wenn auch in einer im Detail reichlich widersinnig wirkenden Aufmachung. Und dass das Erzähl-Ich und alle seine Körperteile auf ihre Kosten kommen. Und dass bald niemand mehr Afrika verlassen will. Und dass die linke Hand sogar mit einer Bemerkung „ausnahmsweise mal recht“ hat.

Mit welcher Bemerkung? Das kann nun aber wirklich nicht mehr verraten werden, mahnen zwei sich von der Tastatur zurückziehende Finger des Rezensenten.

Titelbild

Navid Kermani: Zu Hause ist es am Schönsten, sagte die linke Hand und hielt sich an der Heizung fest.
Mit Illustrationen von Mehrdad Zaeri.
Carl Hanser Verlag, München 2025.
48 ungezählte Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783446282605

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