Kafka zwischen Ich und Über-Ich

Gerhard Rieck legt mit „Kafka ist nicht rätselhaft“ eine sehr enggeführte, aber gleichwohl lesenswerte Analyse seines Werks vor

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Autor beschäftigt sich mit Franz Kafkas Erzählwerk und charakterisiert es mit diesen Worten: „Kafka ist der Dichter der inneren Feindseligkeit.“ Er präzisiert noch: „Kafkas Texte sind die Beschreibung des Kampfes zwischen unversöhnlich gegensätzlichen Persönlichkeitsanteilen.“ Rieck legt seinen Weg hin zu dieser Einsicht sorgfältig dar. Bei Kafka gehe es immer um einen Protagonisten, der die Aufnahme in gewisse Kreise erstrebt oder den Ausschluss aus einem vertrauten Milieu befürchtet. Dabei ergeben sich äußere Kämpfe (etwa bei der Eintrittsuche in das Schloss der gleichnamigen Erzählung) oder geistige Anstrengungen (beim Hungerkünstler oder beim Käfer der Verwandlung). Kennzeichen von Kafkas Erzählkunst seien, so Rieck, das Thema des Einander-Verfehlens und der Umstand, dass es weder Hass noch Lust gibt, sondern nur ein „naiv-verantwortungsloses Unwissen“ und zusätzlich eine entschiedene „Empathiearmut“. Von hier aus lassen sich einzelne Motive beleuchten: die immer wiederkehrende (Eingangs-)Tür als Ort des Verhängnisses, das Bett, in dem sich manche Personen ständig aufhalten und das Zerstreutheit und Müdigkeit symbolisiert, und die Scharen von Dienstmädchen, Gehilfen und Kindern, die letztlich eine Last für die Hauptperson sind. Bei alledem rückt Kafka, laut Rieck, die gegnerischen Parteien oft in eine geistige Nähe – durch ihre Namen, ihr Sprechen und ihre kühle Haltung gegenüber der Umwelt.

Bei seiner Erläuterung des Kampfes zwischen den Persönlichkeitsanteilen beruft sich Rieck auf Sigmund Freuds Theorien: Kafka sei hin- und hergerissen zwischen Ich und Über-Ich, wobei ihn Schuldgefühle beherrschen, die sich durch Verbote hinsichtlich des Sexuellen entwickelt haben.

Rieck unternimmt auch vergleichende Blicke in die Literatur; auf Thomas Mann (und seine Figuren Settembrini und Naphta im Zauberberg), auf Robert Louis Stevenson (Dr. Jekyll and Mr. Hyde), auf Samuel Beckett und ausführlich auf Karl May. Bei May erscheinen stets der Hauptheld und der Schurke in der naiven Opposition gut/böse, und zwar unter einem „Wiederholungszwang“, der an Kafka gemahnt. Diese Gedanken über Kafka und seinen Vorläufer May sind aufschlussreich, ja eröffnen, wie ich meine, ein weites Feld. Rieck hätte da die May-Sekundärliteratur heranziehen müssen, etwa die Feststellung von Gert Ueding (in seinem Grenzland-Buch von 2012), dass bei May die Kontakte der Helden mit den Bösen immer auch „Selbstbegegnungen“ sind.

Gewiss, Riecks Beobachtungen über den Kampf der Persönlichkeitsanteile in Kafkas Welt sind prinzipiell nichts Umwerfendes. Aber sie sind spannend zu lesen dank der Einblicke in besondere Details des Kafka’schen Erzählens.

Doch Rieck macht an dieser Stelle nicht Schluss. Er behauptet, dass seine Kafka-Interpretation die einzig legitime sei. Allein die „biologischen und psychologischen Determinanten“ des Menschen habe Kafka im Kopf. Kafka als Kritiker der „autoritären Regime“? Als Deuter der „Tücken der Moderne“, als Zweifelnder angesichts der „Aporien der Existenz“, als ein hilflos im „Judentum“ Verwurzelter? Alle diese Ansätze, die man aus der Literatur um Kafka kennt, lehnt Rieck ab, ebenso eine Kombination solcher Ansätze. Er spottet über sie alle, indem er sie stichwortartig aufzählt, und attackiert die, wie er sagt, „weitgehende Ignoranz der ‚Kafka-Deutungsindustrie‘ gegenüber der psychologischen Dimension der Kafka-Texte“. Die Germanistik sei „philosophisch und soziologisch ‚durchseucht‘“ und gebe sich in punkto Kafka einem elenden „Rätselhaftigkeitskult“ hin. Für Rieck ist alles ganz einfach; es gelte nämlich (in seiner etwas ungeschickten Wortwahl): Kafka erklärt uns unsere Psyche und damit die „innere Hauptschlacht unseres Lebens“.

Dass Kafka einer war, der gern lachte, und dass er ein Leser philosophischer Texte war, berücksichtigt der Autor nicht. Rieck geht schließlich noch ein großes Stück weiter, ins ganz grundsätzlich Anthropologische: Um den Menschen und unsere konfliktbeladene Welt zu verstehen, brauche es weder Soziologie noch Philosophie, sondern nur die Kenntnis der menschlichen Psyche. Entstehen doch aus dieser Psyche heraus die Beziehungsstörungen bis hin zur Kriminalität, zur Ausbeutung, zu den Weltkriegen, zu Genoziden, selbst zu den „Klimakatastrophen“. Die Geisteswissenschaften, und erst recht die, die mit dem ominösen Begriff ‚existenziell‘ arbeiten – sie taugen nichts. Sagt Gerhard Rieck, und sage, Rieck zufolge, indirekt auch Franz Kafka.

Aus diesem Buch spricht also eine erstaunliche Engstirnigkeit, die aber durch ihr frohgemutes Überzeugtsein und ihre entschiedene Subjektivität doch etwas Sympathisches hat. Auch liefert sie ja, wie erwähnt, gute Deutungen im Detail. Diesbezüglich seien noch Riecks kluge Hinweise auf die Christus-Anlehnungen im Werk Kafkas, des Juden, genannt. Und schließlich hat der Standpunkt Riecks durchaus moderne Züge. So hat kürzlich Stéphan Alamowitch (in den ‚Chroniques Camusiennes‘, no 41) eine Interpretation von Albert Camus’ L’Etranger vorgelegt, die die existenzialistische Romanhandlung allein auf einen Antagonismus in Camus’ Psyche zurückführt.

Titelbild

Gerhard Rieck: Kafka ist nicht rätselhaft. Argumente wider eine hartnäckige Fehleinschätzung.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2023.
141 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783826079719

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