Die Wiederkehr des Immergleichen

In ihrem postmodernen Spiel „Die Nibelungen: Ein deutscher Stummfilm“ versucht Felicitas Hoppe den epischsten aller deutschen Stoffe zu dekonstruieren.

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten Blick mutet das neue Buchprojekt der deutschen Schriftstellerin Felicitas Hoppe etwas redundant an, ist die Nibelungensage doch europäisches Kulturgut, dessen Plot hinlänglich bekannt sein dürfte und es dank der zahllosen Adaptionen in Literatur, Film, Theater oder Oper eigentlich keiner weiteren bedurfte. Da Hoppe eine große Anhängerin postmoderner Schreibweisen ist – ihr grandioses autofiktionales Vexierspiel Hoppe sei hier exemplarisch genannt –, war allerdings zu hoffen, dass sie dem Stoff einen entscheidenden Twist verleiht, um ihm damit neue Aspekte abzuringen.

Interessanterweise funktioniert Die Nibelungen: Ein deutscher Stummfilm vor allem auf der assoziativen Ebene. Die Vertrautheit mit dem Plot wird vorausgesetzt, da die Erzählerin ihn stets nur umkreist und sich dabei in einem dauerhaften Kampf um Deutungshoheit befindet. Ort des Geschehens ist nämlich nicht das historische Worms, sondern die Bühne der traditionellen Nibelungenfestspiele in jener Stadt am Rhein, an der sich das Drama um den Verrat am Drachentöter Siegfried abgespielt hat. 

Das ist schon einmal verwirrend, weist doch sowohl der Untertitel des Buchs auf einen „Stummfilm“ hin, wie auch der durchgehende Einsatz von Satztafeln, welche die Handlung der nächsten Szene ankündigen und wohl auf Fritz Langs umstrittenes Heldenepos aus dem Jahr 1924 verweisen.
Diese Tafeln beinhalten noch einen weiteren Hinweis zur Deutung des Textes, da zwei von ihnen quasi als Klammer fungieren – „Die Nordsee“ und das „Schwarze Meer“ – und auf den Lauf des Flusses und damit die ewige Wiederkehr des Immergleichen hinweisen. Und dieses Immergleiche ist das Streben des Menschen nach Reichtum und der damit zusammenhängenden Macht.

Erzählt wird die Geschichte – oder besser: die dramaturgische Umsetzung der Geschichte – von einer Zeugin/Beobachterin/Drehbuchautorin. Dies sind zumindest ihre Selbstbezeichnungen, hinter denen möglicherweise, glaubt man den End Credits, Felicitas Hoppe steckt. Doch die vertrauten Versatzstücke des Epos – unter anderem Siegfrieds Kampf mit dem Drachen, die Nacht des Verrats, die blutige Rache Kriemhilds – werden stets nur aus der Perspektive jener Beobachterin erzählt, die diese Versatzstücke im Kontext der von ihr beschriebenen Inszenierung sieht und die sie gleichzeitig in den Zusammenhang vergangener Inszenierungen setzt. 

Soll der Drache, ein Höhepunkt des Stücks, aus Pappmaché sein oder gar nur angedeutet? Soll der Racheakt blutig mit Schwertern nachgespielt werden, oder vielleicht auch mal in Form einer Kuchenschlacht? Die Möglichkeiten werden stets kommentierend durchgespielt, verworfen oder empfohlen, die Zeugin wähnt sich als kritische Beobachterin, die auch die Reaktion des Publikums in ihre Analyse miteinbezieht. Vor allem aber sind die dramatischen Handlungen längst schon vollzogen, wenn die Erzählstimme sich ihnen widmet. Das Ergebnis ist ein stetiges Kreisen um die Erzählung, das niemals zur Erzählung selbst wird: Die Nibelungen als ewiges Drama, als ein Rätsel, wie sie selbst sagt, dessen Lösung noch niemand gefunden hat.

Die Hauptfigur dieses nicht selten bewusst ins Groteske kippenden Stückes – also auch des inszenierten Stückes, von dem die Beobachterin berichtet – ist jedoch nicht Siegfried, Kriemhild oder Hagen, sondern der Schatz der Nibelungen, der gleichsam als Metapher für das Kapital und die Macht dient. Fast scheint es, als wolle jene Beobachterin, die im Verlauf ihres Berichts immer wieder auf jenen Schatz hinweist, der hier fortan als märchenhafte, gleichwohl real dargestellte Figur der „Goldenen 13“ auftaucht, den Leser*innen verdeutlichen, dass man genau hinsehen muss und sich nicht von den spannenden Abenteuergeschichten blenden und darüber hinwegtäuschen lassen darf, dass sich auch die größte Heldensage einzig und allein um Geld und Gold dreht.

Gleichzeitig stellt Hoppes Nibelungendrama eine Relativierung des Heldentums dar, dass aufgrund der grotesken Inszenierung gänzlich seines wenn schon vielleicht nicht tragischen dann zumindest epischen Potentials beraubt werden soll. Der Tod, ein stets präsenter Reisegefährte, wird dargestellt von einem „Laien aus Worms“ im billigen Woolworth Trainingsanzug, der für die gesamte Requisite verantwortlich ist. Die Komparsen setzen sich aus Mitgliedern des Wormser Ruderclubs Blau-Weiß zusammen und die Musik liefert der Männerchor Worms-Pfiffligheim. 

Wiederum verhindert jedoch die distanzierte, entrückte Sprache des Berichts, dass der Roman aufgrund dieser teils albernen Elemente ins Lächerliche kippt und trotz der bewussten Relativierung des Heroischen sowie der manchmal enervierenden Überbetonung des Provinziellen seine epische Qualität größtenteils beibehält. In den „Pausen“ führt die Beobachterin Interviews mit den Schauspielern, welche die Banalität hinter dem Epischen unterstreichen sollen, doch vielmehr ein Ringen mit dem Stoff aufzeigen, an dem jeder postmoderne Sarkasmus zwangsläufig scheitern muss.

Fast meint man Hoppes eigenes Ringen mit dem übermächtigen Stoff nachzuempfinden, wie sie immer wieder versucht, ihn zu verspotten, ins Lächerliche zu ziehen und daran scheitert, weil der Stoff – man könnte auch sagen: der Mythos – zu groß, zu mächtig ist. So ergibt auch die anfangs erwähnte ewige Bewegung, die Wiederkehr des Immergleichen in Gestalt des steten Fließens von Rhein und Donau ihren Sinn. 

Am Ende muss man sich die Frage stellen, ob in dieser fragmentierten Welt, in der wir leben, das Ganzheitliche, Epische noch möglich ist. Die Frage muss nach der Lektüre dieses Romans jeder für sich selbst beantworten. Die Nibelungen: Ein deutscher Stummfilm, über das noch so Vieles mehr zu sagen wäre, steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2021. Es wäre ein würdiger Sieger.

Titelbild

Felicitas Hoppe: Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2021.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783100324580

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch