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Zwischen Generationenpanorama und Selbstauflösung: Mit „Draußen ist weit“ hat Sabine Schönfellner einen Roman über das Unbestimmte geschrieben

Von Andreas UrbanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Urban

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zahl der Romane ist Legion – der Romane in Ich-Perspektive, in denen Hinweise zur Erzählfigur nur tröpfchenweise geliefert werden, bis sich allmählich ein Bild der erzählenden Person zusammensetzt. Im Roman Draußen ist weit der österreichischen Autorin Sabine Schönfellner sind die Informationen zur Erzählfigur viel spärlicher als üblich gesät. An einer Stelle wird die Erzählinstanz mit einer Frau namens Therese verglichen, etwas später wird sie als Großnichte bezeichnet. Also ist sie weiblich. Verraten wird noch, dass sie freiberuflich Texte schreibt, korrigiert und übersetzt. Und dass sie allein ist. Das wars.

Das Fischen im Trüben, die Ahnung des Ungefähren – kurz: das Unbestimmte ist Programm in diesem außergewöhnlichen Debütroman, der irgendwo zwischen den Erzählwerken von Thomas Bernhard, Hans Erich Nossack und Jon Fosse seinen Platz findet. Uneindeutig ist allein schon der merkwürdige Sog, den alte Menschen auf die Ich-Erzählerin ausüben. Zu Beginn des Romans, es ist Spätsommer, lernt sie an einer Bushaltestelle irgendwo in Österreich zufällig Herrn Dober kennen. Der Bewohner des örtlichen Seniorenheimes hat wieder einmal Reißaus genommen. Das gefällt der Erzählerin. Sie teilt seine Sehnsucht nach Wald und Natur, erkennt sich in ihm wieder. „Ich bildete mir ein, dass ich ihn verstand und dass er mir etwas zu sagen hatte“, lautet ihr Eindruck.

Als die Besuche bei Herrn Dober enden, lässt sie sich auf ganz offiziellem Wege eine alte Person zum Betreuen vermitteln. Ein glückliches Händchen beweist sie dabei nicht. Sie gerät an Frau Leitner, eine redselige, undurchschaubare Frau, deren Spielchen sie irgendwann satthat. Sie zieht es vor, nun, da es Winter geworden ist, mit der dritten Seniorin im Bunde, ihrer schroffen Nachbarin und fragwürdigen Zeitgenossin Frau Vessely, eine Reise ins verschneite Norwegen zu machen, an deren Ende ein Unglück steht.

Ein eigentümliches Leitmotiv des Romans bilden die Schuhe und Füße der Handlungsfiguren. Kaum eine Seite, auf der nicht der Blick auf sie fiele. Von Dober ist zu erfahren, dass er Klettschuhe trug, die er nie reinigte, damit man nicht sah, dass er wieder draußen war. Frau Leitner „plagte sich damit, die Schlapfen nicht zu verlieren, alle paar Schritte schlüpfte sie aus einem halb heraus und fing ihn mit gekrümmten Zehen wieder ein.“ Die Erzählerin hat an einer Stelle abgewetzte Sneaker an, Frau Vessely wird mit Lederschuhen gesehen. Doch warum ist das alles so wichtig?

Ebenfalls gibt es in diesem Roman über das Unbestimmte zuhauf schiefe Kommunikationssituationen. Dass offenbleibt, ob Aussagen stimmen oder worauf sie sich überhaupt beziehen, wird in fast jedem Dialog zum Problem. Davon vermittelt bereits die Doppeldeutigkeit des Wortes „weit“ einen Eindruck. In der anfänglichen Episode mit Herrn Dober hat es nicht nur eine räumliche Bedeutung. Der Heimbewohner Dober ist offenbar an Demenz erkrankt und häufig bleibt unklar, wovon er gerade spricht. Geistig ist er dann „weit weg“. In einer Szene im Wald werden räumliche und mentale Bedeutung zusammengeführt:

Von dort sieht man weit, sagte er und deutete den Hügel hinauf[.] […] Ich ging weiter und fragte mich, ob er mit sich selbst gesprochen hatte. Vielleicht hatte die Pflegeleiterin recht und niemand konnte abschätzen, wie weit er weg war.

Dass es sich in Draußen ist weit um Figuren am Rande des Zeichensystems, um eine Auflösung der Einheit von Zeichen und Bezeichnetem und schließlich von Sinn und Subjekt handelt, macht schon der erste Satz des Buches klar:

Der Baum ist aus Eiche wie der Schrank, sagte Herr Dober. Ich wollte ihm das glauben, […] wusste aber nicht, welchen Schrank er meinte. In seinem Zimmer gab es nur ein Regal aus Spanplatten.

Diese Anfangsszenerie schlägt den Bogen zum letzten Erzählteil mit der dritten Seniorin, der so eindringlich wie gelungen ist. Schönfellner lässt hier die Romanfigur Vessely gleich zu Beginn der Tour nach Nordeuropa verschwinden, nimmt damit das Ende vorweg und erzählt den Großteil der Norwegenreise in einer Rückblende. Es ist die Stelle, an der der gesamte Bedeutungsumfang des Wortes „weit“ voll entwickelt ist: Die Geschichte von Frau Vessely ist schon eine Geschichte aus dem Reich des Jenseitigen, ihre Erzählung hat im Moment des Erzähltwerdens schon gar keine Referenz mehr, Frau Vessely ist nicht mehr da.

Während die erste Story mit Herrn Dober sehr bildkräftig geraten ist, führt die dritte Story mit Frau Vessely bis zu einer Grenzsituation. Da liest sich die in der Mitte platzierte Story um Frau Leitner, die größtenteils aus Dialogen zu bestehen scheint, fast schon so, als wäre sie aus Versehen zwischen die Handlungsstränge geraten. Tatsächlich ist sie ein wichtiges Bindeglied der Gesamtkomposition.

Frau Leitner redet für ihr Leben gern – nicht gerade nach dem Geschmack der Erzählerin. Wahrnehmbar werden dadurch aber Lücken und Leerstellen in den Dialogen. Gesten der Verweigerung, absichtlich oder nicht absichtlich unterschlagene Informationen, fehlende Genauigkeit – die Erzählerin erlebt gerade in dieser Partie die verschiedensten Formen des Kommunikationsausfalls.

Dabei geht der Entzug von Sprache und Information über die reine Dialogführung zwischen beiden Figuren hinaus: „Erst am Vortag war mir wieder ein [Text-]Auftrag abgesagt worden, mit dem ich fest gerechnet hatte“, sagt die Erzählerin. Eine Abwesenheit von Text, die Kommunikationsform Schrift bleibt aus. Umgekehrt steht Frau Leitner einmal vor der Aufforderung, Tabletten zu schlucken. „Aber sie war unschlüssig, ob sie die nun nehmen sollte, der Doktor hatte ihr das kaum erklärt.“ Hier wird das Fehlen von Informationen geradezu akut – generell kränkeln die Romanfiguren gerne vor sich hin.

Den Kontakt mit Frau Leitner, „die immer so viel gesprochen hatte, damit einem nicht auffiel, was sie ausließ“, beendet die Erzählerin schließlich entnervt. Ein Entschluss, der gleich zur nächsten Schieflage führt. Denn es war eigentlich diese alte Dame gewesen, die eine Reise mit der Erzählerin unternehmen wollte. In der letzten Episode ist es dann ihre Nachbarin Frau Vessely, ebenfalls hochbetagt, die stattdessen einen Trip mit ihr beginnt – und der Erzählerin mit ihren Sätzen und Sentenzen ganz ähnlich zusetzen wird.

Somit ergibt sich für diesen gelungenen Roman ein stringenter, dialektischer Aufbau. Mit den Eskapaden in den Wald steht am Anfang das räumliche Setting im Fokus, das Weite da draußen (Dober). Danach werden Schlaglichter auf das Kommunikative mit all seinen Problemen geworfen (Leitner). Und schließlich bringt das Schlussstück eine dramatische Verbindung von beidem (Vessely).

Doch fehlende Referenz und schiefe Gesprächssituationen – was hat all dies mit dem Leitmotiv Schuhe zu tun? Der Bildkomplex Schuhe und Füße deutet einerseits auf ein Unterwegssein, das in den nahegelegenen Wald und weit weg über Grenzen bis nach Norwegen führt. Aber in das Motiv schreibt sich auch der übertragene Wortsinn von Weite ein, die grenzüberschreitende Erfahrung des Ungefähren und die Bewegungsrichtung auf das Unbestimmte zu. So werden Schuhe und Füße zu Bildern eines Schwellenmoments, oder besser noch: eines wortwörtlich zu verstehenden Übergangs vom Leben zum Tod. Erst jenseits einer Grenze liegt das tatsächliche Ziel der Ausgänge und Ausbruchsversuche.

Die Todesthematik und das Motiv vom Verschwinden scheinen auch die Sogkraft alter Menschen auf die Ich-Erzählerin zu erklären. Die ungewöhnliche Identifikation geht so weit, dass sie in einer Strandszene den Gang von Frau Vessely imitiert. „Ich schob wie sie meine Füße über den Sand, wir hinterließen vier gleichmäßige Spuren.“ Dieses Bild der Angleichung an Frau Vessely beschreibt auch die Verwischung kommunikativer Grenzen zwischen Sender und Empfänger.

Hinter die Grenzen, die hier verschwimmen, möchte die Erzählerin zurück. Einmal belauscht sie ein Gespräch Frau Vesselys mit einem Kellner und erfährt so mehr über deren Leben. Hier ist sie nicht einmal mehr Gesprächspartnerin, ist noch weniger Teil eines Gesprächs und fällt in die Position einer heimlichen Zuhörerin zurück. Da zeigt sich die Lust der Erzählerin am eigenen Verschwinden. Verschwinden – rund um diesen Megatopos der Moderne hat Schönfellner eine so rätselhafte wie starke Geschichte geschrieben, reich an dichten Szenen und bedeutungsvollen Bildern. Auch die Wahl des Sujets der älteren Generation mit all ihren unzuverlässigen Erzählsituationen überzeugt. Manchmal wünscht man der Ich-Erzählerin vielleicht eine Prise Humor, das hätte aber den Grundton der Geschichte verwischt.

Und hinter Schönfellners Poetik zeigt sich ein fantastischer Ansatz, weil diese, ganz nebenbei gesagt, einem Denken des Objektiven Tür und Tor öffnet, das den achtsamen Umgang mit der Natur und mit anderen Menschen zum Ergebnis hat. Die Autorin hat hierfür eine Erzählerin erfunden, die im gesamten Roman mit der Ausnahme zweier kurzer Kapitel fast nur als Zuhörerin in Erscheinung tritt, passiv bleibt, lieber anderen die Entscheidung überlässt, Subjektives in den Hintergrund stellt und so dem Objektiven beziehungsweise dem Unbestimmten Raum gibt. Mit dem letzten Satz des Romans fasst die Erzählerin das Programm des Unbestimmten dann auch zusammen: „[D]ie ungefähre Richtung muss genügen“, sagt sie auf dem Weg zurück nach Hause. Ihre Füße werden sie tragen.

Titelbild

Sabine Schönfellner: Draußen ist weit.
Literaturverlag Droschl, Graz 2021.
176 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590874

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