Lebenslanger Kampf gegen die Phrase

Jens Malte Fischer schreibt mit „Karl Kraus – Der Widersprecher“ eine monumentale Biografie

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein schier hoffnungsloses Unterfangen, das Werk eines Autors wie Kraus, der als einer der größten Satiriker der Literaturgeschichte betrachtet wird (manche lassen sich nicht davon abbringen, dass er der Größte dieser Spezies ist), auf einige wenige handliche Formeln zu bringen. Kraus ist eben nicht nur Satiriker, daneben auch noch Lyriker, Dramatiker, Rezensent, Theaterkritiker und Pressekritiker, sondern er ist in der Breite, in der Höhe, in der Tiefe vor allem eines: Satiriker.

So schreibt der Verfasser dieser 1000 Seiten starken Karl-Kraus-Biografie – plus 100 Seiten Anmerkungen – und man muss ihm recht geben: es ist schier hoffnungslos. Dennoch muss so eine Biografie geschrieben werden, damit man die große Leistung dieses Genies verstehen kann. Und Fischer ist dieses Unterfangen gelungen, mit einigen Abstrichen – einige davon wären durchaus vermeidbar gewesen, andere liegen in der Natur der Sache, eben der Breite, Höhe und Tiefe des Gegenstands.

Schon für seine zeitgenössischen Zuhörer und Leser war Karl Kraus eine Herausforderung: Sein Leben lang kämpfte er gegen die „Phrase“ und für eine reine, genaue Sprache. Er zeigte, dass der verlogene Ton und die Sprachschluderei, z.B. das Weglassen eines Kommas, direkt in die Barbarei des Nationalismus führen kann: Wer ungenau schreibt, denkt auch ungenau. Er machte deshalb die „Journaille“ durch ihre Verwendung der „schwarzen Magie“ (der Druckerschwärze) mitverantwortlich für den Ersten Weltkrieg. Er war ein großer Liebender und ein großer Hasser, der z.B. nie vergessen hat, dass der allseits verehrte Theaterkritiker Alfred Kerr während des Ersten Weltkriegs ekelhafte Hetz- und Hassgedichte geschrieben hatte und sich danach als Pazifist gerierte. Kraus kämpfte gegen die Dummheit der Welt, zu denen Dichter und Literaten gehörten, er schrieb gegen die bürgerliche Doppelmoral, gegen Militaristen und Kriegsgewinnler.

Ein großes Plus der monumentalen Biografie ist, dass Fischer ein exzellenter Kenner des Fin de Siècle ist, dessen Sozialgeschichte immer wieder in das Buch mit einfließt, meist in eigenen Kapiteln. So beschreibt die Biografie auch genau die politischen und sozialen Umbrüche und Krisen bis zum Nationalsozialismus. 1899 gründete der 25jährige Kraus die Zeitschrift „Die Fackel“ und schrieb sie schließlich von 1911 bis 1936 allein. Nebenbei hat er das grandiose und unspielbare Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit verfasst und als Auseinandersetzung mit Hitler und seinen „Hakenkreuzottern“ die Dritte Walpurgisnacht, weitere Essays, Gedichte und Übersetzungen, er entdeckte Nestroy als großen Theaterautor Österreichs wieder und hielt etwa 700 Vorlesungen in Wien, Zürich, Prag und Berlin.

Fischer beschreibt all dies sehr genau und zeichnet außerdem den Alltag und die Arbeitsroutinen von Karl Kraus nach, seine Freundschaften wie auch die Feinde, die ihn z.T. auch gewalttätig angriffen. Manchen Freunden widmet er biografische Skizzen wie Peter Altenberg oder Adolf Loos und zitiert immer wieder Zeitgenossen wie Walter Benjamin, Elias Canetti oder Ernst Krenek. Auch auf manche Gegner geht er ausführlicher ein, etwa auf Maximilian Harden, den er in der Fackel tatsächlich nur zitieren musste, um ihn zu erledigen. So nahm er „Übersetzungen aus Harden“ vor, die dessen schwülstigen Stil lächerlich machten: „das Tier mit den zwei Pigmentschichten unter der Chagrinhaut“ heißt es bei ihm (er meint das Chamäleon) oder „der Kongress des von Napoleons Tatze zerstückten Europas“, was Kraus mit „der Wiener Kongress“ übersetzt, oder „in dem rotwangigen Weißkopf zitterts vor verhaltener Erregung“ (Kraus: „Bernstein ist aufgeregt“). Das ist der Schwulst seiner Zeit – manchmal kann man ihn heute noch in den Zeitungen entdecken.

Etwas umständlich und fast peinlich berührt geht Fischer auch auf Kraus‘ schwierige Seiten ein, seine antisemitischen Äußerungen (Kraus wurde 1874 im böhmischen Gitschin als Jude geboren und war von 1911 bis 1922 Katholik – gestorben ist er 1936), seine Parteinahme für den konservativen Staatsmann Engelbert Dollfuß und sein schwieriges Verhältnis zur österreichischen Sozialdemokratie. Sehr seltsam mutet an, dass die Frauen, die doch eine so große Rolle für Kraus gespielt haben, eher kurz wegkommen – mit einigen Ausnahmen wie beispielsweise Kraus‘ großer und lebenslanger Liebe Sidonie Nádherný von Borutin. Dass Fischer über sie schreibt, sie sei „relativ groß, ohne mager oder gar knochig zu wirken, sondern zeichnete sich durchaus durch weibliche Formen aus“, ist ein unverzeihlicher Sexismus, den der Lektor hätte streichen müssen. Ebenso wie die vielen redundanten Wiederholungen, die so wirken, als hätte Fischer seine vielen Aufsätze über Kraus zusammengeworfen, ohne sie noch einmal gründlich zu überarbeiten und zu verschlanken.

Sprachlich ist Fischer seinem Gegenstand nicht gewachsen – wer wäre das schon. Dennoch: Allzu viele umständliche und sogar phrasenhafte Formulierungen, allzu viele weitschweifige Exkurse lassen den Leser manchmal doch ungeduldig mit den Augen rollen. Oder die häufigen, seltsam platten Sätze:

Bei Karl Kraus konzentriert sich der Kulturpessimismus der ersten Fackel-Jahrgänge, ohne den seine Haltung zum Ersten Weltkrieg nicht begriffen werden kann, auf den Fortschrittsgedanken, wie er ihn im technischen Fortschritt verkörpert sah. In ihm sieht Kraus den Versuch des Tatsachensinns einer gehirnlosen Menschheit, die Natur zu beherrschen.

Wer sich davon nicht abschrecken lässt, erhält ein opulentes und kenntnisreiches Panorama des widersprüchlichen Menschen und großen Stilisten und seiner widersprüchlichen Zeit. Die Biografie wurde mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.

Titelbild

Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Biografie.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020.
1104 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783552059528

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