Sperrt die blauen Bände nicht in den Schrank, sondern stellt sie ins Netz!

Mit Max Webers Vorlesungen über „Praktische Nationalökonomie“ wurde seine Gesamtausgabe abgeschlossen. Ein Rückblick auf das virtuelle Weber-Happening 2020 und meine eigene Rezensionsarbeit

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Rezension hebt an mit dem Blick auf einen Schrank aus hellem Holz. Das schön anzusehende Möbelstück stand im Corona-Sommer 2020 in der ersten Etage der Seidl-Villa in München-Schwabing. Im Rahmen der vielfältigen Ereignisse, die zur hundertsten Wiederkehr des Todestages Max Webers am 14. Juni 2020 sowohl in Deutschland als auch weltweit stattfanden, hatte die Münchner Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) eine beeindruckende Ausstellung komponiert, die in dieser prächtigen Jugendstil-Villa gezeigt wurde.

Unter der Überschrift „Bürgerwelt und Sinnenwelt. Max Webers München“ konnten die Besucher sich mit den Umständen der kurzen Zeitspanne vertraut machen, während der Max Weber als Ordinarius für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie an der Ludwig-Maximilians-Universität vom April 1919 bis zum Juni 1920 in der bayerischen Residenzstadt gelebt hatte. Auf diese Ausstellung und weitere Ereignisse im Rahmen der diversen Gedenkfeiern werde ich im zweiten Teil dieser Rezension zu sprechen kommen. Hier geht es um den Schrank. Und seinen Inhalt.

Erst kurz nach Eröffnung der Ausstellung konnte die Generalredaktorin der MWG, Edith Hanke, den 47. Band der MWG in diesen Schrank stellen. Als ich Mitte Juli 2020 durch die Räume schlenderte, war der Schrank verschlossen. Man konnte keinen einzigen der unterschiedlich dicken blauen Bände in die Hand nehmen! Schon früher hatte mich die Sorge geplagt, dass die Gesamtausgabe zu einem monumentalen Mausoleum werden könnte, ähnlich einem Sarkophag, dessen Deckel immer seltener abgehoben wird. Der zugesperrte Schrank illustrierte dieses Bild erschreckend deutlich.

Der vergessene National-Ökonom

Beginnen wir mit dem Blick in eben diesen 47. Band, den Vorlesungen Max Webers, Professor für Nationalökonomie an den Universitäten Freiburg und Heidelberg, über „Praktische Nationalökonomie“. Der Herausgeber Hauke Janssen war bislang in der Max Weber-Forschung nicht aufgefallen, allenfalls bekannt als Autor von Büchern über die deutsche Volkswirtschaftslehre in der Zeit des Nationalsozialismus und über russische Ökonomen in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nachdem der promovierte Volkswirt als Leiter der Dokumentation des SPIEGEL-Verlags im Schatten des Skandals um die Fälschungen des fabulierenden Claas-Hendrik Relotius in den Vorruhestand gegangen war, widmete er sich der Herausgabe von Webers Vorlesungen im Rahmen der MWG. Und nun ist auch dieser Band, der ursprünglich für 2016 angekündigt war, erschienen. Damit ist das Mammutunternehmen der MWG endlich abgeschlossen.

Der Haupteditor Janssen eröffnet mit einem Paukenschlag: „In der Volkswirtschaftslehre weitgehend vergessen ist, daß Max Weber Ordinarius für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft war.“ Erstmals, so berichtet das „Vorwort“, werden mit diesem Band jene Manuskripte ediert und durch die wissenschaftliche Transkription zugänglich, die die Vorlesungen Max Webers über „Praktische Nationalökonomie“ dokumentieren. Aber nicht nur das: Die Leserschaft bekomme mit dieser Edition „mehr als nur einen Einblick in die geistige Werkstatt eines jungen Gelehrten, der noch in späterer Zeit aus diesem globalen Fundus an sozial- und wirtschaftshistorischem Wissen geschöpft“ habe.

Diese vielversprechende Ankündigung wird mit diesem Band in vorbildlicher Weise eingelöst, denn den drei Herausgebern ist es gelungen, den Weg Max Webers zur und in der Nationalökonomie sehr verständlich zu rekonstruieren und seine Vorlesungen zudem in die deutschsprachige Wissenschaftslandschaft am Ende des 19. Jahrhunderts einzubetten. Volkswirtschaftspolitik als systematische Wissenschaft und die damalige Sozialpolitik werden allgemein verständlich skizziert und der Beitrag Webers in diese Zusammenhänge überaus nachvollziehbar eingeordnet.

Wie in den vorausgegangenen Rezensionen immer wieder angemerkt, variiert die Ausführlichkeit der Kommentare und der inhaltlichen Einführungen in den Bänden der MWG erheblich. Nicht selten wurden eher kommentierende und teilweise sehr persönlich interpretierende Texte der Herausgeber in den jeweiligen Band montiert, so dass die historisch-kritischen Kontextualisierungen der Texte Max Webers zuweilen in den Hintergrund gerieten. Und so ist es mehr als erfreulich, dass nun mit diesem abschließenden Band, der weder von einem Soziologen noch einem Historiker ediert worden ist, exemplarisch und mustergültig gezeigt wird, wie eine historisch-kritische Ausgabe anzulegen ist. Das wird ausgerechnet mit einem Textmaterial meisterlich gezeigt, das „sperrig“ zu nennen eine ziemliche Untertreibung ist.

Als der promovierte und habilitierte Jurist Max Weber im April 1894 den Ruf auf den Freiburger Lehrstuhl des österreichischen Nationalökonomen Eugen Philippovich Freiherr von Philippsberg annahm, stellte er sich damit selbst eine unerhörte Herausforderung: Er hatte zwar in seiner eigenen Studienzeit als Jurist an den Universitäten Heidelberg, Straßburg und Berlin die obligatorischen Lehrveranstaltungen in Nationalökonomie besucht, er pflegte auch persönlichen Kontakt mit Ökonomen in seiner Referendarzeit und er hatte sich bei seinen vorherigen Arbeiten mit sozialpolitischen Themen, insbesondere in seinen Landarbeiterstudien, und mit Börsenthemen auseinandergesetzt, aber Weber war alles andere als ein zünftiger Nationalökonom. Und dennoch war der promovierte und habilitierte Jurist nun Lehrstuhlinhaber für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an einer nicht unbedeutenden Universität geworden. Und als ein solcher sollte er von Dienstbeginn an lehren.

Wie der 30jährige frischgebackene Ordinarius diese Herausforderung meisterte, demonstriert dieser Band: Der „dilettantenhafte Eindringling“ – wie er sich in einem Brief an Karl Oldenberg im Januar 1895 selbst bezeichnet – bedient sich der einschlägigen Hand- und Lehrbücher seiner nunmehrigen Fachkollegen, unter ihnen das seines Lehrstuhlvorgängers Phillipovich, macht sich eigene Notizen und Querverweise und trägt das Ganze partienweise in seinen Vorlesungen vor. Selbstironisch berichtet er davon, dass er nun „zum erstenmal“ die „großen nationalökonomischen Vorlesungen bei sich selbst“ hört. Es handelt sich um obligatorische 4- bis 6stündige Hauptvorlesungen über „Allgemeine Volkswirtschaftslehre“ (MWG III/1), „Praktische Nationalökonomie“ (der hier vorgestellte Band MWG III/2) und „Finanzwissenschaft“ (MWG III/3). Dazu kamen noch Übungen, Praktika, Seminare und Spezialvorlesungen über Agrarpolitik, die Arbeiterfrage und die Börse. Dieses beachtliche nationalökonomische Lehrdeputat absolviert Weber zwischen 1894 und 1899 zuerst an der Freiburger Universität und ab dem Sommersemester 1897 an der Heidelberger Universität. Ein „Chronologisches Verzeichnis der Vorlesungen Max Webers 1892-1920“ liefert einen hilfreichen Überblick. An den Universitäten Wien und München lehrte Max Weber nicht mehr den wirtschaftswissenschaftlichen Kanon, sondern befasste sich mit sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Themen. In dieser letzten Phase seines Lebens entwickelt er sich sehr viel mehr zum „Gesellschaftswissenschaftler“, zum „Soziologen“ ganz eigener Prägung.

Man kann sich schon fragen, wie Max Weber diese Aufgaben meisterte – und nebenbei ja auch noch in erheblicher Fülle publizierte. Die oft wiederholte Erzählung von der „schier unerschöpflichen Arbeitskraft“, den nächtlichen Arbeitsstunden bis nach Mitternacht und dem anschließenden Versinken in tiefen Schlaf wird plastisch, wenn man die im Band abgedruckten Zettel betrachtet, die aus den Vorlesungsmanuskripten stammen. Sogar das alte Kollegheft aus seiner eigenen Berliner Hörerschaft bei Levin Goldschmidt holt er heran und nutzt es für seine Vorlesungen, bis es „absolut bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet“ ist. Mit dankenswerter Klarheit vermerkt die Einleitung, dass diese Art des Vorgehens – die Gedanken und Formulierungen anderer als die eigenen auszugeben – „zu einer Art von Hochstapelei“ geführt habe, nicht zuletzt da die Editoren feststellen müssen, dass viele der Weberschen Literaturangaben „nicht selten denen der benutzten Kompendiumsartikel“ entsprechen. So manche der heutigen universitären Ethikkommissionen hätten leichtes Spiel mit Professor Weber gehabt bei der Suche nach nicht nachgewiesenen Zitaten und Plagiaten, seinen „Lesefrüchten“!

Man muss es sich wohl so vorstellen, dass der Freiburger und auch noch der Heidelberger Ordinarius in den Hörsaal ging, seine bis in die frühen Morgenstunden hinein bearbeiteten Notizzettel auf das Pult legte und anfing, frei zu dozieren: „Was Weber also tatsächlich in der ‚Praktischen Nationalökonomie‘ seinen Studenten vorgetragen hat, bleibt ungeachtet aller editorischen Mühen im Dunkeln, zumal leider keine Vorlesungsmitschriften oder andere geeignete Aufzeichnungen überliefert sind“, merken die Herausgeber an. Und so war die Edition gerade dieses Vorlesungs-Bandes nicht nur mit den bekannten Schwierigkeiten des Entzifferns der beinahe unleserlichen Handschrift Max Webers und der ihr eigenen Abkürzungen konfrontiert, sondern zudem mit der Tatsache, dass es keine von Weber selbst gelieferte Gliederung gibt, die eine sachgerechte Ordnung der Aufzeichnungen leicht gemacht hätte. Es kann hier nur wiederholt werden, was der Münchner Wirtschafts- und Sozialhistoriker und ausgewiesene Weber-Kenner Knut Borchardt schon mit Blick auf den Band über die „Allgemeine (,theoretische‘) Nationalökonomie“ (MWG III/1) geschrieben hatte: „Das Edierte ist – notgedrungen – ein Konstrukt, eine Komposition des Herausgebers.“ Das gilt noch viel mehr für diesen Band, bei dessen Verfertigung die selbstlose Leistung der Editoren nicht nachdrücklich genug herausgehoben werden kann, die sich gewiss zu Recht auch bei Knut Borchardt bedanken.

Für das allgemeine Lesepublikum ist dieser Band kein sonderlich attraktives Angebot, selbst für die meisten der heutigen Weber-Forscher dürften diese nunmehr so vorbildlich edierten Vorlesungsmanuskripte nicht von hervorgehobener Bedeutung sein. Aber darum geht es nicht. Es geht vor allem darum, das Denkmal des angeblich größten Soziologen aller Zeiten um eine kleine Gedenktafel zu ergänzen: zur Erinnerung an den Nationalökonomen Max Weber! Es spricht nichts dafür, dass in Zeiten der weitgehend formalisierten Volkswirtschaftslehre, die sich zunehmend mehr zu einem Teilgebiet der Mathematik zu entwickeln scheint, der Ökonometrie, sich irgendwer aus den wirtschaftswissenschaftlichen Fächern für Webers Ausführungen über den „Feudalismus als Quelle wirtschaftspolitischer Institutionen“ oder die „Österreichische Kleingewerbepolitik“ aus einer Zeit vor der Wende zum 20. Jahrhundert interessieren wird. Dennoch ist es gut und wichtig, dass diese so wesentliche Seite des Wissenschaftlers Weber derart sorgfältig herausgearbeitet wird. Wenn man es aus heutiger Sicht der Organisation disziplinärer Zuordnungen beurteilen möchte, müsste man wohl sagen, dass Weber sehr viel eher ein historisch argumentierender Wirtschaftswissenschaftler gewesen war als ein Soziologe. Auch wenn ihn seine heutigen Fachkollegen aus den Wirtschaftswissenschaften so gut wie vergessen und die Soziologen ihn auf den Denkmalssockel gestellt haben.

Eine kleine Sensation liefert der anscheinend so trockene Zettelkasten dann doch: nämlich den Beweis dafür, dass Weber sich tatsächlich bereits vor dem Jahr 1900 auf Gedankenpfaden bewegte, die letztlich zu seinem berühmtesten Werkstück „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ (1904/05; 1920) führten. Seit Jahrzehnten wurde in der Weber-Forschung darüber gestritten, ob seiner Selbstbehauptung zu trauen sei, dass seine diesbezüglichen Überlegungen auf Arbeiten zurückgingen, die er „schon vor 12 Jahren im Kolleg“ vorgetragen habe. Akribisch ist nachgewiesen worden, dass Weber den Terminus „Geist des Kapitalismus“ von Werner Sombart geborgt hat, dass der Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus alles andere als eine Entdeckung Max Webers gewesen ist. Und dass er nicht unerhebliche gedankliche „Anleihen“ bei seinem Freund und Kollegen Ernst Troeltsch gemacht hat. Noch im Jahr 2004 notierte Wolfgang Mommsen, dass man zu der Angabe, dass Weber bereits ein Jahrzehnt vor der Publikation seiner Aufsätze über die „PE“ dazu geforscht habe, „nichts Konkretes“ finden könne. Mit dem nunmehr edierten Konvolut der „Praktischen Nationalökonomie“ ist der Beweis erbracht: Weber hat sich nicht (nur) mit fremden Federn geschmückt! In seinen Ausführungen über den Merkantilismus behandelt Weber die Wirtschafts- und Kolonialpolitik der Spanier, geht skizzenhaft auf die Kolonisation der Jesuiten in Lateinamerika ein und kontrastiert diese mit Ausführungen über Calvin und die Protestanten der Handelsstädte. Und auf diesen drei Seiten blinken plötzlich jene Stichworte auf, die man aus der „PE“ zur Genüge kennt: Kampf gegen Materialismus und Genusssucht, Arbeit als Lebenszweck, Bedenklichkeit des Zinses, Erziehung zur Arbeit, Züchtung des Kapitalismus, unproduktive Verwendung der Reichtümer, Einschränkung des Genusstriebes. Und wie ein unvermutet aus dem Ärmel hervorgeholtes Pik-Ass liest sich in diesen Vorlesungsnotizen der Jahre 1895-1899 dann das Stichwort „Heroisches Zeitalter des Capitalismus“. Der Weber-Kenner denkt dabei sofort an das famose Zitat aus den späteren Fassungen, nämlich dass als „Dank für die eigene durch Gottes Gnade gewirkte Tadellosigkeit“ das puritanische Bürgertum eben jene Lebensstimmung empfand, die einen „formalistisch korrekten harten Charakter“ bewirkte, „wie er den Vertretern jener heroischen Epoche des Kapitalismus eigen war.“ Weber hat also nicht angegeben: er dachte tatsächlich über diese Zusammenhänge bereits zehn Jahre vor 1904 nach, wenn auch auf dem gedanklichen Umweg über Lateinamerika und die Jesuiten!

Das „Schlußwort“ des Herausgebers hilft ungemein, das Gesamtergebnis der transkribierten 373 Manuskriptseiten zu erkennen. Der Hochschullehrer Max Weber präsentierte sich seinen Freiburger und Heidelberger Studenten – in Freiburg waren es 33 bis 41 Eingeschriebene, in Heidelberg 36 – als ein stark politisch argumentierender National-Ökonom. Jenseits aller unendlich verwirrenden Haupt- und Nebenlinien des ungeordneten Vor-Sich-Hin-Dozierens, wie sie sich in den Notizen niederschlagen, schält der Herausgeber Janssen den „eingewobenen Ariadnefaden“ heraus: Der Nationalökonom Weber jener Jahre war ein deutscher Modernist, dessen Bewunderung insbesondere dem Vorbild England galt, das zugleich liberal und imperial agierte. Auch die deutsche Wirtschaftsordnung sollte nach Meinung des Ordinarius Weber eine auf Konkurrenzkampf und Leistungsauslese beruhende sein, die sich einer organisierten, gut ausgebildeten und kräftigen Arbeiterschaft bediente. Dabei sollte jede deutsche „Wirtschaftspolitik stets Teil und Dienerin der allgemeinen Staatspolitik“ sein und sich somit in den Dienst der Machtinteressen der deutschen Nation stellen. Solche Parolen finden aktuell ihr spätes Echo im Motto „America first“. Zu Webers Zeiten forderte dieser klassenbewusste preußische Bürger, dem das Großherzogtum Baden zweimal akademische Heimat bot, in seiner vehementen Manier ein „Deutschland vor allem“! Eine deutsche Volkswirtschaftspolitik, so Weber, solle „nur vom deutschen Standpunkt aus“ betrieben werden und damit den Primat der Außen- vor der Innenpolitik, der Macht- vor der Sozialpolitik festschreiben.

Legt man neben diesen Band der Vorlesungsnotizen den Band mit der Freiburger Antrittsrede über den „Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ im Mai 1895, so erkennt man, dass hier ein Wissenschaftler dozierte, der sehr weit weg war von seinen späteren Forderungen nach „Werturteilsfreiheit“, von „Wertfreiheit“ der Wissenschaft ganz zu schweigen. Wirtschaftspolitik, ja die Wirtschaft selbst habe sich, so postulierte Weber, in den Dienst der Machtinteressen der deutschen Nation zu stellen. Allein eine solche Politik und Wirtschaft diene letzten Endes und dauerhaft der eigenen Art und Kultur in der „Ewigkeit des Daseinskampfes“ der Nationen untereinander. Und die „Praktische Nationalökonomie“ möge ihren Part dabei spielen, forderte der Hochschullehrer Max Weber, wie die so sorgfältig edierte Zettelsammlung belegt.

Dafür, dass die Herausgeber aus diesem unordentlichen Haufen, diesem „reinsten Heringssalat“ (Marianne Weber), einen stattlichen Band gemacht haben, sei die größte Anerkennung ausgesprochen. Hätte es eines einzigen Beweises bedurft, dass sich die enormen zeitlichen, finanziellen und personellen Aufwendungen für die MWG „gelohnt“ haben, so erbringt ihn dieser Band.

Und wie geht es nun weiter, nachdem ich auch diesen 47. Band in mein Regal stelle? Wird die blaue Wand der handwerklich so schön gemachten Bücher in einem feinen Schrank eingesperrt sein? Werden ab nun alle jene Menschen, die über Max Weber schreiben, wirklich auf die Bände der MWG zurückgreifen? Oder werden sie auch weiterhin die schon bisher gebrauchten Ausgaben zitieren? Es bedarf nämlich einiger Mühe, die jeweiligen Stellen in der MWG zu finden. Schon allein die Dekonstruktion des ehemaligen „Hauptwerkes“, genannt „Wirtschaft und Gesellschaft“, in insgesamt sieben Teilbände und die Separierung der früheren dreibändigen Sammlung „Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie“ in fünf Teilbände macht das zu keinem ganz leichten Unterfangen. Nicht einmal für den Weber-Forscher.

Die Tatsache, dass in diesen Band MWG III/2 erstmals der gesamte Text auf einer DVD als „Beilage“ eingeklebt wurde, lässt mich erneut hoffen, dass das auch für alle Vorgängerbände zügig geschehen möge. Und dass sehr bald daran gegangen wird, alle Text-Dateien mit den Erläuterungen und Kommentaren kostenfrei auf den Servern der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zugänglich zu machen. Da der absolut allergrößte Teil des finanziellen Aufwands bei der Produktion der MWG seit 1975 aus Steuerzahlermitteln bestritten wurde, ist das keine unbillige Erwartung.

Es geht dabei keineswegs nur darum, dass dies die elektronische Recherche sehr viel leichter machen würde. Es geht vor allem darum, dass erst dann allen jenen Menschen, die Max Webers Texte in den wissenschaftlich zitationsfähigen Fassungen lesen wollen, überhaupt erst der Zugang zu den Bänden der MWG ermöglicht wird. Natürlich habe ich keinen Überblick, in welchen deutschen Universitätsbibliotheken die 47 Bände komplett stehen; nach meinen eher zufälligen Stichproben keineswegs in allen, was angesichts der beachtlichen Kosten nicht vollkommen unverständlich ist. Wer jedoch keine Universitätsbibliothek in unmittelbarer Nähe hat, hat es sehr viel schwerer. Die Stadt- und Landesbibliothek der Landeshauptstadt Potsdam beispielsweise verfügt über keinen einzigen Band der MWG in ihrem Bestand.

Das virtuelle Weber-Happening im Jahr 2020

Es war kein Zufall, dass die MWG, eines der größten deutschen Editionsprojekte nach 1945, nach 45 Jahren und mit 47 Bänden einigermaßen pünktlich zum 100. Todestag Max Webers abgeschlossen worden ist. Für den 21. April 2020 war zudem eine ganze Serie von Veranstaltungen geplant. In meinem eigenen Terminkalender musste ich den ersten Termin für Mai streichen, in dem eine Konferenz in Athen geplant war. Absagen für mich persönlich folgten in Göttingen, Olsztyn und Wien. Immer noch steht ein Termin in Klagenfurt im November im Kalender. Vor allem in München, Webers Sterbeort, und in Heidelberg, wo er begraben liegt, waren zahlreiche Veranstaltungen schon lange vorgesehen. Die Corona-Pandemie machte allen diesen Vorhaben einen dicken Strich durch die Terminkalender.

In München wurde die eingangs genannte Ausstellung „Bürgerwelt und Sinnenwelt. Max Webers München“ in der Seidl-Villa unter Hygiene-Auflagen gezeigt (https://twitter.com/badw_muenchen/status/1270965990642159616; https://tiefenpixel.de/3D_Projekte/Ausstellung_Max_Weber1/.) Zu dieser Ausstellung erschien zudem ein sehr ansprechender und informativer Begleitband (von Friedrich Wilhelm Graf und Edith Hanke 2020). Wer die zierliche Porzellantasse sehen möchte, aus der Max Weber bei Mina Tobler Kaffee in deren Heidelberger Dachwohnung trank, wird hier fündig.

Die Bayerische Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied Max Weber gewesen war, stellte einen Podcast über Webers Rede „Politik als Beruf“ sowie über seine Rede „Wissenschaft als Beruf“ ins Netz. Das Center for Advanced Studies der Ludwig Maximilians-Universität München, Max Webers letzter Wirkungsstätte, organisierte mehrere Veranstaltungen, die als Zoom-Livestream durchgeführt wurden. Und in Heidelberg kam es zu einer Mixtur von insgesamt 31 analogen und virtuellen Veranstaltungen: eine Podiumsdiskussion, die im Livestream gesendet und aufgezeichnet wurde, und eine ganze Serie von Vorlesungen sowohl in Räumen der Universität Heidelberg als auch an den Dienstorten der Vortragenden. (https://www.uni-heidelberg.de/de/heionline/im-fokus-max-weber)

Es ist hier nicht der Ort, sämtliche Veranstaltungen im Zusammenhang mit der 100. Wiederkehr von Webers Todestages aufzuführen. Um die Internationalität dieses Gedenkens zu illustrieren, verweise ich wenigstens noch auf jene zweiteilige Serie, die im argentinischen Buenos Aires vom Weber-Forscher Eduardo Weisz organisiert worden war und an der die deutsche Weber-Forscherin Rita Aldenhoff-Hübinger virtuell teilnahm.

Viele der deutschen Rundfunkanstalten und die meisten der überregionalen Zeitungen im deutschsprachigen Raum brachten unterschiedlich lange Beiträge zum Gedenken an Max Weber. An dieser Stelle seien allein hervorgehoben der Bayerische Rundfunk und das Deutschlandradio. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, die Max Weber mitbegründet hatte, veranstaltete im Rahmen ihres für Berlin geplanten 40. Kongresses, der ausschließlich digital organisiert worden war, am 22. September 2020 eine Zoom-Session unter dem Titel „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“. Zur Aktualität von Max Weber (1864-1920) – hundert Jahre nach seinem Tod.“ (https://kongress2020.soziologie.de)

Wie geht es nun weiter nach diesem kurzen medialen Rauschen? Diese Frage – neben der zur „Aktualität“ Max Webers – zog sich wie ein roter Faden durch alle die genannten Veranstaltungen. Man kann die Antworten auf diese so einfach erscheinende Frage in zwei Lager sortieren: die einen glauben daran, dass die Auseinandersetzung mit dem Werk Max Webers auch in Zukunft kräftig weitergehen wird, ja manche prognostizieren sogar eine zunehmend intensivere Rezeption. Die anderen zweifeln daran, dass es künftig eine Weber-Rezeption geben wird, die über den kleinen Kreis der Weber-Forscher hinausgeht. Und dieser Kreis wird immer kleiner werden, nicht zuletzt mit Blick auf die Altersstruktur derer, die man zu Recht als dazugehörig zählen kann. Ich selbst gehöre zur Fraktion der Skeptiker. Wie bereits in meiner letzten Rezension geschrieben, vermute ich, dass es ab dem Jahr 2021 sehr viel ruhiger in der deutschsprachigen und internationalen Weber-Forschung werden wird. Die allgemeine Klassikerdämmerung, keineswegs nur in der Soziologie, wirft auch über Max Weber ihren Schatten. Aber ich lasse mich sehr gerne überraschen von einer gegenteiligen Entwicklung!

Zum Abschluss meiner Rezensionsarbeit

Mit dieser Rezension beende ich meine Rezensionsarbeit in Sachen Max Weber an dieser Stelle. Im Februar 2006 begann ich meine Serie von Besprechungen in literaturkritik.de mit einer Würdigung der Max Weber-Biographie des Bielefelder Historikers Joachim Radkau. Ihr folgten in den anschließenden vierzehn Jahren über dreißig Texte, von denen einige den Umfang längerer Aufsätze beanspruchten.

Es ist in der deutschen Wissenschaftskultur unverändert so, dass Rezensionen keinen ehrengeachteten Platz eingeräumt bekommen. Im Gegensatz zur angelsächsischen Szene, in der eine Besprechung im Times Literary Supplement (TLS) oder der New York Review (of Books) (NYR) problemlos über einem Aufsatz in einer Fachzeitschrift rangiert, betrachtet man im deutschsprachigen Raum derartige Texte als von nachgeordneter Bedeutung und Wertigkeit. Die Herausforderung, eine Rezension zu verfassen, die auch für Nichtfachleute verständlich sein soll, wird im deutschen Ranking nicht sonderlich hoch platziert. Ich selbst sah meine Aufgabe darin, als Weber-Forscher die MWG von Beginn an kritisch-konstruktiv zu begleiten.

Erwähnte Literatur

Friedrich Wilhelm Graf, Edith Hanke: Bürgerwelt und Sinnenwelt. Max Webers München. München: Volk Verlag 2020.

Hauke Janssen: Russische Ökonomen in Deutschland (1910-1933). Marburg: Metropolis Verlag 2004.

Ders.: Nationalökonomie und Nationalsozialismus: die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. 4. Aufl. Marburg: Metropolis Verlag 2012.

Titelbild

Max Weber: Max Weber-Gesamtausgabe. Band III/2: Praktische Nationalökonomie. Vorlesungen 1895–1899.
Herausgegeben von Hauke Janssen in Zusammenarbeit mit Cornelia Meyer-Stoll und Ulrich Rummel.
Mohr Siebeck, Tübingen 2020.
XIV, 793 Seiten, 389,00 EUR.
ISBN-13: 9783161530807

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