Hegel – Denker der Moderne

Eine Tour d‘Horizon über einige Neuerscheinungen zum 250. Geburtstag des Philosophen

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass man Georg Wilhelm Friedrich Hegel auch heute noch als einen vorwärtsweisenden, revolutionären und utopischen Denker interpretieren kann, hat Ernst Bloch in seinem Werk Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel aus dem Jahr 1951 unter Beweis gestellt. Hegels erster Biograph, Franz Rosenzweig, widmete sich ihm mit größter Zurückhaltung und Diskretion: „So einfach, so mit einem Blick überschaulich“ sei dessen Leben gewesen. Damit drückte er wohl auch das Selbstverständnis des Philosophen aus. Zu seinem 250. Geburtstag sind zwei umfangreiche Biographien erschienen: Hegel. Der Philosoph der Freiheit von Klaus Vieweg und Hegels Welt von Jürgen Kaube. Beide stimmen darin überein, einfach und überschaulich seien weder Hegels Zeit und Umwelt noch sein Leben und Denken gewesen, sondern Zustände der Unruhe und Veränderung, der Umwege und Widersprüche, die allerdings in seiner Philosophie am Ende in einer höheren Einheit aufgehoben worden seien. Ein Werden in Widersprüchen durch Steigerung zur Einheit, dies könnte fürwahr Hegels Lebensweg beschreiben, der anders etwa als beim hochbegabten Freund Schelling nicht direkt zum Philosophenthron führte. Erst über einen Umweg als Hauslehrer, Privatdozent, Journalist und Schuldirektor avancierte Hegel zum „Professor der Professoren“.

Nach dem Besuch des Tübinger Stifts wird er zunächst Hauslehrer in Bern und Frankfurt und dann in Jena Privatdozent, bevor er als Zeitungsredakteur nach Bamberg und anschließend als Gymnasialprofessor und -rektor nach Nürnberg wechselt. Eine kurze Professur hat er an der Universität Heidelberg inne, bevor er 1818 eine Professur an der Universität Berlin antritt und dort seine berühmten und weithin beachteten Vorlesungszyklen hält: über die Rechtsphilosophie, die Philosophie der Religion, der Ästhetik, die Philosophie der Weltgeschichte sowie die Geschichte der Philosophie.

Wie kein anderes Ereignis hat auf das Leben und Denken Hegels wie auch seines Freundes Hölderlin die Französische Revolution Einfluss genommen. Der gesamte Lebens- und Denkweg Hegels ist geprägt von ihr, vor allem das Grundmotiv der Freiheit durchzieht ihn. Vieweg zeichnet in seiner herausragenden achthundertseitigen Biographie ein neues Bild des Philosophen und beschreibt ebenso den Geist der Zeit wie das philosophische Denken Hegels. Indem der Biograph Hegel als Philosophen der Freiheit porträtiert, will er vor allem mit falschen Hegel-Bildern aufräumen, die ihn als philosophischen Repräsentanten der preußischen Restauration zeichneten und ihn zu „einem Vordenker des Totalitarismus“ machten. Hegel sei ein Denker, über den die meisten Lügenmärchen und Klischees verbreitet würden, so Vieweg. Dem gegenüber sei deutlich zu machen, was Hegel uns heute noch zu sagen habe, und hier stehe die „Freiheit“ im Mittelpunkt. Vieweg versucht, heutige Freiheitsbegriffe wie die Wahl- oder Willkürfreiheit mit Hegels Freiheitsbegriff zu korrigieren. Für Hegel sei diese Willkür zwar ein Element der Freiheit; letztlich aber gibt es bei Hegel keine Freiheit ohne Vernunft. Freiheit in seinem Sinne beruhe immer auf der Auswahl des Vernünftigen.

Vieweg sieht hinter der aktuellen Debatte über die Beschneidung von Freiheitsrechten zur Eindämmung der Corona-Pandemie einen falsch verstandenen Freiheitsbegriff. Er verweist in einem Interview mit dem Deutschlandfunk explizit auf Hegels Freiheitsphilosophie. Für sie ist Freiheit untrennbar mit Vernunft verknüpft.Bei den gegenwärtigen Kontaktsperren könne man nicht von massiven Einschränkungen von Freiheit sprechen, sondern von einer zeitweiligen, der Notsituation angemessenen Begrenzung bestimmter Rechte. Schließlich sei die Sicherung der Gesundheit ein fundamentales Freiheitsrecht aller Bürger.

Die jüngst erschienene Aufsatzsammlung Die Armut unserer Freiheit von Axel Honneth thematisiert „Spielarten sozialer Freiheiten“ und ihre „Deformationen“ sowie die „Quellen sozialer Freiheit“. Die Aufsatzsammlung verdankt sich Honneths Bemühungen, offengebliebene Fragen seines Buches Das Recht der Freiheit zu beantworten und dort formulierte Thesen weiterzuentwickeln. Die Sittlichkeitslehre Hegels bildete schon das theoretische Rückgrat dieses Buches und steht auch im Zentrum eines großen Teils des neuen Sammelbandes. Der erste Teil ist der Versuch einer zwischen Hegel und Marx vermittelnden Begriffsklärung, der zweite widmet sich sozialen Problemfeldern, so in den Aufsätzen „Erziehung und demokratische Öffentlichkeit“ und „Demokratie und soziale Arbeitsteilung“, die er als vernachlässigte Kapitel der politischen Philosophie tituliert. Honneth versucht in der Beschäftigung „mit der philosophischen Spannung zwischen Hegel und Marx den Begriff der sozialen Freiheit noch einmal weiter zu erläutern“. Mit Hilfe der Hegelschen Sittlichkeitslehre gelingt es Honneth, Beweggründe zu bestimmen, die dem Kampf für die Freiheit heute neuen Aufschwung verleihen könnten.

Im Alter von 90 Jahren publizierte Jürgen Habermas 2019 sein voluminöses zweibändiges Werk, das sich in einer subtilen Anlehnung an Johann Gottfried Herder Auch eine Geschichte der Philosophie nennt, ein über 1700 Seiten starkes Alterswerk zum „Diskurs über Glauben und Wissen“. Es ist ein Nachdenken über die Aufgaben der Philosophie, die an der vernünftigen Freiheit kommunikativ vergesellschafteter Subjekte festhält, und versucht eine Antwort darauf zu geben, „was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle Personen“. Im Stil einer Genealogie gibt es Auskunft darüber, wie die heute „dominanten Gestalten des westlichen nachmetaphysischen Denkens entstanden sind“. Habermas bestand immer auf einer „methodischen Differenz der Diskurse“ in Religion und Philosophie, indem er für eine säkulare Übersetzung religiöser Semantiken in nachmetaphysisches Denken plädierte. Zweifellos steht dieses monumentale neue Werk auch in der großen geschichtsphilosophischen Tradition von Kant, Hegel und Marx. Habermas ist auf der Suche nach den Spuren der Vernunft in der Geschichte der Philosophie, nach einer umfassenden Vernunft, die weit mehr ist als nur die rein instrumentelle der Naturbeherrschung und Selbsterhaltung. Es geht im unvollendeten Projekt der Moderne um nicht weniger als um die vernünftige Freiheit der Menschen:

Mein Versuch einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens soll dazu ermutigen, den Menschen nach wie vor als das ‚Vernunft habende‘ Tier zu begreifen und dabei an einem komprehensiven Begriff der Vernunft festzuhalten. […] Aus dieser Sicht zieht sich die subjektive Vernunft in handelnde und lernende Subjekte zurück, die in ihren jeweiligen lebensweltlichen Kontexten miteinander vergesellschaftet sind. So verschränkt sich die Vernunft der Subjekte mit einer kommunikativen Vernunft, die in der historischen Vielfalt der einander überlappenden sozialen Lebenswelten nur noch auf prozedurale Weise Einheit stiften kann.

Das berühmte Werk Vernunft und Revolution des Mitbegründers der Kritischen Theorie der Gesellschaft Herbert Marcuse bietet auch 80 Jahre nach seiner Erstpublikation eine durch ihre Klarheit und Werkkenntnis herausragende Einführung in das philosophische System Hegels. Marcuse widerlegt in ihm die These, Hegel sei ein Theoretiker der Restauration und ein Ideologe des Obrigkeitsstaates totalitärer Prägung gewesen. Für den Autor erweist sich Hegel als ein Philosoph der Freiheit, der Vernunft und des Fortschritts. Im Nachwort von 1954 heißt es, dass mit der Niederlage von Faschismus und Nationalsozialismus die Tendenz zum Totalitarismus nicht stillgelegt ist. Es kennzeichnet den Rang des Buches, dass es über seinen Anlass hinaus seine Aktualität bewahrt hat, so sein Übersetzer Alfred Schmidt in seinem Nachwort als Herausgeber. Zur Hegelrenaissance der letzten Jahre bietet Marcuses kritisches, nun neu aufgelegtes Werk einen wichtigen Beitrag.

Durch keinen anderen Denker lerne man so gut kennen wie durch Hegel, was auch die „Sattelzeit“ genannt wurde: der Übergang eines altgewordenen Europas in eine moderne Gesellschaft, heißt es in Jürgen Kaubes Biographie. Während der Jahrzehnte, in denen Hegel lebte, änderte sich die Welt grundlegend durch Ideen, die zu Revolutionen führten: politische, industrielle, ästhetische und pädagogische. Hegel habe daher von der Philosophie eines Idealismus, den der Biograph als „Könnensbewußtsein“ bezeichnet, verlangt, ihre Zeit auf den Begriff zu bringen, nicht ewige Wahrheiten, sondern die eigene Zeit in Gedanken zu fassen. Jürgen Kaube beschreibt in seiner voluminösen Biographie brillant Hegels Leben und Werk in einer Welt, die sich durch Umbrüche und Revolutionen umgestaltete und schließlich zu unserer wurde.

Laut Slavoj Žižek ist die Gruppe der Philosophen des Deutschen Idealismus, also Kant, Fichte, Schelling und Hegel, die „Mutter aller Viererbanden“. Das Enfant terrible unter den linken Theoretikern ist für seine gewagte Dialektik berüchtigt. Hat uns Hegel heute noch etwas zu sagen? Die Hypothese des Buches lautet leicht verkürzt: War das 20. Jahrhundert in gewissem Sinne marxistisch, so wird das 21. Jahrhundert hegelianisch. Žižek behauptet, gerade weil es so „unzeitgemäß“ sei, liefere Hegels Denken einzigartige Sichtweisen, um die Aussichten und Gefahren unserer Zeit besser ausfindig machen zu können. Echter Hegelianer zu sein bedeutet somit heute, Hegel nicht als conclusio, sondern als Ausgangspunkt zu wählen, um durch die unzeitgemäße hegelianische Brille die Phänomene besser zu verstehen, die allesamt nachhegelianisch sind. Der Leser gerät wie schon in seinem Hegel-Buch Weniger als nichts ins Staunen darüber, wie zuweilen gerade das Weithergeholte der Interpretation in befreiende Erkenntnis umzuschlagen vermag.

Der Münchner Philosoph Günter Zöller führt in einer exzellenten Einführung in Hegels Philosophie klar und konzise in das Werk des Meisterdenkers des 19. Jahrhunderts ein. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den vier Hauptschriften Phänomenologie des Geistes, die Wissenschaft der Logik, die Enzyklopädie der Wissenschaften und die Grundlinien der Philosophie des Rechts, ergänzt um seine späten Vorlesungen zur Weltgeschichte, Ästhetik, Religionsphilosophie und Philosophiegeschichte:

Der in der „Phänomenologie“ dreistufig dargestellte Geist entspricht dem, was Hegel später den „objektiven Geist“ nennen wird. Den Geist in seiner objektiven, gesellschaftlich vergegenständlichten Gestalt unterscheidet der spätere Hegel dabei vom Geist des Individuums („subjektiver Geist“) und vom kumulativen Geist in Gestalt von Kunst, Religion und Philosophie („absoluter Geist“). Charakteristisch für die Behandlung des Geistes in der  „Phänomenologie“ und dann auch des „objektiven Geistes“ in den späteren Schriften – ist die Geschichtlichkeit des Geistes.

Am Ende dieses Streifzugs durch die Neuerscheinungen zu Hegel sei noch auf eine dritte lesenswerte Biographie hingewiesen, die leichtfüßig daherkommt und seine Leser davon überzeugen will, dass die Hegel-Lektüre keineswegs nur etwas nur für Auserwählte oder Eingeweihte ist. Sebastian Ostritsch ist der jüngste Autor der hier vorgestellten Werke und es ist nur zu begrüßen, wie er seine Leser auf eine unterhaltsame philosophische Abenteuerreise durch Hegels Welt mitnimmt.

Im Epilog mit dem Titel „Das Ende und die Zukunft der Philosophie“  ist vom Tod des Philosophen 1831 und seiner stoischen Ruhe in seinen letzten Tagen die Rede, „ohne Besorgnis einer Gefahr“, wie seine Frau Marie von Tucher berichtete. „Hegel schied wortlos aus dem Leben“, heißt es bei Ostritsch.

Zehn Jahre nach Hegels Tod wird sein ehemaliger Freund und späterer Widersacher Schelling an die Berliner Universität berufen, wohl auf ausdrücklichen Wunsch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Schellings erste Berliner Vorlesung aus dem Wintersemester 1841/42 ist der „Philosophie der Offenbarung“ gewidmet und zum ersten Male nach Hegels Tod wird eine philosophische Vorlesung wieder zu einem gesellschaftlichen Ereignis; neben zahlreichen Studenten zieht es, so Ostritsch, die „Hautevolee aus Politik, Militär und Wissenschaft“ an. Doch unter den Hörern finden sich auch Michael Bakunin, Søren Kierkegaard und der junge Friedrich Engels. Im Wintersemester 1845/46 finden sich in seiner Vorlesung nur noch 40 Studenten ein. Kierkegaard schrieb enttäuscht: „Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, ebenso wie Schelling zu alt ist, um sie zu halten.“ Schelling beendet bald seine philosophische Vorlesungstätigkeit. Doch die Wirkmächtigkeit der Philosophie des deutschen Idealismus sollte sich auch in der Zukunft erweisen.

Titelbild

Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
1752 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587362

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Axel Honneth: Die Armut unserer Freiheit. Aufsätze 2012-2019.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
350 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518299135

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Jürgen Kaube: Hegels Welt.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020.
592 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783871348051

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Herbert Marcuse: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie.
(suhrkamp taschenbuch wissenschaft).
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
399 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518299258

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Sebastian Ostritsch: Hegel. Der Weltphilosoph.
Propyläen Verlag, Berlin 2020.
314 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783549100158

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Klaus Vieweg: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2019.
824 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783406742354

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Slavoj Žižek: Hegel im verdrahteten Gehirn.
Aus dem Englischen von Frank Born.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103900026

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Günter Zöller: Hegels Philosophie. Eine Einführung.
Verlag C.H.Beck, München 2020.
127 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783406749605

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