Tod eines Punks

Der zweite Fall für Otto Castorp und die Geraer Morduntersuchungskommission spielt im Jahr 1985 in Jena

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast zwei Jahre sind seit den Ereignissen rund um die Ermordung des mosambikanischen Vertragsarbeiters Teo Macamo vergangen, wie sie Max Annas im ersten Band seiner Reihe um die fünfköpfige Geraer Morduntersuchungskommission (MUK) beschrieben hat. Seine Hauptfigur, Oberleutnant Otto Castorp, hat sich von seiner Geliebten, der er zutraute, im Auftrag der Staatssicherheit sein Privatleben zu bespitzeln, inzwischen getrennt. Seiner Ehe hat das allerdings wenig geholfen. Und auch der neue Fall, um den sich Castorp und seine Kollegen in Jena zu kümmern haben, der Mord an dem 19-jährigen Automechaniker-Lehrling Melchior Nikoleit, lässt dem Kriminalpolizisten wenig Zeit, um sich der Familie zu widmen. Zumal ziemlich schnell die erneute politische Brisanz hinter den Ermittlungen – Nikoleit spielt Bassgitarre in einer Jenaer Punkband und gehört zum Umfeld der kirchlichen Opposition in der DDR –, zutage tritt.

Als der junge Mann erschlagen in einer von seinem Vater ursprünglich für die Unterstellung von antiquarischen Möbeln angemieteten Baracke aufgefunden wird, deutet zunächst alles auf eine Tat im familiären Umfeld hin. Und auch für Melchiors Freunde kommt als Täter nur der Vater infrage. Michael Nikoleit hatte Probleme mit seinem Sohn. Er neigte zu Gewaltausbrüchen und wurde als Antiquitätenhändler, der seine Waren für Devisen in die Bundesrepublik verkaufte, ohnehin beargwöhnt. Für etliche Verletzungen an seinem Körper besitzt er zwar eine Erklärung, die mit seinem Job zusammenhängt – richtig überzeugen kann er die fünf Mordermittler damit aber nicht. Auch ein stichhaltiges Alibi für den Zeitpunkt der Tat fehlt. Also warum noch länger nach einem unbekannten Täter suchen, anstatt sich gleich mit den Lorbeeren einer erfolgreichen Ermittlung zu schmücken?

Doch so einfach scheinen die Dinge dann doch nicht zu sein. Denn da gibt es ja noch das Umfeld, in dem sich der Ermordete zuletzt bewegt hat. Und das besteht aus Jugendlichen zwischen 17 und 20 Jahren, die der Kontrolle des Staates zu entgleiten drohen, anders sein wollen als die Vorbilder, denen sie in den Bildungseinrichtungen und Medien des östlichen Deutschlands begegnen. Als „Blank Generation“ fühlt man sich hier in Anlehnung an den Titel des Debütalbums der amerikanischen Punkformation „The Voidoids“ – eine „leere“ Generation, die der ihnen von außen aufgezwungenen Ordnung ihr Anderssein in jeder Beziehung entgegensetzt, es durch Kleidung und Frisuren demonstriert und mit Hilfe der Musik auch zornig hinausschreit.

Für die Polizisten um Otto Castorp sind diese jungen Menschen – zusammen mit dem ermordeten Melchior Nikoleit haben sich die Pfarrerstochter Julia Frühauf, der Sohn eines Majors der Nationalen Volksarmee und ein seiner alleinstehendenden Mutter unter die Arme greifender Junge zu der ihren englischsprachigen Vorbildern nacheifernden Punkband namens „Ernteeinsatz“ zusammengefunden – lediglich „Nichtsnutze“: „Destruktive Elemente. Absolut negativ.“

Auf seinen vorsichtigen Einwand, dass es sich bei diesen jungen Menschen noch um Unfertige, Suchende handele, Ungeformte, denen man Zeit geben müsse, sich in die Gesellschaft hineinzufinden, bekommt Annas’ Hauptfigur von einem seiner Kollegen zu hören, was wohl mancher, der Mitte der 1980er Jahre als Jugendlicher in der DDR lebte, noch in Erinnerung haben dürfte: „Die brauchen die harte Hand, wenn du mich fragst […] Der Sozialismus muss sich wehren gegen den ganzen Schund, der aus dem Westen hier rüberkommt. Zum Glück dürfen die Jungs alle irgendwann zur NVA. Da zeigen wir ihnen, wo es langgeht.“

Doch wozu warten auf den Kasernendrill? In einer der härtesten, ans Mark gehenden Szenen des Romans beschreibt Max Annas über Seiten hinweg, wie sich in einer Prügelorgie sadistische Polizisten an Jugendlichen austoben, die gerade von einem kirchlich organisierten Punkkonzert zurückgekommen sind. Und auch bei einigen von Castorps Kollegen sitzt, wenn sie die Tatverdächtigen befragen, die Hand durchaus locker. Dass gleichzeitig die Staatssicherheit versucht, die wachsende Szene der die staatliche Ordnung scheinbar untergrabenden Jugendlichen, deren enge Bindung an kirchliche Einrichtungen einen zusätzlichen Dorn im Auge der Machthabenden darstellt, mit Spitzeln zu unterwandern, ist ein weiteres Thema des Romans. Auch Melchior Nikoleit hat erst kurz vor seinem Tod einen IM-Vertrag unterschrieben, um Ruhe zu haben vor den dauernden Nachstellungen. Und er ist nicht der Einzige unter seinesgleichen, wie sich schließlich herausstellt.

Max Annas erzählt seine Geschichte aus mehreren Perspektiven. Da ist Julia Frühauf, die Jenaer Pfarrerstochter, Melchiors erste große Liebe. Da ist der Vater eines der Bandmitglieder, Erich Marder, ein hundertprozentig hinter der Ideologie seines Staates stehender NVA-Offizier mit dubioser Vergangenheit, die gerade im Begriff ist ihn einzuholen. Da gibt das Buch den zusammen mit Julia und Melchior Musik machenden Jugendlichen eine Stimme, einmal sogar in einem kurzen Abschnitt dem ermordeten Melchior Nikoleit selbst.

Hauptsächlich aber ist es Otto Castorp, den der Autor in den 73 Abschnitten seines Romans denken und agieren lässt. Dass ihn einer seiner Kollegen in der Hand zu haben scheint, indem er mehrmals durchblicken lässt, dass er Informationen über einen Akt von Selbstjustiz, den Castorp aus Verzweiflung am Ende des ersten Bandes von Morduntersuchungskommission beging, besitzt und jederzeit öffentlich machen kann, vermag an dessen fester Überzeugung, dass politische Erwägungen nicht in eine Morduntersuchung gehören, nicht zu rütteln. Wenn es der Autor schließlich auf den letzten Seiten des Romans noch einmal richtig krachen lässt, wird spätestens klar, dass die besonnene, vorurteilsfreie Art, die Otto Castorp an den Tag legt, nicht nur die wahren Schuldigen zu ermitteln, sondern auch Unschuldige zu schützen vermag.  

Annas’ Buch spielt in jenem Jahr 1985, in dem die Ernennung von Michail Gorbatschow zum sowjetischen Parteichef eine Entwicklung einleitete, die schließlich den Kalten Krieg beendete und ein Jahrfünft später zum Zusammenbruch des Sozialismus in allen europäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion führte. Dass Perestroika (gesellschaftlicher Umbau) und Glasnost (Offenheit), wie sie Gorbatschow propagierte und in der Sowjetunion weitgehend praktizierte, bei seinen osteuropäischen Bündnispartnern auf wenig Verständnis stießen, machen auch die Diskussionen deutlich, in denen Max Annas’ Ermittler dem Neuen im Kreml nur geringe Chancen einräumen. „Gorbatschow?“, heißt es da an einer Stelle, „Zu jung […] Sicher keiner für die Geschichtsbücher. Sie werden ihn bald absägen und jemanden mit Erfahrung dahin setzen.“  

Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit ist dem im April 1981 vierundzwanzigjährig in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera zu Tode gekommenen Bürgerrechtler Matthias Domaschk gewidmet. Eine an dessen bis heute nicht vollständig geklärtes Schicksal erinnernde Episode hat Annas in seinen Roman eingebaut. Er setzt damit fort, was er in Band 1 der auf vier Bände angelegten Reihe um die MUK Gera mit der Widmung für Manuel Diogo, dessen Schicksal als Vertragsarbeiter in der DDR Annas zu dem Roman inspirierte, begann: die Erinnerung an Menschen, deren tragische Schicksale auch Teil einer DDR-Geschichte gewesen sind, die mit zunehmender zeitlicher Entfernung ihre realen Schrecken zu verlieren scheint und sauberer auszusehen beginnt, als sie tatsächlich gewesen ist.     

Titelbild

Max Annas: Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
320 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001339

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