Sternenfeuer der Nebensächlichkeiten

In seinem Roman „Mars an Erde“ erzählt Jürgen Lodemann die Geschichte eines Astronauten und kreist um das Wesentliche wie der Mars um die Sonne

Von Sascha MangliersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Mangliers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Mars hat, obgleich ein Nachbarplanet der Erde, noch nie ein Mensch seinen Fußabdruck hinterlassen. Der Flug eines bemannten Raumfahrzeugs dorthin würde – darüber schwanken die Angaben – zwischen 200 und 250 Tagen dauern. Dementsprechend wenig wissen wir über den „Roten Planeten“. Eine Reise zum Mars: Dieses Thema scheint deshalb beinahe schon als Garant für einen kurzweiligen Science-Fiction-Roman. Mars an Erde erfüllt diese Erwartung allerdings nicht; denn wenn dieses Buch eines nicht ist, dann kurzweilig.

Nach der vermeidlich ersten bemannten Marsmission kehrt der deutsche Astronaut Frank Brandt zur Erde zurück. Doch statt in die Arme ihrer Familien müssen er und seine Raumfahrt-Kollegen in eine von der US-Regierung verordnete Isolation. Abgeschottet und ohne Kontakt zur Außenwelt. Unter nebulösen Umständen gelingt Brandt als einzigem der Ausbruch. Mit gefälschten Dokumenten versucht er, zurück nach Deutschland zu reisen. Im Flugzeug schließlich läuft er zwei Journalisten eines namhaften Magazins in die Arme. Nach zähen Verhandlungen erklärt sich Frank Brandt bereit, über die Gründe der Isolation, seine Flucht und die Zusammenhänge mit den bedrohlichen Expeditionsergebnissen zu sprechen.

Mars an Erde ist 2020 im Verlag Klöpfer, Narr erschienen und darf, ohne jede Despektierlichkeit, als Jürgen Lodemanns Alterswerk bezeichnet werden. Lodemann, Jahrgang 1936, hat sich auf vielerlei Arten um die deutsche Literatur verdient gemacht: Als Kritiker, Moderator des Fernsehformates Literaturmagazin oder Erfinder der SWR-Bücher-Bestenliste. Auch hat er durch Veröffentlichungen in unterschiedlichen Genres oft literarische Vielseitigkeit bewiesen. An der Gattung des Science-Fiction-Romans jedoch scheitert er. Mars an Erde ist ein Beispiel dafür, wie Autorenabsicht, Genre-Wahl und Erzählmodus partout kein stimmiges Ganzes ergeben wollen.

Wenn im Folgenden von der „Erzählung“ gesprochen wird, dann muss vorangestellt werden, dass der Roman in Form eines dokumentierten Interviews zwischen dem Journalisten Mark Hecker und Frank Brandt, dem Marsrückkehrer, konzipiert ist. Auf 258 Seiten findet also ein stetes Kommunikations-Ping-Pong statt. Kein Erzähler. Keine Perspektivenwechsel. Frage: Antwort. Rede: Gegenrede. Auf den ersten knapp 35 Seiten erst einmal darüber, ob es überhaupt zu einem Interview kommen würde:

Hecker: Willkommen, Europas Mann im All. Zurück vom Mars, erster wahrer Sternenflieger – auf der Flucht?
Brandt: Sie belästigen mich.
Hecker: In Houston eingesperrt? Wie konnten Sie fliehen?
Brandt: Hoffentlich sind Sie bald zurück auf Ihren Plätzen.
Hecker: Ihre Heftigkeit verrät Sie.

Nach weiteren strapazierenden Verhandlungen dieser Art lässt sich Brandt schließlich auf das Interview mit Hecker ein und im Glauben, genug Geduld geübt zu haben, erwartet der Leser endlich spannende Details über die Marsmission und die ominöse Isolation. Doch bloß mit der Ruhe!

Von einer Antwort auf die Frage, was die Astronauten-Crew denn so Unfassbares auf dem Mars entdeckt hat, ist man zu diesem Zeitpunkt noch Lichtjahre entfernt. Man erfährt immer mal wieder in Andeutungen, dass die US-Regierung eine Veröffentlichung der Forschungsergebnisse nicht zulassen könne, der Mars mehr als bloß eine Staubwüste sei und eine russische Besatzung bereits ein halbes Jahr zuvor geheimerweise dort gelandet sei. Aber von dem eigentlichen Kern der Geschichte hält Lodemann allzu lange „erzählerischen“ Abstand.

Natürlich ist es eine bewährte und völlig legitime Strategie, den Höhepunkt eines Romans hinauszuzögern. Aber wenn man diese Strategie wählt, muss der Leser zwingend in irgendeiner Weise von ihr profitieren; entweder durch das Erleben von Spannung, von euphorischer Ungeduld, oder durch Genuss. Genuss der Sprache, der erzählten Bilder, des Zusammenwachsens mit den Figuren. Und hierin liegt das Misslingen dieses Romans begründet. Aber warten wir noch einen Absatz…

Nichts dergleichen bietet Lodemann seinen Lesern. Die beiden Hauptfiguren, Frank Brandt und der Journalist Mark Hecker, treten durchweg bleiern auf. Nicht einmal grob unsympathisch, aber schlicht als Vertreter ihrer Rollen, als Astronaut und Journalist. Sie bieten keinerlei  individuelle Eigenschaften und Persönlichkeit, an der ein Leser auch nur ein halb-warmes Interesse haben könnte. An einer Stelle, als Brandt von einer emotionalen Regung spricht, die ihn beim Anblick der Botschaft seiner Frau in Isolationshaft überfiel, ist man der Figur Frank Brandt so nah wie danach nie wieder in dieser Geschichte. Alle weiteren Figuren, die in diesem Roman auftreten, tun dies, ohne irgendeine Duftmarke zu setzen. Was den Spannungsbogen des Romans anbelangt,…Geduld, dazu kommen wir schon noch.

Wenn man die Aussagen von Frank Brandt und die Sprache, in der er diese von sich gibt, betrachtet, deutet sich etwas sehr interessantes an: Wir haben es bei Mars an Erde womöglich mit keinem reinen Sci-Fi-Roman zu tun. Denn Auszüge wie dieser aus Brandts ewigem Parlando, legen eine andere literarische Absicht nahe:

„Wollt’s Kind in den Himmel gehen. Und wie’s zum Mond kam, da war der ein Stück faul Holz.“ Georg Büchner. Für mich bester deutscher Dichter. Schon mit 24 im Sarg. […] Porös. Entgast. Aber ich ahne, der horror vacui, das Tote im Nachbarn, es lässt sich unmöglich erzählen. Es sei denn mit Büchner.

Ein Bildungsroman. Stellen wie diese gibt es zuhauf, mit denen Lodemann seiner Figur Brandt ein Wissen um Geschichte und Literatur in den Mund legt, dass der Autor als sein eigenes präsentieren möchte. Heinrich Heine, Georg Büchner, E.T.A. Hoffmann. Dabei immer wieder dem Reporter Hecker drohend „Und wehe, ihr kürzt mir die Dichter weg!“ Nun kann man es einem Autor nicht zum Vorwurf machen, dass er gewissen Eitelkeiten folgt. Wer, und dazu gehört ohne Frage auch der natur-wie geisteswissenschaftlich gebildete Lodemann, intellektuell aus dem Vollen schöpft, der möchte dies in seinem Werken widergespiegelt sehen. Nichts dagegen zu sagen. Aber eben nur dort, wo es nicht gekünstelt, deplatziert und erzwungen wirkt.

Man halte sich vor Augen: Dort sitzt ein Astronaut im Flugzeug, entkräftet von einer ewig langen Marsreise, in Sehnsucht nach seiner Familie in Deutschland und mit den US-Geheimdiensten im Nacken, die ihn nach seiner Flucht aus der Isolation verfolgen. Nun überwindet er sich, einem Journalisten ein Interview zu geben, in dem er erstmals über die unheilvollen Mars-Erkenntnisse berichten will. Was er zu sagen hat, wird nicht weniger als eine Zäsur in der Weltgeschichte bedeuten, und dann: „Nach der Reihe, dazu komme ich noch früh genug.“ Erstmal Heine? Beim besten Willen: Das passt nicht.

Hinzu kommt das Problem mit dem Spannungsbogen. Die erwartungsvolle Ungeduld des Lesers, das Gefesseltsein vom Ungewissen, all das, was so typisch für das Science-Fiction-Genre ist, wird konsequent vorenthalten. Nicht einmal weil bereits durch eine Bemerkung Brandts auf Seite 27 nahegelegt wird, was auf dem Mars entdeckt worden ist. Vielmehr wegen Brandts Rolle als unbeirrbarem Schwadroneur. Immer und immer wieder spricht Brandt in schwer erträglicher Detailliebe über noch so kleine Krater, Kalkreste oder Flugsand des roten Planeten und watscht Heckers ungeduldige Rückfragen konsequent ab:

Hecker: Wir sind gespannt. Auf die Marsgegebenheiten.
Brandt: Wirklich? Kurz vor unserem Start las ich das Buch eines anderen Doktors der Naturwissenschaften, des Primo Levi.

Oder:

Hecker: Und wie entstand es dort, dieses „Abgas“?
Brandt: Wir haben es ermittelt. Geduld, Geduld […] Zuvor aber müssen Sie weiter viel ertragen von dem, was irdischen Gemütern wohl nur öde erscheinen kann, als durchweg Tristes, Erstorbenes.

Hier wird dem Leser leider mehr Geduld abverlangt, als es die Qualität des Romans rechtfertigt.

So präsentiert Jürgen Lodemann uns mit Mars an Erde einen Roman, der wohl höchstens für Liebhaber der Astronomie etwas taugt. Hier wird intellektueller Plauderei der viel zu weite Mantel des Science-Fiction-Genres übergeworfen, wodurch ein konturloses Ganzes entsteht. Weder Sci-Fi-Fans noch Sprachliebhaber kommen in Lodemanns Sternenfeuer der Nebensächlichkeiten auf ihre Kosten. Mission Mars an Erde gescheitert.

Titelbild

Jürgen Lodemann: Mars an Erde. Beschreibung eines Planeten.
Roman.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2020.
259 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783749610228

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