Vom Suchen und vom Verlieren

In Dror Mishanis Roman „Drei“ führt die Sehnsucht nach Liebe und Nähe drei Frauen auf gefährliche Wege

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Orna Esran ist Gymnasiallehrerin. Geschieden und Mutter eines 9-jährigen Jungen, der nach dem traumatischen Erlebnis der Trennung seiner Eltern in regelmäßiger psychotherapeutischer Betreuung ist, fällt es ihr schwer, einen neuen Mann in ihr Leben zu lassen. Dabei scheint dieser Gil Chamtzani, ein Anwalt, den sie über ein Datingportal kennengelernt hat, durchaus annehmbar: 42 Jahre alt, kein Adonis, aber ein gutsituierter, höflicher, offenbar ebenfalls geschiedener Vater zweier fast erwachsener Töchter, der zurückhaltend ist und Orna zu nichts drängt. Also lässt sie sich nach ein paar ersten Treffen, bei denen weder er sie, noch scheinbar sie ihn sonderlich zu beeindrucken scheint, mehr und mehr auf ihn ein. Bis zu dem Moment, wo ein Zufall ihr die Wahrheit über den Mann enthüllt und ihre Beziehung sich in eine fatale Richtung zu entwickeln beginnt.

Emilia Nudjews, Mitte vierzig, kommt aus dem lettischen Riga. Als Pflegerin gerät die alleinstehende Frau in eine schwierige Situation, als der 84-jährige Mann, dem sie sich – hingebungsvoll und deshalb von ihm und seiner Frau fast wie ein Familienmitglied behandelt – widmet, plötzlich stirbt. Da fügt es sich gut, dass es sich bei einem von dessen Söhnen just um jenen Anwalt Gil Chamtzani handelt, der ihr vielleicht helfen kann, neu anzufangen und eine besser bezahlte Arbeit zu finden. Auch auf Emilia macht Gil einen verlässlichen und hilfsbereiten Eindruck. Weil er gerade dabei ist, sich eine eigene Wohnung einzurichten, bietet sie sich ihm als Haushaltshilfe an. Doch während das Verhältnis zwischen der einsamen und einen neuen Sinn für sich im Leben suchenden Lettin und dem laut seiner eigenen Aussage in Scheidung liegenden Anwalt immer enger wird und bald auch eine erotische Komponente besitzt, merkt sie, obwohl die Signale immer deutlicher werden, nicht, dass sie in eine tödliche Falle läuft.

Und schließlich ist da noch Ella, die 37-Jährige, die an einer Masterarbeit über die Schicksale von Menschen im Lodzer Ghetto zwischen 1941 und 1944 schreibt. Gil lernt sie in einer Restauration kennen, wo sie morgens gewöhnlich bei einer Tasse Kaffee vor ihrem Laptop sitzt und vertieft in ihre Arbeit ist. Man kommt ins Gespräch und trifft sich schon bald regelmäßig. Nach und nach erfährt der entgegenkommende Anwalt von ihren drei Kindern, einem Mann, der kaum zu Hause ist, ihren Depressionen und dem daraus resultierenden Plan, sich noch einmal ins Studienleben zu flüchten, für das sie sich allerdings weder altersmäßig noch von ihrer inneren Haltung her als geeignet empfindet. Tapfer wehrt die Frau Gils erste Annäherungsversuche ab, auch wenn sie sich von seinem offenkundigen Interesse an ihr und ihrem Leben geschmeichelt fühlt. Doch die Verlockung ist groß und auf Dauer vermag sie ihr nicht zu widerstehen. Allein welche Rolle diese dritte Frau wirklich spielt, erweist sich schließlich als die große Überraschung in Dror Mishanis raffiniert komponiertem Roman.

Drei Frauen, die an denselben Mann geraten – Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten mit differierenden Lebenserfahrungen und Vorstellungen über ihre Zukunft, doch alle drei voll unerfüllter Wünsche und Sehnsüchte. Dror Mishanis Roman betrachtet jede von ihnen aus einem anderen Blickwinkel, mal ganz nah dran an der Gedanken- und Gefühlswelt der Person, mal mit etwas Abstand und eher ungläubig ein Glück reflektierend, auf das die, die es plötzlich in Griffweite zu haben scheint, gar nicht mehr gefasst war, mal, wie bei Ella, äußerst kunstvoll und damit einer Frau gerecht werdend, die sozusagen zwei Leben auf einmal führen muss.  

Dror Mishani, 1975 in Cholon bei Tel Aviv geboren und gelernter Literaturwissenschaftler, wurde mit seiner bis dato dreiteiligen Krimireihe um den melancholischen Inspektor Avi Avraham bekannt. Wenn im dritten und letzten Teil von Drei ein Kriminalbeamter A. auftaucht – „zweiundvierzig, verheiratet und Vater von drei Kindern […] Ein großgewachsener, hagerer Mann, dessen Bewegungen und Sprechweise bedächtig und langsam waren, mit müden Augen“ –, so ist das natürlich eine Anspielung auf eben jenen Inspektor.

Allein in diesem vierten Roman, der in Israel schon nach kürzester Zeit zum Bestseller wurde, spielt Avraham – darauf deutet schon die Verwendung des Namenskürzels hin – nur eine Nebenrolle. Den Hauptpart teilen sich Orna, Emilia und Ella. Deren jeweiligen Befindlichkeiten wird in einer schmucklosen, geradlinigen Sprache nachgegangen, wobei Mishani faszinierende psychologische Porträts gelingen, über denen man zunächst fast vergisst, dass es sich bei Drei vor allem auch um einen Spannungsroman handelt. Umso raffinierter erscheint es dann, wie die Verbrechen, die hier ganz nebenbei zu geschehen scheinen, aufgeklärt werden, und es für den Täter am Ende nicht die Spur einer Chance gibt, der Gerechtigkeit zu entkommen.  

Titelbild

Dror Mishani: Drei.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
329 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070842

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