In der Grauzone

Nora Gantenbrink berichtet in ihrem Debütroman „Dad“ von einem abwesenden Vater und dem Kampf der Tochter, endlich ins Leben zu finden

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Gestaltung des literarischen Debüts der Journalistin Nora Gantenbrink verleitet gezielt zu der Annahme, es handle sich um ein autobiographisches Werk. Auf dem Cover sieht man einen jungen lockenköpfigen Hippie, der beseelt in die Kamera blickt. Der junge Mann ist auch noch auf einer anderen, ebenso vergilbten Fotografie im Buch selbst zu sehen, und sein Äußeres passt zu der Vaterfigur, von der die Ich-Erzählerin Marlene in diesem Roman berichtet. Es ist ein zunächst abwesender, dann toter Vater, um den Dad kreist; dies erfährt man bereits aus den ersten Zeilen. Ein Späthippie sei er gewesen, dieser Fleischersohn aus einem Kaff in der Nähe Dortmunds, der wohl eher ungewollt in eine Ehe und die Vaterrolle hineinstolperte und zeitlebens versuchte, sich vor beidem zu drücken, um seinem Traum von Freiheit hinterherzujagen. Die Ehe geht schnell in die Brüche, Marlene wächst bei ihrer Mutter auf, der Vater lässt sich manchmal jahrelang nicht blicken. Er hat Besseres zu tun, nämlich nach Goa, nach Thailand, an all jene Orte zu reisen, an denen Hippies seit den 70er Jahren hängengeblieben sind, ein steter Versuch, seine Jugend ewig zu bewahren. Wenn er sich blicken lässt, erzählt er zunehmend unglaubwürdige Geschichten von seinen Abenteuerreisen. Irgendwann stirbt er, Marlene ist noch ein Teenager, an den Folgen von AIDS, das er sich bei einer minderjährigen Liebhaberin in Thailand geholt hatte. Nun versucht die mittlerweile selbst über 30-jährige, beziehungsunfähige Marlene ihr Verhältnis zum Vater zu rekonstruieren, um zu sehen, wieviel von ihm in ihr selbst steckt, zu verstehen, warum alles in ihrem Leben so kam, wie es gekommen ist. Und natürlich versucht sie, sich in ihm wiederzufinden, ihre Schwierigkeit, menschliche Nähe zu ertragen, als Erbe ihres Vaters zu begreifen.

Dad ist in zwei Hälften gegliedert. In der ersten wird die Geschichte des Vaters und dessen Beziehung zu seiner Tochter durchaus bewusst nicht chronologisch erzählt. Die Erzählerin springt zwischen den Zeitebenen hin und her, berichtet von eigenen unglücklichen One-Night-Stands, von den wenigen intensiven Begegnungen mit dem Vater, von ihrem Heranwachsen im trostlosen Westfalen, von der Jugend ihres Vaters, von seinen Reisen, den Lügen, von den Berichten der Mutter. Und schließlich von seinem Tod. Dieser Teil ist bewegend, mitreißend, melancholisch, und gleichzeitig unheimlich komisch. Ein Glücksfall für die deutsche Gegenwartsliteratur, möchte man fast sagen, eine solche Stimme zwischen Verzweiflung, Selbstmitleid und Selbstironie vernehmen zu dürfen.

In der zweiten Hälfte entscheidet sich Marlene in einem reichlich konstruiert-pathetischen Moment, den Routen des Vaters nachzureisen, seine früheren Bekannten in Goa und in Thailand aufzusuchen, etwa das Mädchen, bei dem er sich laut eigener Aussagen mit AIDS angesteckt hat, aber auch ehemalige Kiffkameraden und weitere Liebhaberinnen. Und plötzlich funktioniert der Roman überhaupt nicht mehr. Die Story wirkt nun extrem künstlich, die neu eingeführten Charaktere stereotyp, gerade in der Goa-Passage sucht Gantenbrink auch mal nach dem schnellen Lacher, statt wie im ersten Teil in die Tiefe zu gehen. Und auch die zunächst zurückhaltende Figur ihres Sidekicks Oleg bekommt plötzlich eine reichlich konstruiert wirkende Rolle, die das Buch weiter in eine Schablonenhaftigkeit leitet, die nach dem wundervollen ersten Teil aufgrund des Heraufbeschwörens zahlloser Klischees nahezu wehtut.

Die Autorin selbst sagte im Interview, der Roman sei nicht autobiographisch, verhandle aber durchaus autobiographische Motive; auch sie habe als Teenager ihren Vater an die Krankheit verloren, und diese Ereignisse verarbeite sie auf fiktionale Weise. Gerade im ersten Teil von Dadgelingt ihr damit ein beeindruckendes Stück Autofiktion, ein originelles Weiterspinnen der eigenen Geschichte in eine Grauzone zwischen Autobiographie und Fiktion – auch die Herkunft der Fotos im Buch ist als „privat“ gekennzeichnet, so dass man annehmen muss, es handle sich tatsächlich um Gantenbrinks Vater. Leider gerät dieses Experiment im zweiten Teil, nicht zuletzt aufgrund der Einführung unglaubwürdiger, vor Klischees strotzender Charaktere und der überdrehten, vorsätzlich lehrreichen Handlungsstränge, die zum großen Finale führen, völlig außer Kontrolle.

 

Titelbild

Nora Gantenbrink: Dad.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
240 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498025359

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