Chronist seiner Zeit und Begründer des realistischen Romans in Deutschland

Zum 200. Geburtstag von Theodor Fontane

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Theodor Fontane 1898 im Alter von 78 Jahren starb, dachte wohl niemand daran – am wenigsten wohl er selbst – dass er einmal einen bleibenden Platz in der deutschen Literatur einnehmen würde. Seinem Nachruhm hatte Fontane gründlich misstraut, so schrieb der fast Siebzigjährige 1877 in einem Brief: „Ich habe mich redlich angestrengt und bin so fleißig gewesen, wie wenige, aber es hat nicht Glück und Segen auf meiner Arbeit geruht.“ Doch er beklagte sich nie. Erst ganz am Ende seines Lebens, wo er bereits den „geordneten Rückzug“ antrat, fand Fontane eine angemessene Anerkennung. Heute zählt er zu den bedeutendsten Erzählern des poetischen Realismus im 19. Jahrhundert. Einige Romane und Erzählungen sind Schullektüre geworden, Balladen wie John Maynard oder Der Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland kennt fast jedes Kind. Als Epiker und Wanderer hat Fontane längst eine beträchtliche und dankbare Leserschaft gefunden, die in diesem Jahr zu seinem 200. Geburtstag sicher noch angewachsen ist.

Theodor Fontane wird am 30. Dezember 1819 in Neuruppin, knapp 80 Kilometer nordwestlich von Berlin, als Sohn des Apothekers Louis Henry Fontane (1796-1867) und dessen Ehefrau Emilie (1798-1869) geboren. Am 27. Januar 1820 als Henri Théodore getauft, werden im Kirchenbuch jedoch die Namen Heinrich und Theodor eingetragen. Die Eltern, die beide väterlicherseits aus französischen Hugenottenfamilien entstammen, sind von gegensätzlichem Charakter und Wesen. Den größten familiären Zankapfel bildet die Spielsucht des Vaters, die auch später immer wieder dazu führt, dass er jede Apotheke, die er erwirbt, bald wieder verkaufen muss.

Seine ersten sieben Lebensjahre verbringt der kleine Theodor in der heute unter Denkmalschutz stehenden Stadtapotheke (Löwenapotheke) der kleinen märkischen Stadt. Wegen Spielschulden muss der Vater 1826 die Apotheke verkaufen. Nach einem Jahr zieht die Familie nach Swinemünde auf der Ostseeinsel Usedom, wo der Vater die Adler-Apotheke kauft. In der lebendigen Hafenstadt besucht Theodor für kurze Zeit die Stadtschule, ehe der Vater und Hauslehrer befreundeter Familien den Unterricht übernehmen. Bereits hier wird sein historisches und poetisches Interesse geweckt; auch erste Reimversuche fallen in diese Zeit.

Von 1832-33 besucht Fontane das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Neuruppin, wo er als Gymnasiast bei dem Prediger und Superintendenten Johann Leberecht Bientz wohnt. Nach dem Gymnasial-Abschluss tritt er in die Gewerbeschule von Karl Friedrich Klöden in Berlin ein. Unterkunft findet der junge Fontane bei seinem lebenslustigen Onkel August Fontane (1801-1870, ein Halbbruder des Vaters) und „Tante Pinchen“. Hier lernt er Georgine Emilie Caroline Rouanet (1824) kennen, die im Nachbarhaus wohnt und später seine Ehefrau wird. Fast ein halbes Jahrhundert später beschreibt Fontane in seinem autobiografischen Alterswerk Meine Kinderjahre (1894) die Kinderzeit in Neuruppin und Swinemünde.

Im Frühjahr 1836 bricht Fontane die Gewerbeschule mit dem Einjährigen-Zeugnis ab und beginnt eine Ausbildung bei Wilhelm Rose in der Apotheke „Zum Weißen Schwan“ in der Spandauer Straße in Berlin. Nebenbei wird er Mitglied mehrerer literarischer Vereine (Lenau-Gesellschaft, Platen-Klub). In der Zeitschrift Berliner Figaro, in der er ab 1839 Mitarbeiter ist, wird seine Erzählung Geschwisterliebe in sechs Folgen veröffentlicht. Sie ist Fontanes literarisches Debüt, dem im Berliner Figaro bald Gedichtveröffentlichungen folgen. 1840 schließt er mit dem Gehilfenexamen erfolgreich die Lehre ab und verlässt wenig später die Rose’sche Apotheke. Es folgen kurze, meist nur einige Monate dauernde Aufenthalte in Magdeburg, Leipzig und Dresden, wo er Kontakt zu „Vormärz“-Literaten hat und weiterhin in verschiedenen Zeitschriften Gedichte und Korrespondenzen veröffentlichen kann – u.a. in dem liberalen Leipziger Blatt Die Eisenbahn. Ein Unterhaltungsblatt für die gebildete Welt, das dem Herwegh-Klub nahesteht. Besonderen Erfolg hat Fontane jedoch nicht als politischer Lyriker, sondern mit Balladen wie Der alte Derfflinger oder Der alte Dessauer, die in Cottas Morgenblatt für gebildete Leser erscheinen. In Dresden besucht er regelmäßig Theateraufführungen und beschäftigt sich mit Übersetzungen (Shakespeares Hamlet oder die sozialkritische Lyrik des englischen Spinnereiarbeiters John Prince (1808-1866)). Dichterisches Interesse für englische Proletarier und gleichzeitig für preußische Feldherren? – Fontane glich in diesen turbulenten Jahren einem Chamäleon. So gehen Apothekerberuf und literarische Betätigung nebeneinander her; aber die Schriftstellerlaufbahn ganz einzuschlagen, kann er sich noch nicht entscheiden.

Von April 1844 bis März 1845 leistet Fontane seinen freiwilligen Militärdienst beim Garde-Grenadierregiment „Kaiser Franz“ in Berlin. In diese Zeit fallen auch ein erster zweiwöchiger England-Aufenthalt als Pauschalreisender und die Aufnahme (unter dem Namen „Lafontaine“) in den literarischen Sonntags-Verein „Tunnel über der Spree“, der von einer konservativen Grundhaltung geprägt ist. Für Fontane, der bis 1865 Mitglied bleibt, bildet der Verein bis an sein Lebensende den wichtigsten Freundeskreis. Neben zahlreichen lokalen Berühmtheiten lernt er hier in den Anfangsjahren den alten Joseph von Eichendorff, den jungen Paul Heyse oder den noch unbekannten Adolph Menzel kennen.

An den Barrikadenkämpfen der Berliner Märzrevolution von 1848 ist Fontane unmittelbar beteiligt. Ob als revolutionärer Anführer oder nur politisch unreifer Mitläufer – auch hier gibt es Widersprüchliches. In seinen Lebenserinnerungen Von Zwanzig bis Dreißig (1898), in denen er sich im hohen Alter mit dem für seine künstlerische Entwicklung entscheidenden Lebensabschnitt von 1840 bis 1850 auseinandersetzt, rühmt er sich seiner jugendlichen Revoluzzertaten. So berichtet er von Problemen mit einer Theaterflinte beim Pulverladen – bei einem ausgebildeten Soldaten recht unglaubwürdig. Alles nur Verklärung? Im wilhelminischen Kaiserreich sicher nicht. Tatsache ist, seine revolutionäre Gesinnung verblasst nach 1848, seine konservativ-patriotische Haltung tritt immer stärker hervor.

Nach einer einjährigen Tätigkeit im Krankenhaus der Diakonissenanstalt Bethanien gibt Fontane 1849 den Apothekerberuf endgültig auf, um sich als Journalist und freier Schriftsteller zu etablieren. Im Oktober 1850 heiratet er Emilie Rouanet. Im Jahr darauf wird der erste Sohn George Emile geboren. Bis 1864 folgen noch weitere sechs Kinder, von denen aber drei kurz nach der Geburt sterben. Die einzige Tochter ist Martha („Mete“, 1860), die eine besondere Beziehung zum Vater haben sollte. Obwohl die Ehe bis zu seinem Tod hält, ist sie keine einfache Beziehung. Häufig ist der Alltag von materiellen Sorgen überschattet. Zweimal gerät die Ehe ernsthaft in Gefahr, als Fontane zwei sichere Anstellungen, die der Familie regelmäßige Einkünfte sichern würden, eigenmächtig kündigt. („Mir ist die Freiheit Nachtigall, den andern Leuten das Gehalt.“) Zurückblickend äußert er sich später „Ein Apotheker, der anstatt von einer Apotheke von der Dichtkunst leben will, das ist so ziemlich das Tollste, was es gibt.“ Und tatsächlich sollte es bis zu seinem sechsten Lebensjahrzehnt ein Leben am Abgrund bleiben.

Von 1850 bis 1856 ist Fontane Journalist in preußischen Diensten – als Redakteur, Berichterstatter, Korrespondent und Presseagent im Innenministerium. 1852 geht er, freigestellt von der Pressestelle, als Korrespondent der Preußischen Zeitung nach London, um dabei auch die Möglichkeit einer längeren Niederlassung zu erkunden. 1855 folgt ein zweiter London-Aufenthalt, der dreieinhalb Jahre dauert und politische Gründe hat. Zwischen Preußen und England war es zu Spannungen wegen des neutralen Verhaltens Preußens im Krimkrieg zwischen Rußland und England gekommen. Dem sollte Fontane in London entgegenwirken. Was Italien als Bildungsreise für Goethe war, das stellt London für Fontane dar.

Im Oktober 1858 löst Prinz Wilhelm von Preußen als Prinzregent den unheilbar kranken König Friedrich Wilhelm IV. ab, was Hoffnungen auf ein liberales politisches Klima weckt. Als Fontane im Januar 1859 nach Berlin zurückkehrt, findet er jedoch keine redaktionelle Anstellung im Umkreis der neuen Regierung. So muss er froh sein, auf Vermittlung seines alten „Tunnel“-Freundes George Hesekiel (1819-1874) eine Stelle bei der Neuen Preußischen Zeitung (der erzkonservativen „Kreuz-Zeitung“) zu bekommen. Diese Mitarbeit erschwert ihm allerdings den Zugang zu Berliner liberalen Kreisen.

Neben seiner Redaktionsarbeit findet Fontane immer wieder Zeit für die eigene schriftstellerische Arbeit, so erscheinen 1860 die beiden Englandbücher Aus England und Jenseits des Tweed sowie 1861 seine Balladen. Außerdem widmet er sich der Reiseliteratur, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf großes Interesse stößt. Angeregt durch den Erfolg seiner Englandbücher beginnt er mit den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, deren erste Bände Die Grafschaft Ruppin (1861) und Das Oderland (1863) zunächst als Aufsätze in der Neuen Preußischen Zeitung oder im Morgenblatt für gebildete Leser erscheinen. Später durch die Bände Havelland (1873), Spreeland (1883) und Fünf Schlösser (1889) komplettiert, werden die Wanderungen zu seinem umfangreichsten Werk.

Siebenundzwanzig Jahre (mit Unterbrechungen) streift Fontane durch Brandenburg, um es in seiner ganzen historischen Breite und landschaftlichen Vielfalt zu erfassen. Damit setzt der „märkische Goethe“ der Landschaft ein literarisches Denkmal. Die durch den Buchtitel geprägte Vorstellung, Fontane wäre per Pedes mit Stock und Hut unterwegs gewesen, stimmt allerdings nur zum Teil. Fontane ist kein passionierter Wanderer, vielmehr nutzt er meist eine Mietkutsche oder die Pferdepost, liebend gern auch die Eisenbahn. Er interessiert sich weniger für Schmetterlinge oder Feldblumen am Wegesrand; in seinen Notizbüchern hält er vielmehr historische Fakten zu Schlössern, Herrenhäusern, Klöstern, Kirchen oder Parkanlagen fest, aber auch die Geschichten, die ihm ortskundige Bewohner erzählen. Darüber hinaus betreibt Fontane intensive Recherchen zur märkischen Geschichte. Über all dem Historischen und Biografischen bewahrt er sich dennoch den ungetrübten Blick für die Natur. Die Wanderungen bereiten Fontanes späteres Romanwerk vor, sie bilden gewissermaßen ein Reservoir, aus dem der Autor immer wieder schöpfen kann.

Wer sich heute durch Brandenburg oder Berlin bewegt, wird unweigerlich durch eine Fontanestraße fahren oder einen Fontane-Platz überqueren. Selbst Kindertagesstätten oder Seniorenpflegeheime bedienen sich des berühmten Namens. Und Fontane-Apotheken gibt es wie Sand in der märkischen Heide.

Fontane ist aber nicht nur in Brandenburg unterwegs, er reist durch Deutschland, Dänemark, an den Rhein und in die Schweiz. Seine Eindrücke hält er in sechsundzwanzig kleinformatigen Reisetagebüchern fest, die das Tagebuch ergänzen. Als Kriegskorrespondent der Kreuz-Zeitung berichtet er im Mai 1864 von einigen Schauplätzen des Deutsch-Dänischen Krieges und 1866 vom preußisch-österreichischen Krieg in Böhmen.

Nach zehn Jahren bei der Kreuz-Zeitung erhält Fontane 1870 von der renommierten Vossischen Zeitung das Angebot als hauptamtlicher Theaterkritiker. Eigentlich besitzt er keinerlei Theatererfahrung, doch mit seiner unorthodoxen Betrachtungsweise und seinem charakteristischen Plauderton ist er äußerst populär bei den Lesern. Er will nicht akademisch belehren sondern unterhalten. Seine Kritiken sind anschaulich, ungekünstelt und frisch, können aber auch zynisch sein: „Schlecht ist schlecht, und es muss gesagt werden.“ Zwanzig Jahre übt er den „Brotberuf“ des Theaterkritikers aus – meist auf seinem Stamm-Parkettplatz Nummer 23 im Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Fontane ist kein Star-Kritiker, er rezensiert alles – vom Klassischen bis zum Belanglosen. Statistisch gesehen, ist er jeden neunten Tag im Theater und liefert pro Jahr dreißig bis vierzig Kritiken ab.

Im Mai 1876 kündigt Fontane eine feste Anstellung als Erster Sekretär der Akademie der Künste in Berlin, die er erst zwei Monate zuvor angetreten hat. Obwohl er damit – gegen die Hoffnungen seiner Frau – ein dauerhaftes und gesichertes Einkommen ausschlägt, ist die Entscheidung für ihn ein Akt der Befreiung und der Start zur Selbstverwirklichung. Mehr als drei Jahrzehnte abhängig als Journalist und Korrespondent, jetzt an der Schwelle zum Alter, will er den Wunsch von schriftstellerischer Freiheit verwirklichen. Ein mutiger Schritt für den inzwischen Sechsundfünfzigjährigen. Niemand konnte ahnen – am wenigsten er selbst – dass es der Anfang einer beispiellosen Alterskarriere werden sollte.

Fontane wendet sich dem Roman zu. „Ja, der Roman. Er ist in dieser für mich trostlosen Zeit mein einziges Glück, meine einzige Erholung“, äußert er sich in einem Brief. Seiner Passion für Geschichte und dem Publikumsgeschmack folgend, verarbeitet Fontane zunächst historische Stoffe. So spielt sein Erstling Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13 (1878) vor dem Hintergrund der Befreiungskriege gegen die napoleonische Fremdherrschaft. In die Handlung ist ein Portrait der preußischen Gesellschaft eingebettet. Obwohl mitunter mit Tolstoi’s Krieg und Frieden verglichen, wurde Fontanes Roman-Debut jahrzehntelang unterschätzt und erst in letzter Zeit wieder entdeckt. In den beiden Novellen Grete Minde (1880) – einer Tangermünder Chronik nachempfunden – und Ellernklipp – Nach einem alten Harzer Kirchenbuch (1881) greift er noch einmal auf historische Begebenheiten zurück. Beiden Werken gemeinsam ist ihre kriminalgeschichtliche Ausrichtung. Heute werden diese drei Frühwerke als Vorläufer und Zwischenstation zu seinem Spätwerk angesehen.

Zentrales Thema seines Spätwerkes werden Frauenschicksale; wie kein anderer Schriftsteller seiner Zeit rückt Fontane Frauen der preußischen Gesellschaft in den Mittelpunkt der Handlungen. Neben unglücklichen und vom Leben enttäuschten Frauen finden sich auch selbstbewusst handelnde Frauen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Fontane beschreibt die verschiedensten Frauenfiguren: aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, junge und reife Frauen, gefühlsbetont oder intellektuell, mit Schwächen und Stärken – als wollte er die Frauen seiner Zeit und ihre Lebensentwürfe gesamtheitlich erfassen. So tragen einige Romane und Erzählungen bereits als Titel einen Frauennamen – neben Grete Minde noch Cécile (1887), Stine (1890), Frau Jenny Treibel (1893), Effi Briest (1894/95) und Mathilde Möhring (1908, aus dem Nachlass).

Für Frauenschicksale, die mit den bürgerlichen Moralvorstellungen der Zeit in Konflikt stehen, zeigt Fontane ein besonderes Interesse. Mit der jungen Berliner Bankiersgattin Melanie van der Straaten aus dem Roman L’Adultera (1882) schafft er eine emanzipierte Frauenfigur, die allein über ihr Leben und ihre Zukunft entscheidet. Mit dieser Ehegeschichte beginnt Fontanes Hinwendung zur realistischen Gestaltung gesellschaftlichen Lebens seiner Zeit. Motivisch ist L’Adultera eng mit Fontanes späterem und bekannterem Ehebruchsroman Effi Briest (1894/95) verwandt. In Irrungen, Wirrungen (1887) erzählt Fontane von der unglücklichen Liebe zwischen dem adligen Offizier Botho von Rienäcker und der bescheidenen Schneidermamsell Lene Nimptsch. Trotz ihres freudvollen Zusammenlebens können die Standesunterschiede nicht überwunden werden. Das Berliner Sommermärchen muss enden; doch Lene, die sich von vornherein nichts weismacht, zerbricht nicht. „Dann lebt man ohne Glück.“ Schließlich heiratet sie den Fabrikmeister Gideon Franke.

Fontanes Roman Frau Jenny Treibel dagegen ist viel deutlicher und gesellschaftskritischer – halb Komödie, halb Satire zeichnet er ein realistisches Bild der wilhelminischen Gesellschaft Berlins am Ende des 19. Jahrhunderts. Obgleich der Untertitel Wo sich Herz zum Herzen find’t (aus Schillers Das Lied von der Glocke entlehnt) einen Liebesroman suggeriert, findet hier kein Herz zum Herzen. Mit der ehemaligen Tochter eines Kolonialwarenhändlers, der es als junge Frau durch Heirat gelang, zur Kommerzienrätin gesellschaftlich aufzusteigen, stellt Fontane vielmehr das neureiche Spießbürgertum bloß. Am Ende verhindert die Titelheldin auch die unvorteilhafte Heirat ihres jüngsten Sohnes Leopold mit der vermögenslosen Tochter eines verwitweten Gymnasialprofessors. Für Heinrich Mann war Frau Jenny Treibel „das gültige, bleibende Dokument einer Gesellschaft, eines Zeitalters“, mit dem „der moderne Roman für Deutschland erfunden, verwirklicht wurde.“ Wenn man Fontane als Chronisten der preußisch-deutschen Zeit bezeichnet, so ist dies in erster Linie in diesem Roman erkennbar.

Mit seinem Roman Effi Briest, „dem zwei nachfolgende Generationen nichts Ebenbürtiges zur Seite zu stellen haben und mit dem Fontane […] aus der deutschen in die Weltliteratur ragt“ (Thomas Mann 1919), erreicht der Autor auch endlich die Herzen seiner Leser. Nach einer unbeschwerten Jugend wird das siebzehnjährige Landedelfräulein Effi mit dem weitaus älteren Baron von Instetten, dem ehemaligen Verehrer ihrer Mutter, verheiratet. Zunächst freut sie sich auf eine repräsentative Stellung in der Gesellschaft, doch zunehmend fühlt sie sich einsam und isoliert. Sie erliegt den Werbungen eines feschen Majors und lässt sich auf eine Affäre mit ihm ein. Als der Fehltritt nach Jahren ans Tageslicht kommt, beginnt für Effi ein unerbittlich erzwungener Leidensweg: geschieden, als Außenseiterin verfemt und getrennt von ihrer Tochter, die zu dem Vater hält. Zurückgekehrt ins Elternhaus, stirbt sie früh, versöhnt mit ihrem Schicksal. Dieses weibliche Schicksal, das eigentlich zur Freude und Schönheit berufen schien, unterliegt den starren Ehr- und Moralbegriffen der Gesellschaft.

In seinen letzten Lebensjahren erfährt Fontane endlich öffentliche Anerkennung, so erhält er auf Vorschlag von Theodor Mommsen und Erich Schmidt die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Aber vor allem die unerwartete Resonanz von Effi Briest macht ihn bekannt. Fünf Auflagen werden schon im ersten Jahr gedruckt – „der erste wirkliche Erfolg, den ich mit einem Roman habe“, notiert er in seinem Tagebuch. Die Sympathie der LeserInnen überrascht selbst Fontane, denn immerhin begeht seine Titelheldin Ehebruch und wird dafür noch nicht einmal für schuldig erklärt.

Der meisterhaft gestaltete Konflikt seiner weiblichen Figuren mit den starren gesellschaftlichen Konventionen endet bei Effi Briest noch in Resignation. In Mathilde Möhring tritt uns eine junge, aber unattraktive Frau entgegen, die Lehrerin werden will, doch der Tod des Vaters durchkreuzt ihren Wunsch. In dem labilen Jurastudenten Hugo Grossmann sieht „Fräulein Tilde“ die Chance ihres Lebens. Sie verhilft ihm nicht nur zum Bestehen des Examens, sondern auch zu einem Bürgermeisterposten in einer westpreußischen Provinzstadt. Aber das gemeinsame Glück dauert nicht lang, als Hugo überraschend an Schwindsucht stirbt. Mathilde kehrt nach Berlin zurück, wo sie sich als Lehrerin ausbilden lässt, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter bestreiten zu können. Obwohl Fontane den Roman, der erst zwei Jahrzehnte nach seinem Tod erscheint, unvollendet gelassen und nicht zum Druck befördert hat, ist ihm mit der Geschichte vom Aufstieg aus eigener Kraft sein modernster Roman gelungen, der sicher zu seinen Lebzeiten nicht dem Lesergeschmack entsprochen hätte.

Sein letztes Buch Der Stechlin (1899) hat Fontane selbst als politischen Zeitroman bezeichnet. Der stille, sagenumwobene Stechlinsee ist Zeuge des Umbruchs in ein neues Zeitalter: auf der einen Seite das märkische Landleben mit Untertanengeist und Gehorsamkeit, auf der anderen Seite die hektische Metropole Berlin mit Demokratie und persönlicher Freiheit. Für die echten Fontane-Fans ist Der Stechlin der wahre Fontane-Roman, tritt ihnen doch in der Gestalt des altersweisen und liebenswürdigen Majors Dubslav von Stechlin ihr Idol persönlich entgegen. Eine Mischung aus „Autoporträt und Idealbild“ (Marcel Reich-Ranicki). Als märkischer Junker betrachtet er die Veränderungen, die da draußen in der neuen Welt vonstattengehen.

Am Ende des Romans stirbt Dubslav von Stechlin. Dass es ans Sterben geht, weiß auch Fontane. Als er am 20. September 1898 stirbt, liegt auf seinem Schreibtisch eine Liste mit den Empfängern für die Belegexemplare des Stechlins. Es ist an alles gedacht. Vier Tage später wird er auf dem Friedhof der Französischen Reformierten Gemeinde beerdigt. Seine Emilie soll, als sie an den Sarg ihres Mannes tritt, bekräftigt haben: „Es war doch ein schönes Leben mit ihm, und ich würde gleich noch einmal beginnen.“ Sie überlebt ihn keine vier Jahre (18. Februar 1902) und wird an seiner Seite beigesetzt.

Neben den zahlreichen Publikationen, die zum diesjährigen Fontane-Jubiläum erschienen, sind auch zwei Neuerscheinungen, die sich Fontanes Frauen widmen. Nicht den Frauenfiguren aus seinen Romanen, sondern u.a. den Frauengestalten, denen er auf seinen Wanderungen in der Mark Brandenburg begegnete. In dem fünfbändigen Monumentalwerk überwiegen zwar die Männer mit ihren Biografien – vom preußischen General bis zum „hochkirchlichen Bischof“, dennoch findet man auch etliche liebenswerte Frauenporträts. In Wundersame Frauen stellen Gabriele Radecke und Robert Rauh elf interessante weibliche Lebensbilder aus dem Land der „tüchtigen Kerle“ (so Fontane über die Mark Brandenburg) vor. Die Auswahl reicht von der Königin Luise von Preußen (1776-1810) über die Schauspielerin Rachel Félix (1821-1858) bis zur adligen Agrarpionierin Helene Charlotte von Friedland (1754-1803). Eine besondere Rolle nimmt Mathilde von Rohr (1810-1889) ein; mit dem adligen Stiftsfräulein verband Fontane eine über drei Jahrzehnte andauernde Freundschaft, was ihre Korrespondenz mit über zweihundert erhaltenen Fontane-Briefen bezeugt. Mathilde versorgte Fontane außerdem mit zahlreichen Informationen zu märkischen Adelsgeschlechtern. Fontanes Originaltexte werden von den beiden Herausgebern mit begleitenden Kommentaren ergänzt, die weitere zusätzliche Informationen liefern.

Die Schriftstellerin Dagmar von Gersdorff dagegen beleuchtet in Vaters Tochter die Beziehung von Theodor Fontane zu seiner Lieblingstochter Martha, genannt Mete. Nach fünf Söhnen, von denen nur zwei am Leben geblieben waren, endlich eine Tochter. Und die Kleine gedieh prächtig. Trotzdem schickte man die sensible Zehnjährige zu Bekannten nach London, wo sie ihre Sprachkenntnisse verbessern sollte. Nach ihrer Rückkehr besuchte sie eine private Mädchenschule und absolvierte schließlich eine Ausbildung als Lehrerin an Mittleren und Höheren Lehranstalten. Danach fand sie als Gouvernante verschiedene Anstellungen, doch so richtig konnte sie im Beruf nicht Fuß fassen. Auch die Heiratsabsichten der „Tochter aus gutem Hause ohne Mitgift“ erfüllten sich nicht, dazu gesundheitliche Krisen und Depressionen. Mete kehrte ins Elternhaus zurück und stand dem alternden Vater zur Seite. Nach dessen Tod heiratete sie einen vermögenden Witwer. Noch 17 Jahre Eheleben in Waren, wohin das ungleiche Paar gezogen war. Sie starb 1917 auf bislang ungeklärte Weise. Ein Balkonsturz soll die Ursache gewesen sein. Ein Suizid?

In ihrer einfühlsamen und mit zahlreichen historischen Abbildungen ausgestatteten Biografie beschreibt von Gersdorff die zerrissene Existenz von Fontanes Tochter, die auch seine Vertraute und wichtigste literarische Gesprächspartnerin war und die wir in Romanen wie Effi Briest, Frau Jenny Treibel und im Stechlin wiederfinden. Einst klagte Mete ihrem Vater gegenüber: „Ich bin nicht unzufrieden … aber ich habe das Gefühl eines Menschen, der Klavier spielen kann, aber kein Klavier hat.“ So resümiert von Gersdorff am Ende: „Es war ihre Tragik, nicht das geworden zu sein, wozu sie veranlagt war.“

In der Fülle der aktuellen Fontane-Neuerscheinungen ragt die neu edierte Prachtausgabe von Effi Briest des S. Fischer Verlages heraus. Sie wurde von dem Buchkünstler Jörg Hülsmann aufwändig gestaltet, illustriert und interpretiert. Mit geprägtem Ganzleineneinband, in Fadenheftung, einem Lesebändchen und einem farbigen Schuber genügt die Ausgabe höchsten Ansprüchen, die bei bibliophilen Fontane-Freunden sicher großen Anklang finden wird – besonders ein Exemplar der limitierten, nummerierten und signierten Vorzugsausgabe mit einer Originalgraphik von Jörg Hülsmann (Auflage 300 Exemplare). Versehen ist die klassische Buchkunst außerdem mit einem umfangreichen Nachwort von Helen Chambers. Die englische Literaturwissenschaftlerin gibt darin einen Überblick zur Entstehung von Effi Briest. Fontane wurde zu dem Roman von einer realen Ehebruchsgeschichte angeregt. Das Vorbild für die Romanfigur, eine gewisse Elisabeth von Ardenne (1853-1952), starb jedoch nicht wie Effi vor Einsamkeit, sondern erreichte ein hohes Alter von 98 Jahren. Über den Romantitel stellt Chambers ebenfalls Überlegungen an, da „Effi“ im Deutschen kein üblicher Name ist. Hatte Fontane als begeisterter Walter-Scott-Leser den Namen von dessen Roman-Figur „Effie Deans“ (aus Heart of Midlothian) entliehen? Auch „der Anklang an „Eva“ mit seiner Andeutung des Sündenfallmotivs“ wäre denkbar. Kurz streift Chambers den Entstehungsprozess vom ersten Entwurf im Jahr 1890 über zahlreiche Überarbeitungen und Korrekturen bis hin zur endgültigen Fassung im Frühjahr 1894.

Seit Beginn des Jahres lieferten zahlreiche Hörverlage ebenfalls einen beachtlichen Beitrag zum Fontane-Jubiläum (literaturkritik.de, Heft 5/2019). Nun hat Der Audioverlag aus den Archiven noch eine Lesung von Effi Briest mit Gert Westphal (1920-2002) ausgehoben, eine SWF-Produktion (heute: SWR) aus dem Jahr 1972. In der Verlagsedition „Große Werke. Große Stimmen“ erschien aus dieser Produktion eine gekürzte Lesung (7h 32 min) auf einer mp3-CD. Der Schauspieler und Sprecher Gerd Westphal gilt heute immer noch als der große Fontane-Interpret, der fast alle Werke des Romanciers eingelesen hat – auch hier mit viel Einfühlungsvermögen, feiner Ironie und großartiger Interpretationsfähigkeit.

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Theodor Fontane: Wundersame Frauen. Weibliche Lebensbilder aus den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“.
Mit einem Nachwort und Erläuterungen herausgegeben von Gabriele Radecke und Robert Rauh.
Manesse Verlag, München 2019.
188 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783717525004

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Dagmar von Gersdorff: Vaters Tochter. Theodor Fontane und seine Tochter Mete.
Mit zahlreichen Abbildungen.
Insel Verlag, Berlin 2019.
198 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783458364306

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Theodor Fontane: Effi Briest. Illustrierte Neuausgabe.
Mit einem Nachwort von Helen Chambers. Illustriert von Jörg Hülsmann.
(Limitierte und signierte Vorzugsausgabe mit einer Originalgraphik).
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
381 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974720

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Theodor Fontane: Effi Briest. Lesung mit Gert Westphal.
Der Audio Verlag, München 2019.
1 mp3-CD, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783742409546

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