Zwischen Blutvergiftung und Stockholm-Syndrom

Simone Buchholz’ taffe Anwältin Chastity Riley muss in „Hotel Cartagena“ zum bereits neunten Mal viel riskieren

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Chastity Riley, Simone Buchholz’ unangepasste Heldin in numehr bereits neun Romanen – vier davon zuletzt im Suhrkamp Verlag –, ist, wie die Hamburger Anwältin selbst im Laufe ihres neuen Abenteuers Hotel Cartagena zugeben muss, „der eher unübersichtliche Typ Frau“. Deshalb kommt sie wohl auch besser bei ihrem zwar kleinen, dafür aber umso exzentrischeren Freundeskreis an als bei ihren Vorgesetzten in der Justizbehörde. Zusammen mit Freunden befindet sie sich auch in der im obersten Stockwerk gelegenen Hotelbar des hansestädtischen River Palace Hotels, als zwölf schwerbewaffnete Männer mit der festen Absicht, sofort Schluss zu machen mit der Partystimmung, das noble und so gar nicht zu Chastity passende Etablissement stürmen.

Kurz darauf melden die Medien eine Geiselnahme am Hamburger Hafen, woraufhin polizeilicherseits aufgefahren wird, was aufgefahren werden muss in solchen Fällen. Nur der schwer in Chastity verliebte LKA-Mann Ivo Stepanovic, mit dem sie seit ihren letzten beiden Fällen zusammenarbeitet, hat sich etwas verspätet. Und so sitzt er nicht wie die anderen oben im Restaurant des Hotels, sondern sorgt sich unten vor der Tür um die Frau, die mit einem in feucht-fröhlicher Runde seinen 65. Geburtstag feiernden alten Freund aus Polizeikreisen und drei Dutzend anderen Gästen der Willkür eines Gangsters ausgesetzt ist, dem es, wie sich schnell herausstellt, nicht um Geld, sondern um Rache geht.

Hotel Cartagena wiederholt ein Erzählmuster, das schon im letzten Chastity-Riley-Roman Mexikoring (2018) wunderbar funktionierte. Denn während sowohl die vor dem Hotel versammelten Einsatzkräfte – den uneingeladen dort herumstehenden Stepanovic hat man kurzerhand den „Verhandlern“ zugeteilt – als auch die meisten der von den Geiselnehmern im 20. Stockwerk festgesetzten Gäste noch rätseln, worauf es wohl bei der penibel geplanten Aktion am Ende hinausläuft, weiß der Leser dank der parallel erzählten Geschichte des Henning Garbarek längst mehr.

Den jungen Mann ohne große Zukunftsaussichten hatte es Mitte der 1980er Jahre aus Hamburg per Schiff ins kolumbianische Cartagena verschlagen. Mit etwas Glück und einem Drogenboss, der seinen Stoff in Hennings alte Heimatstadt exportieren wollte und dazu die entsprechenden Mittelsmänner brauchte, machte er schnell Karriere – und besaß auf einmal alles, wovon er je geträumt hatte: eine kleine, sehr gut laufende Bar, eine begehrenswerte, schöne Frau, mit Letzterer ein gemeinsames Kind und last but not least jede Menge auf nicht ganz saubere Weise verdientes Geld.

Aber das Hamburger Geschäft flog auf und bald musste Garbarek fliehen, weil auch sein nächster Coup mit einem undurchsichtigen Typen aus Miami nach hinten losging. Am Ende verlor er alles: Frau und Kind, Bar und Geld und beinahe auch sein Leben. Nur der Gedanke, sich an dem „initialen Aschloch“, mit dessen Aussagen bei der Hamburger Polizei der Niedergang des kleinen Garbarek-Imperiums seinen Anfang nahm, zu rächen, hielt ihn noch lebendig. Er führte ihn zurück in die alte Heimat und ausgerechnet an dem Tag hinauf unters Dach des River Palace Hotels, als Chastity Riley dort in vertrauter Gesellschaft – darunter zwei Ab-und-zu- bzw. Ex-Lover der Anwältin, was ein bisschen Spannung in die Runde zu bringen verspricht – ihren alten Kollegen Faller und dessen endgültigen Abschied aus dem Polizeidienst feiern will.

„Zu viele Waffen, zu viele Männer in Anzügen. Wenn man es genau nimmt, ist die Situation nicht beschissener als überall sonst auf der Welt“, heißt es, als sich die Geiselnahme langsam auf ihren finalen Knall zubewegt, der diesmal besonders heftig ausfällt. Aber weil Simone Buchholz’ herrlich unbefangene Heldin schnell bemerkt hat, dass sich die Geiselnehmer eigentlich nur für einen Gast, den von Anfang an äußerst unsympathisch wirkenden Hamburger Geschäftsmann Konrad „Conny“ Hoogsmart, wirklich interessieren, wird sie immer lockerer, ja kann sich irgendwann sogar vorstellen, sich mit dem Anführer der zwölf, den sie für sich „Nummer eins“ getauft hat, auf eine kurze Affäre einzulassen. Ob es sich bei diesem Gedanken um Auswüchse des Stockholm-Syndroms handelt oder Chastitys zunehmende, auch stilistisch zu Buche schlagende Fiebrigkeit als Folge einer Blutvergiftung, die sie sich zugezogen hat, als sie eine Ananasscheibe vom Glasrand einer Piña Colada entfernen wollte und sich dabei den Daumen ritzte, dafür ursächlich ist, bleibt letztlich ungeklärt.

Formensprachlich hat Simone Buchholz auch diesmal wieder eine Menge in die knapp 200 Seiten hineingepackt. Das reicht von imaginären Reden, in denen die Figuren, die in und für Rileys Leben von Bedeutung sind, dem Leser vorgestellt werden, über geschickt mit der Gegenwartshandlung verwobene Rückblicke auf Aufstieg und Fall des Henning Garbarek bis zu fast lyrisch anmutenden Textpassagen, in denen die Autorin einen „Gefangenen-” und einen „Geiselnehmerchor“ gegeneinander antreten lässt. Dass Buchholz wie keine zweite deutsche Spannungsautorin wunderbar coole Dialoge schreiben kann und viele der Reflexionen Chastity Rileys jedes moderne Poesiealbum mit ihrem Witz bereichern würden, muss inzwischen kaum noch betont werden. Aber Felix „Quälix“ Magath und Frankfurts Fußballgott Alex Meier gemeinsam auf einer einzigen Buchseite unterzubringen – das soll ihr doch erst einmal jemand nachmachen. 

Titelbild

Simone Buchholz: Hotel Cartagena. Kriminalroman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
229 Seiten, 15,95 EUR.
ISBN-13: 9783518470039

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch