Eingreifendes Denken in finsteren Zeiten

Der Philosoph Frieder Otto Wolf umreißt Interventionsfelder eines modernen und praktischen Humanismus

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Humanisten – nennen sich so nicht jene komischen alten weißen westlichen bildungsbürgerlichen Männer, die einst im Gymnasium außer Latein auch Altgriechisch, die Sprache von Odyssee und Neuem Testament, radebrechen gelernt haben und darum stolz zu raunen pflegen: „andra moi ennepe musa“, „en archē ēn ho logos“ und andere Merseburger Zaubersprüche? Einen erfrischend anderen Humanismus als diesen abgestandenen artikuliert das neue Buch von Frieder Otto Wolf. Es besteht aus einer umfangreichen Sammlung von Aufsätzen und Reden, Stellungnahmen und Interviews. Sie bilden, gemäß den Aktionsfeldern des Autors als akademischer Philosoph (Prof. an der FU Berlin), Politiker (langjährig im Europa-Parlament Abgeordneter der Grünen, als es unter diesen noch Linke gab) und Spitzenmann im Humanistischen Verband (HVD), eine nach Themen, Formen und Anlässen weite Palette.

Zwei Grundzüge sehe ich diese vielfältigen Texte verbinden. Der eine ist bereits im Titel des Buches mit dem Begriff der Intervention benannt. (Der Untertitel dagegen ist fast nichtssagend.) Dieser bedeutet nicht einfach das Eintreten in eine bestimmte Debatte, sondern ist zugespitzt im Sinne von Bertolt Brechts Formel „eingreifendes Denken“ gemeint, die wiederum den Imperativ des jungen Karl Marx aufgreift, Philosophen sollten mit ihren Interpretationen dazu beitragen, die gesellschaftliche Welt zu verändern. Wolf gehört wie zum Beispiel auch, allerdings aus ganz anderer philosophischer Richtung kommend, Georg Meggle (Philosophische Interventionen, 2011) zu den leider nur wenigen Philosophen, die, im Gegenzug zum vorherrschenden Fachidiotismus, -konformismus und -karrierismus, ihr Denken als Angebote für gesellschaftsverändernde Praxis artikulieren.

Den Humanismus versteht er somit nicht nur als Fortführung einer bestimmten geistigen Tradition: Antike – Renaissance – Aufklärung, und als Weltanschauung einer teilweise organisierten, jedoch offenen und heterogenen Gruppe, sondern vor allem als einen „praktischen Humanismus“: mit konkreten Denk-Angeboten und Eingreif-Appellen für die gegenwärtige Gesellschaft. In sich selbst vielstimmig, bleibt er nicht bei bloßer Negation von Inhumanität stehen, sondern bringt sich ein in die öffentliche, solidarische „Deliberation“ (Beratung) über Wege aus der Fremdbestimmung der Menschen zu ihrer Befreiung und aus den großen globalen Krisen, die heute nicht nur die Menschlichkeit, sondern die Menschheit selbst bedrohen.

Der andere Grundzug des Buches ist nicht auf den ersten Blick erkennbar und auch nicht an den Überschriften seiner vier Teile ablesbar. In diesen stellt der Autor Humanismus „als Bekenntnis“ vor, und zwar in Absage an postmodernen Kult der Beliebigkeit ebenso wie in Konkurrenz zu religiösen Bekenntnissen (1), reiht er humanistische „Kritiken und Polemiken“ auf sehr verschiedenen Ebenen auf (2), umreißt er „Interventionsfelder“ (3) und Programmatik eines „praktischen Humanismus für das 21. Jahrhundert“ (4). Hiermit greift er den Titel seines gleichnamigen Buches von 2008 auf, zu dessen systematischer Darstellung das neue Buch eine gute Ergänzung bietet. Dessen zweiter Grundzug besteht in philosophischer, historischer und politischer Auseinandersetzung mit Religion(en) und mit der Stellung der sie tragenden Organisationen, namentlich der Kirchen, in einer modernen, demokratischen, aufgeklärten, kulturell pluralistischen Gesellschaft. Die Art, wie der Autor diese Auseinandersetzung führt, ist bemerkenswert behutsam: Glasklare und einleuchtende Religionskritik verbindet er mit offener, besonnener Kooperationsbereitschaft. Mit wem konkret aber zu kooperieren ist besonnen und mit wem nicht, wenn man zum Beispiel die schnöde Absage an die „säkularen“ SPD-Genossen durchdenkt, die kürzlich ein Partei-Boss verzapft hat (vgl. Gisa Bodenstein im hpd vom 25.03.2019) und die zugleich eine heimliche, aber typische Anbiederung bei den Kirchen-Bossen ist?

Glasklar und einleuchtend ist beispielsweise die Kritik Wolfs an der CDU-Staatsministerin für Kultur und Medien, die fromm, verfassungswidrig und skandalös öffentlich geäußert hatte, ungetaufte Schüler*innen litten an „kultureller Unbehaustheit“. Sie war damit zumindest implizit der retrospektiven, reaktionären Fiktion eines ‚christlichen Europa‘ gefolgt. Nur wer auf derart antidemokratische Weise religiös denkt, „verzapft solchen Mist“ wie Monika Grütters – so urteilt Wolf und hält ihr die Reform-Initiativen von Papst Franziskus beschämend vor Augen, an den er 2014 als Präsident des HVD einen von der Deutschen Bischofskonferenz dann veröffentlichten Brief geschrieben hatte, der jetzt auch in seinem Buch nachzulesen ist.

Nicht so einleuchtend kommt mir die Kritik Wolfs an Jürgen Habermas vor: Während dieser zu Recht erkläre, weder Wissenschaft noch Metaphysik könne die heute bedrängenden Sinnfragen der Menschen beantworten, behaupte er zu Unrecht, dafür müssten diese auch auf Angebote der Religionen zurückgreifen. Aber plädiert Habermas nicht genau in der Richtung, in der auch Wolf humanistische Sinnpotenziale aus den Religionen kooperativ und deliberativ zum Zweck eines möglichst breiten Konsenses einbeziehen möchte in die auf Veränderung der Gesellschaft gerichtete „herrschaftsfreie Kommunikation“ (Habermas), „Wahrheitspolitik“ (Alain Badiou) oder in das „Palaver der Menschheit“ (Wolf)?

Einleuchtend wiederum ist dagegen Wolfs glasklare Zurückweisung der Parole eines evangelischen Kirchenfunktionärs (Wolfgang Huber): „Keine Moral ohne Gott“: Damit artikuliere dieser völlig unbegründete religiöse Hegemonie-Ansprüche. Ebenso einleuchtend ist seine Kritik an Religion, sofern diese zu Unmündigkeit oder Ausgrenzung führt, und an den Kirchen, solange sie auf ihre undemokratischen, ja verfassungswidrigen Privilegien infolge der ‚Kirchenklausel‘ (§ 9 AGG) nicht verzichten. Dennoch sollte – so Wolf – ein säkularer Staat einen „kooperativen Laizismus“ betreiben und ein religionsfreier Humanismus, wie er ihn vertritt, sich offen halten auch für „religiöse Humanismen“ nicht nur im Christentum – von herrschaftskritischen Propheten Alt-Israels über lateinamerikanische ‚Befreiungstheologie‘ bis zu linken Theologen wie Ton Veerkamp oder – wie sich ergänzen ließe – Franz Segbers, dem – vom herrschaftsaffirmativ konformistischen kirchlichen Mainstream permanent verdrängten – „Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands“, dem internationalen Netzwerk „Engagierter Buddhisten“ oder der Bewegung „Antikapitalistischer Muslime“.

Demzufolge ist natürlich auch gegenüber dem Islam eine solche Offenheit angebracht – im Gegenzug zu der verbreiteten Islamfeindlichkeit, wie sie zum Beispiel auf intellektuell höchst unredliche Weise – das zeigt Wolf – der „Menschenfeind“ Thilo Sarrazin artikuliert. Diese Offenheit schließt Kritik keineswegs aus, wie der Autor gegenüber dem muslimischen Theologen Khorchide darlegt, wenn dieser seinerseits einen offenen, humanistischen Islam vertritt: Gegenüber solch einem mystisch-theozentrischen „Erleuchtungshumanismus“, wie man ihn schon im Sufismus oder bei Meister Eckhart findet, ist aus der Sicht eines „Aufklärungshumanismus“, vor allem aus der eines modernen praktischen Humanismus, Skepsis angebracht. Aber nicht ohne Skepsis dürfte Wolf auch die Position eines ‚aufgeklärten Islam‘ ansehen, wie sie zum Beispiel Lale Akgün in ihrem übrigens sehr lesenswerten Buch Platz da! Hier kommen die aufgeklärten Muslime vertritt, wenn dabei Religion tendenziell nur zur Privatsache erklärt wird. Denn auf diesem Wege macht man den „muslimischen Massen“ keine „tragfähige Hoffnung auf ein besseres Leben“, die sie „gegen ihre Instrumentalisierung durch religiöse Fundamentalisten“ immun machen könnte.

Neben dem dominierenden Schwerpunkt einer produktiven philosophischen Auseinandersetzung mit Religion(en) behandelt das Buch unter der spezifisch Wolfschen Konzeption des eingreifenden Humanismus noch eine Reihe weiterer Themen: Wichtig ist seine Auseinandersetzung mit einem heute allzu zeitgemäßen „Transhumanismus“ in einigen Wissenschaften, der die ohnehin schon vorherrschende individualistische Perspektive der „Selbstoptimierung“ blind affirmiert – ohne jede Sensibilität für die gesellschaftlichen Verhältnisse von Ungleichheit und Abhängigkeit. Ebenso wichtig sind die Argumente zu Rassismus und Neo-Rassismus (d.h. ohne das längst als reine Ideologie widerlegte biologische Rassenkonzept), zu dem Menschenrecht auf ein selbstbestimmtes und würdiges Lebensende und zur Aktualität der Friedensbewegung – diese exemplarisch vorgeführt am „Fall Libyen“. Wie Georg Meggle bereits 2011 an den Jugoslawien- und den Nahostkriegen schlüssig nachgewiesen hat, ist das, was namentlich die USA und die mit ihnen verbündeten europäischen Mächte zynisch als ‚humanitäre Intervention‘ ausgegeben haben, aus der Sicht humanistischer Intervention in Wahrheit reine Barbarei.

Insofern ist der Humanismus auch ein Pazifismus. Er ist gleichfalls ein Feminismus, da seine Leitziele eine emanzipatorische Erneuerung der Geschlechterverhältnisse, also den weiteren Abbau des Patriarchats, einschließen. Ebenso ist der Humanismus – bei Wolf sogar vor allem – auch ein Sozialismus, denn das grundlegende soziale Menschenrecht ist die „gleiche Freiheit für alle“, die angesichts der weltweiten Polarisierung zwischen Armen und Reichen immer mehr in die Ferne rückt. In diesem Zusammenhang erinnert Wolf kritisch an den neoliberal-kapitalistischen Sozialstaats-Abbau in Deutschland von Schröder bis Merkel, den die UNO bereits 2011 gerügt hatte. Für solch einen praktischen, politischen, gesellschaftskritischen Humanismus gelte weiterhin – so Wolf – der von Marx formulierte Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.

Wie die Inklusion der feministischen so wird auch die der ökologischen Kritik und Bewegung in einen praktischen Humanismus wiederholt angedeutet: Die Menschenwelt ist in eine Biosphäre eingebettet, der Mensch als ein biologisches und naturgeschichtliches Wesen steht der Natur also nicht ‚ontologisch gegenüber‘, vielmehr missbraucht die Menschheit das „große „Geschenk“, das die Natur ihr gemacht hat, heute verhängnisvoll. Darum erstrebt praktischer Humanismus mit Kritik an jedem Anthropozentrismus, wie sie jüngst auch der Philosoph Wolfgang Welsch (Wer sind wir?), wenn auch mit konservativ-esoterischem Zungenschlag, geübt hat, eine Auflösung des Widerstreits ebenso zwischen Mensch und Natur wie zwischen Mensch und Mensch (Marx).

In beiden Büchern Wolfs zum Humanismus für das 21. Jahrhundert finde ich zwei Bereiche zwar jeweils ganz kurz angesprochen, aber bedauerlicherweise überhaupt nicht ausgeführt. Der eine ist die Kunst in Gegensatz zu und in Verflechtung mit der Kultur-, Bewusstseins-, Sinn- und digitalen Industrie. Was der Autor an Habermas kritisiert: Aussparung der „produktivsten und ‚demokratischsten‘ Instanz menschlicher Sinnproduktion“, der Kunst, das trifft auch ihn selbst. Der andere ist der weite, vielfältige Bereich, der „Praktiken des Sich-Sammelns und des Sich-Besinnens“ einschließt und sich mit Stichwörtern wie „Weisheit“, (nicht-elitäre, -individualistische, -konsumistische) „Lebenskunst“, (nicht-religiöse) „Spiritualität“, „Meditation“ andeuten lässt – ein weltweites, transkulturelles, reichhaltiges und kostbares humanistisches Erbe. So hat zum Beispiel Heiner Roetz den konfuzianischen Humanismus bei Mengzi, Tang Junyi und Tu Weiming überzeugend herausgestellt. Also auch ‚interkulturelle‘ Offenheit gehört zweifellos zu den Tugenden eines offenen, vielstimmigen, ‚dezentrierten‘ praktischen Humanismus, für den Wolf plädiert. Der Philosoph Thomas Metzinger (Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit, 2014), der dafür eintritt, dass Meditation schon in den Schulen gelernt und praktiziert wird, stellt die genuin humanistische Forderung auf, kritisches, eingreifendes Denken und intellektuelle Redlichkeit mit Spiritualität und Weisheit zu verbinden.

Eine andere, aber sehr zentrale Frage sei wenigstens angeschnitten: Sie bezieht sich auf die für Wolfs Denken charakteristische Kombination von Humanismus und ‚radikaler Philosophie‘, der er zwei umfangreiche Bücher gewidmet hat (Radikale Philosophie, 2002; Rückkehr in die Zukunft – Krisen und Alternativen, 2012). Da er Humanismus als einen nicht-elitären und -exklusiven, vielmehr kritischen und emanzipatorischen, also eminent politischen versteht, als radikale „Kritik an bestehenden, als solchen inhumanen Herrschaftsverhältnissen“ (F.O. Wolf: Humanität, in: Hubert Cancik u.a.: Humanismus: Grundbegriffe, 2016), ist dieser bei ihm vor allem mit linker Politik verbunden, mit Sozialismus in weitem, undogmatischem, aber doch um das marxistische Erbe zentriertem Sinne. Nun weist der Autor, leider mit Recht, nicht nur auf die gegenwärtige Krise des Humanismus selbst hin, dem „der Sturm der Zeit“ ins Gesicht wehe, sondern vor allem auf die geballte globale Krisenzuspitzung, mit der aktuellen Gefahr einer Weltkriegs- und der künftigen einer ökologischen Katastrophe, und auf das Versagen der meisten Politiker, Wissenschaftler, Medien angesichts dieser beiden Gefahren. Aber wie soll man dann, anstatt in „linke Melancholie“ (Enzo Traverso) zu verfallen, einen „praktischen Humanismus“ konkret praktizieren?

Denn wir leben augenblicklich ja „in schweren Zeiten demokratischer und emanzipatorischer Rückschläge“. So scheinen die vielen einleuchtenden politischen Postulate, die Wolf aufstellt, angesichts der bedrückend stagnierenden oder sogar gezielt und zynisch menschenfeindlichen realen Politik ins Leere zu laufen – ähnlich wie die ebenso einleuchtenden politischen Forderungen, die, allerdings auf der Grundlage einer recht anderen, betont postmarxistischen Sozialismus-Version, Axel Honneth erhoben hat (Die Idee des Sozialismus, 2017). Honneth versucht das „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch) mit Immanuel Kants „Geschichtszeichen“ zu beschwören: emanzipatorischen Errungenschaften der Vergangenheit (z. B. durch Arbeiter-, Frauen-, Bürgerrechtsbewegungen), die ebensolche für die Zukunft erhoffen lassen. Wolf erklärt, radikale Philosophie und praktischer Humanismus brauchten „Stützpunkte und Bündnispartner in Wissenschaft, Politik und den ‚schönen Künsten‘, in den sozialen Bewegungen und innerhalb aller Öffentlichkeiten“. Aber wer konkret sind diese Stützpunkte und Bündnispartner? Und wo konkret sind sie gemeinsam mit Humanist*innen erfolgreich am Werk, Hoffnung, Mut und Freude machend? Um das zu beantworten, bedürfte es wohl eines weiteren Buches von Frieder Otto Wolf.

So lange, bis das erschienen sein wird, mag sich der Rezensent, der wie der Rezensierte unfreiwillig und unabänderlich zu den eingangs erwähnten alten Humanisten zählt, daran freuen, dass schon der alte Philosoph Protagoras humanistisch für „aidōs“ und „dikē“, Respekt und Gerechtigkeit, plädiert hat (Frieder Otto Wolf: Humanismus und Philosophie vor der westeuropäischen Neuzeit, 2003) oder dass sich Cicero und Seneca des Weisheitsspruchs bedienten: „homo sum, nil humani a me alienum puto“. Oder doch lieber aus Brechts Gedicht An die Nachgeborenen zitieren? „Ich wäre gerne auch weise. / In den alten Büchern steht, was weise ist: / Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit / Ohne Furcht verbringen / Auch ohne Gewalt auskommen […] Alles das kann ich nicht: / Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“

Titelbild

Frieder Otto Wolf: Humanistische Interventionen.
Alibri Verlag, Aschaffenburg 2019.
324 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783865692917

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch