Furioses Diskurs-Feuerwerk

Schon in ihrem nachträglich veröffentlichten Debüt stellt Nell Zink ihr überschäumendes kluges Erzähltalent unter Beweis

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrem ornithologisch grundierten Ehe- und Entwicklungsroman Mauerläufer und ihrem Patchworkfamilien- und Hausbesetzer-Roman Nikotin fand die Amerikanerin Nelli Zink hierzulande viel Beachtung als frische, originelle Stimme in der Literatur. Nun hat ihr deutscher Verlag auch das bereits 2015 im Original erschienene Debüt der in Kalifornien geborenen und heute in Deutschland lebenden Autorin nachgeschoben. In Virginia zeigt Zink bereits ihr ganzes kluges Erzähl-Potenzial, gerät aber mehrfach in Gefahr, sich in ihren überschäumenden Verzweigungen und Verwicklungen zu verlieren.

Virginia ist in den 1960er Jahren in der amerikanischen Provinz angesiedelt. Die Protagonistin Peggy Vallaincourt fühlt sich schon früh zu Frauen hingezogen. Zum Studienanfang am Frauencollege Stillwater „ließ sie sich die Haare kurz schneiden und fing an Zigarillos zu rauchen“. In Stillwater lernt sie den schwulen und aus reichem Haus stammenden Lyrik-Dozenten Lee Flemming kennen. Er veranstaltet in seinem Haus am See regelmäßige Treffen mit berühmten (Beat-)Dichtern aus New York und gibt die Literaturzeitschrift Stillwater Review heraus. Peggy und Lee verlieben sich, heiraten und bekommen zwei Kinder. Doch die Ehe ist für Peggy eine große Enttäuschung, da Lee ein patriarchalischer Macho und notorischer Fremdgänger ist: „Er bekam alle Liebe der Welt und sie bekam nichts.“ Als Lee Peggy mit der Einweisung in ein Irrenhaus droht, flieht sie mit ihrer Tochter Karen in einen verlassenen Landstrich Virginias. Hier leben die beiden dann mit falscher Identität als Schwarze in einem heruntergekommenen Haus ohne Strom- und Wasseranschluss. Später steigt Peggy ins Drogengeschäft ein und ermöglicht Karen, die sich mit dem genialisch veranlagten Temple verbandelt hat, den College-Besuch.

Zink liefert auf den ersten 100 Seiten ihres Romans eine furiose und ebenso spöttische wie kluge Abrechnung mit den auch heute noch aktuellen Gender- und Diversity-Diskursen ab. Sie wirbelt die sexuellen und kulturellen Identitäten durcheinander und führt lustvoll ihre Widersprüche und grotesken Ausformungen vor Augen. Bei alldem ist sie aber auch eine packende und gefühlvolle Erzählerin, die nah an ihren Figuren dran ist und diese nie vorführt.

Im Verlauf des Romans, in dem Zink neben dem Lebensverlauf von Peggy und Karen auch immer wieder den von Lee und ihrem gemeinsamen Sohn Byrdie einblendet, verzettelt sich die Autorin jedoch ein wenig in den vielfältigen Ent- und Verwicklungen und gleitet ins – intellektuell immer noch beeindruckende und zuweilen hochkomische – Episodenhafte ab. Zum Schluss schnürt sie die Fäden unter dem Zufallsprinzip wieder zusammen und kommt beinahe zu einem Happy End. Ihre Protagonistinnen brechen aus ihren angenommenen schwarzen Identitäten aus und zu neuen Ufern auf. Karen zeigt sich völlig  zufrieden mit ihrem neuem Leben und resümiert vielsagend: „Es ist zwar verwirrend, aber auch aufregend. Ich meine, ich bin froh als Schwarze aufgewachsen zu sein, weil das cooler ist, aber das Sagen haben ja eindeutig die Weißen.“

Titelbild

Nell Zink: Virginia. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Kellner.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019.
318 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498076726

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