Sterbliche Tierseelen

Zur deutschen Erstübersetzung von Étienne Bonnot de Condillacs „Traité des Animaux“

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine unbekannte Größe

Obwohl Étienne Bonnot de Condillac (1714–1780) eine schillernde Gestalt der französischen Aufklärungsphilosophie war und sogar einige heutige Philosoph*innen hinsichtlich seiner komplexen, offenen Einstellung gegenüber dem Mensch-Tier-Verhältnis übertrifft, ist sein Name verglichen mit denen seiner Fachkollegen nahezu unbekannt. John Locke und René Descartes kennen wir und viele können auch deren zentrale Gedanken zusammenfassen. Mit Condillac verhält es sich anders. Nicht nur ist es um die Sekundärliteratur zu seinem Werk schlecht bestellt, sondern es sind auch manche seiner Arbeiten nie oder erst Jahrhunderte später übersetzt worden.

So ist auch erst vor Kurzem die deutsche Erstübersetzung seines Traité des Animaux (1755) erschienen, dessen Titel von Vanessa Kayling aus gutem Grund nicht mit „Abhandlung über die Tiere“, sondern allgemeiner mit Abhandlung über die Lebewesen übersetzt wird: Condillac gehörte zur empirisch-sensualistischen Linie der französischen Aufklärung und grenzte sich sowohl von dem extremen Materialismus wie auch von der vollständigen religiösen Vereinnahmung der Philosophie zugunsten anthropozentrischer Dogmen ab. Dass dies nicht immer ganz gelingt, lesen wir in Kaylings wortgetreuer und trotzdem flexibler Übersetzung sowie in ihrem kompetenten Kommentar. In die Komplexität des Traktats kann in der vorliegenden Rezension nur ein Einblick gewährt werden. Kaylings Übersetzung ist vor allem aufgrund der Genauigkeit und der geistreichen Kommentare zu empfehlen. Daneben gewinnen wir Einblicke in Briefe und Korrespondenzen Condillacs.

Kayling führt die Lesenden nicht nur mit einer ausführlichen Darlegung der übersetzten Theoreme ein, sondern leitet auch in die relevanten Bereiche ein, die für das Verständnis Condillacs unverzichtbar sind – beispielsweise erklärt sie auch für philosophische Neulinge gut verständlich, in welcher Weise er sich auf Aristoteles bezieht.

Ein weiteres Plus: In der Ausgabe ist nicht ‚nur‘ die Übersetzung, sondern auch der französische Originaltext enthalten. Die Übersetzerin gibt uns einen Einblick in den aktuellen Forschungsstand, Condillacs biografischen und philosophischen Hintergrund, seine Einordnung in die Zeit der Aufklärung sowie seinen Seelenbegriff und seine Korrespondenzen mit Kritikern. So erfahren wir, dass der Philosoph bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr überhaupt nicht lesen konnte, weil er unter einer Augenerkrankung litt. Im Kindesalter also mit dem Ruf des bescheidenen, schüchternen Minderbegabten lebend, war sein Aufstieg jedoch umso rasanter: Er zog dem Priesteramt schon bald lieber den Intellektuellenkreis in Paris vor, schaffte es bis in die Académie française und wurde unter anderem zum Erzieher des Prinzen Ferdinand in Parma.

Die anthropologische Differenz bei Condillac

An vielen Grenzen und Abgründen entlang arbeitet sich Condillac an der anthropologischen Differenz – den Begriff kannte man damals freilich noch nicht – ab. Er differenziert zum Beispiel zwischen Selbstliebe und Selbsterhaltungstrieb. Anders als heutige Theoretiker*innen argumentiert der Philosoph, dass die meisten nicht-menschlichen Tiere vermutlich keinen definierten Begriff vom Tod haben, sodass man bei ihnen nicht von einem Selbsterhaltungstrieb, sondern mehr von einer Sorge um sich und Angehörige, also um einen aus einer fürsorglichen Selbstwahrnehmung hervorgehende Vermeidung von Schmerz und ein Streben nach Wohlempfinden sprechen könne (Selbstliebe). Das ermöglicht einen sensiblen Blick auf tierliche Mitgeschöpfe ohne den plumpen Vorwurf des selbsterhaltenden „Egoismus“ oder „Instinkts“. Den hätten vielmehr Menschen, denn die wüssten um die Gefahr des Todes und stellten ihr Selbst sehr gern bei ihrer Lebensplanung in den Vordergrund. Heute ist es zwar so gut wie sicher, dass nicht nur Menschen den Unterschied zwischen Tod und Leben kennen und sich beispielsweise suizidal verhalten können. Das rüttelt aber nicht an den grundlegenden Paradigmenwechseln, auf die uns der Philosoph vorbereiten möchte.

So etwa macht Condillac stark, dass alle Tiere über Bewusstsein und die Fähigkeit, zu denken, verfügen – anders sei es nicht zu erklären, dass diese Lebewesen auf so komplexe Weise mit den ihnen gestellten Herausforderungen in der Natur umgehen. Tiere müssen über eine irgendwie geartete Identität und Selbstwahrnehmung verfügen, etwa, indem sie sich erinnern, sich heute für dasselbe Lebewesen wie noch gestern halten, und indem sie umsichtig und planend verfahren. Ganz wie „wir“, betont der Philosoph. Zwar sei es korrekt, gesteht er zu, dass andere Tiere in ihrem Handeln wesentlich durch Instinkte geleitet seien und Menschen dagegen dazu neigten, auch scheinbar unnütze Informationen vernünftig zu reflektieren, doch solle man sich darauf nichts einbilden. Diese Tatsachen bewiesen nämlich vielmehr – da ist Condillac schon erstaunlich darwinistisch! –, dass es für menschliche Wesen offenbar notwendig gewesen sei, diese Vermögen zu entwickeln, während andere Tiere dieser offensichtlich nicht bedürfen.

Condillac trennt Menschen und andere Tiere also zwar entlang unterschiedlicher Linien wie der Willensfreiheit, der Vernunftbegabung oder auch des Erfindungsgeistes. Er führt diese Differenz jedoch nicht auf eine irgendwie geartete Genialität des Homo sapiens zurück, sondern argumentiert, dass diese vermeintlich höheren menschlichen Fähigkeiten aus notwendiger sozialer Interaktion entstanden seien. Während andere Tiere mit den ihnen gegebenen Vermögen in ihrer natürlichen Lebenswelt zurechtkommen, sind die menschliche Vulnerabilität und körperliche Unangepasstheit offenkundige Probleme, die es auf intellektueller und sozialer Ebene zu überwinden galt. Obwohl Condillac all dies konstatiert, wendet er sich von einer reduktionistischen, weil mechanisch-materialistischen Definition tierlichen Innenlebens ab. „Instinkt“ und „Vernunft“ hält er für eher obsolete Kategorien, wenn sie so dichotom wie bisher gedacht würden. Tiere seien keine kleinen, perfekt funktionierenden, aber dummen Uhrwerke, sondern in ihnen liefen vielfältige innerpsychische Vorgänge ab. Nur unter Berücksichtigung dieser Prämisse könne man auch menschliche Verhaltensweisen verstehen lernen, und deshalb sei es sehr interessant und der Sache wert, Tiere als philosophischen Gegenstand ernst zu nehmen: „Nichts ist bewundernswerter als die Hervorbringung der Vermögen bei den Tieren.“

Es wird also deutlich, dass Condillac Differenzen zwischen Menschen und anderen Tieren aufzeigt, nicht um sie zu trennen, sondern um ihr Gemeinsames klar destilliert hervorscheinen zu lassen. Ein Beispiel dafür ist, dass Condillac den Tieren zwar ihre Willensfreiheit abspricht, doch ihre Vermögen (Verhaltensänderung, Einordnung von Erinnerungen etc.) an anderer Stelle so beschreibt, dass der Schluss auf tierliche Willensfreiheit gar nicht so abwegig erscheint. (Menschliche) Vernunft ist für Condillac nur ein einzelner Teil der vielen Seelenvermögen, über welche die irdischen Geschöpfe verfügen können. Daneben gebe es einige weitere, die man allen Tieren zusprechen dürfe. Dafür findet der Philosoph nicht nur stichhaltige Argumente, sondern weist mit diesen auch den Zwei-Substanzen-Dualismus zurück, der präsupponiert, Seele und Körper hätten für sich selbst Empfindungen, von denen der je andere Teil nicht wisse. Unsinn, findet Condillac mit Rückbezug auf Platon und Aristoteles: Die Seele wirkt im gesamten Körper, sie hängt von ihm und seiner Beschaffenheit ab – ein Subjekt muss einheitlich sein, damit es denken, empfinden und danach handeln kann. So erläutert Kayling, dass „sentir“ bei Condillac einerseits Sinneswahrnehmung, andererseits das Empfinden von Affekten bedeutet. Und diese Qualia müssen schließlich irgendwo ankommen, sonst wären sie nur nutzlose Spielereien der Natur, derer wir Lebewesen nicht bedürfen. Erstaunlich fortschrittlich, fast psychologisch präsentiert sich Condillacs Traktat deshalb: Die inquiétude, die der Philosoph beschreibt, sei etwas, was wir mit allen Lebenden teilen; sie durchdringt als motivationales Prinzip unser Handeln und zwingt uns dazu, für uns und für andere zu sorgen. Zwar nimmt Condillac ein oberstes, ursächliches Prinzip in der Welt an und spricht sich für eine Naturteleologie aus, doch er wird auch aus heutiger evolutionsbiologischer Perspektive sehr deutlich: Wir alle, Menschen und Tiere, handeln und denken, weil wir müssen und weil unsere beseelten Körper danach verlangen. Dafür, dass Charles Darwins The Origin of Species erst über 100 Jahre später erschien, ist Condillac erstaunlich risikobereit – auch angesichts des klerikalen Dogmas, das ihn umgeben haben muss.

Doch ein wiederkehrendes Problem der Verknüpfung seiner immer noch religiös kontaminierten Prämissen mit philosophischen Theoremen zeigt sich auch bei Condillac. So argumentiert er, nicht-menschliche und menschliche Tiere verfügen graduell über Emotionen und Intellekt – was er mit einer spezifisch konzeptualisierten, sensualistischen Ausarbeitung seines sehr weiten Sprach- wie auch Empfindungsbegriffs erreicht –, doch gesteht er aufgrund der Theodizee allein den Menschen als moralischen Wesen eine unsterbliche Seele zu. Es ist, wie auch die ausführlichen Kommentare und Ergänzungen Kaylings nahelegen, nicht wirklich klar, ob Condillac dies vielleicht nur schreibt, um nicht dem Vorwurf des Atheismus ausgesetzt zu sein. Der Philosoph beharrt strikt auf der Unsterblichkeit der menschlichen Seele, doch weist er ausdrücklich darauf hin, dass es auch möglich sei, aus seinen Überlegungen abzuleiten, dass auch die Tierseele mit dem Tod des Körpers nicht unmittelbar in ihrem Dasein aufgehoben sei. Tatsächlich lassen all seine vorherigen Argumente diesen Schluss auf das Alleinstellungsmerkmal der menschlichen Seele überhaupt nicht zu, sondern – wie Condillac selbst zugibt – sie legen logisch nahe, dass die Seele der Tiere rein ontologisch nicht einfach mit dem Körper „verschwinden“ könne, wenn wir schon annehmen, dass es die Seele gibt.

Condillac heute

So müssen wir gemeinsam mit dem Philosophen darum hadern, ob die Menschen nun „überlegen“ seien oder nicht: Einerseits spricht Condillac wörtlich von der geistigen Überlegenheit der Menschen, etwa in Bezug auf das gesteigerte Abstraktionsvermögen, die Erkenntnis Gottes oder auch das moralische Bewusstsein. Andererseits treten immer wieder berechtigte Verunsicherungen über die Frage auf, ob dies wirklich humanexklusive Eigenschaften seien oder nicht. Zwischen den Zeilen können wir allerdings lesen, dass die Überlegenheitsfrage eigentlich ziemlich langweilig ist. Man kann Condillac guten Gewissens als einen stillen, noch sehr vorsichtigen Vorreiter des Gradualismus bezeichnen, der vielleicht sogar, würde er heute leben, etwas mit der Kognitiven Ethologie hätte anfangen können. An einer Stelle könnte man ihn sogar als einen Wegbereiter des berühmten Ausspruchs „The question is not, Can they reason?, nor Can they talk? but, Can they suffer?“ bezeichnen. Denn Condillac geht davon aus, dass Tiere zwar nicht in menschensprachlichen Begriffen artikulieren oder denken können, dass sie „leben wollen“ beziehungsweise „nicht sterben wollen“, aber doch, dass sie die lebenserhaltenden Empfindungen kennen, die sie notwendigerweise besitzen müssen, um leben zu können. Für die aktuelle tierethische Debatte gibt uns der Philosoph zudem einen bemerkenswert starken Hinweis: Tiere „kennen“, sagt er, „das Leben allein durch die Empfindung“. Sie können sich über Schmerz und Elend nicht konsequent durch Vernunft hinwegsetzen, sondern müssen still erleiden, was Menschen vielleicht noch durch ihre Ratio relativieren könnten. Diese Möglichkeit stellt uns vor eine ungeheure Verantwortung gegenüber allem A-Humanen.

Nicht nur für die tierethische, sondern auch die kulturwissenschaftliche Debatte ist Condillac übrigens heute noch hochinteressant: Sein Begriff von Sprache ist so komplex, offen und weitreichend konzeptualisiert, wie es zahlreiche Denker*innen heute nicht nur in Ansehung des A-Humanen, sondern auch des Humanen dringend fordern. Für ihn gehören beispielsweise auch mimische und gestische Ausdrücke zur Sprache, ebenso wie er tierliche Laute und Verhaltensweisen als sprachliche Einheiten akzeptiert – wohlgemerkt im 18. Jahrhundert!

Der Theologe und Philosoph hat also ein mutiges, großartiges Werk vorgelegt, das spätestens heute zur Pflichtlektüre aller Philosophiestudent*innen werden sollte. Übrigens kann man mit Condillac sogar zeitgenössische Diskussionen problemlos „gewinnen“. Schon zu Beginn seines Traktats etwa weist dieser „auf die Inkonsequenz von Buffon“, einem seiner Kritiker, „hin, der sogar Pflanzen Empfindungsvermögen zuweise, das er den Tieren hingegen abspreche“. Kommt uns das nicht bekannt vor? Doch Condillac, wir müssen Sie enttäuschen: Auch, wenn es Sie bereits im 18. Jahrhundert wunderte, dass Menschen noch an die cartesianische (Tier-)Automatentheorie glaubten, müssen wir Ihnen beichten, dass heute mehr Menschen als je zuvor Tiere für seelenlose, instrumentalisierbare Objekte menschlicher Launen und Lüste halten – oder zumindest so handeln, als glaubten sie dies. Der überraschend inkonsistente Streit etwa, ob Fische Schmerzen empfinden, hält sich hartnäckig. Dagegen sind dieselben Personen, die solchen „Nutztieren“ ihre Leidensfähigkeit absprechen, angeblich fest von dem existenziellen Weltschmerz herkömmlichen Getreides überzeugt. Das ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass der gesellschaftliche Fortschritt dem philosophischen stets großspurig hinterherhinkt: Die Erde ist offenbar mit der Zeit noch reicher an vielen kleinen Buffons geworden. Umso wertvoller, dass wir jetzt endlich eine deutschsprachige Übersetzung seines herausragenden Kritikers Condillac haben, die dem französischen Original gerecht wird. Auf dass noch viele weitere Übersetzungen in andere Sprachen folgen mögen!

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Etienne Bonnot de Condillac: Traité des animaux. Abhandlung über die Lebewesen.
Deutsche Erstübersetzung, Einleitung und Kommentar von Vanessa Kayling.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
308 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783826065835

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