Kulturjournal

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Betreff Buchmesse mit 1.000.000 Neuerscheinungen
Autor Mario Alexander Weber
Datum 11.10.2005 14:32
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Wer sich seine Bücher, den Lesestoff, über karitative Gebrauchtmöbelläden, Bookcrossing, private Tauschringe, Ebay, 2001, Dachstühle, die örtliche Leihbibliothek oder auf Flöhmärkten beschafft, hinkt der großen Neuerscheinungsaufregung um Jahr(zehnt)e hinterher. Blättert staunend in den Verlagsprospekten, verfolgt das Hochfeuilleton, studiert aufmerksam und regelmäßig literaturkritik.de, geht auch mal in eine Buchhandlung und wenn er ganz mutig ist, besucht er eine der beiden Messen.
Das Stöbern im Aussortierten zeigt die von vielen beklagte schnelle Taktung des Betriebs. David Gates: Jernigan. Ein verdammt guter Roman. Baujahr 1993, nur noch antiquarisch erhältlich. Nachfrage: Null. „Die Leute hier haben langsam die Schnauze voll von meinem Gefasel.“ Kempowski fragte 1973: „Haben Sie Hitler gesehen?“ Das Echolot kommt in diese Tiefen kaum mehr runter. Die FAZ möchte sich heute gerne an den lukrativen Zeitungsbuchreihen beteiligen. 1981 veröffentlichte die FAZ den schönen Sammelband „Ein Bücher-Tagebuch“, ausgewählte und thematisch sortierte Kritiken aus den Jahren 1967–1970. Für 1,10 Euro beim Roten Kreuz mitgenommen und den ganzen Nachmittag auf’m Klo damit verbracht. Wo war eigentlich die Fortsetzung? (Mit Sicherheit auf CD-Rom erhältlich) Und vor allem: Wo sind eigentlich die damals besprochenen Bücher geblieben? Einer meiner liebsten Gedichtbände ist und bleibt die „Dreieckige Birne“ von Andrej Wosnessenskij, edition suhrkamp 1963 (EA, ungelesen, für 40 Cent mitgenommen). Nächtelang im Bett daraus vorgetragen, große Unterhaltung, America here we come. Kolt Gerrags unendlich zärtlicher „Epilog auf den Mond im Weiher“ (=Sperrmüllfund im Oktober 1998 in Bamberg, Marienplatz) hat jedoch zu ganz später (oder sehr früher) Stunde auch seine Reize… Der grandiose bayrische Songwriter, Kabarettist und Lebenskünstler Ringsgwandl – Ein Mann wie ein Leuchtturm, Geheimtipp der Verirrten (Die Zeit) – eröffnet sein Album „Staffabruck“ (Trikont 1993) mit einem Portrait über Mathias Kneißl, der 1902 in Augsburg geköpft wurde. Für 60 Cent von Martin Sperr das „Textbuch zum Film“ erstanden: Der Räuber Mathias Kneißl. In der Hauptrolle: Hans Brenner. Ich harre noch heute der Ausstrahlung im Bayerischen Fernsehen. Das Piper-Taschenbuch hat sich mein Vater ausgeliehen. Ich lese derweil in Joachim Lottmanns „Mai, Juni, Juli“ (1987 bei KiWi in Köln erschienen), das als Ur-Pop-Roman gilt. Unnötig zu erwähnen, dass ich die sehr gut erhaltene Erstausgabe auf dem hiesigen Trempelmarkt für einen Euro (ohne zu handeln) mitgenommen habe.
Der große Stanislaw Lem hat in seinem Band „Die vollkommene Leere“ überzeugend dargelegt, dass die spannendsten Bücher manchmal die sind, die gar nicht existieren. Ist dies ein schlechtes Zeugnis für die Bücher, die bereits geschrieben und gedruckt worden sind? Nicht unbedingt, denn der Unterschied zwischen erfundenen und irgendwann erschienenen Büchern ist nur ein gradueller. Je älter das Buch ist, desto mehr rückt es in die erste Kategorie. Wahrscheinlich ist es gar nicht so einfach, Bücher zu erfinden. Zwar ist nur ein ganz, ganz kleiner Bruchteil der Bibliothek von Babel erhältlich (oder irgendwo zu finden), aber es ist nur der millionste Bruchteil des Bruchteils, der überhaupt präsent ist.
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Lesen Sie auch „aktuelle“ Bücher? Sicher. Ich empfehle den Comic-Roman von Georges Abolin und Olivier Pont: Jenseits der Zeit. Lohnt sich.

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