Vorwort [zu: Der Bildermann. Steinzeichnungen fürs deutsche Volk]

Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Jg. 83, Nr.78, 4. April 1916, S. 2227

Von Paul CassirerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paul Cassirer und Leo KestenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leo Kestenberg

In unserem Volke ist während dieser Kriegsmonate neben dem natürlichen und selbstverständlichen Interesse, für die Empfindungen und die Bilder des Krieges die Liebe und die Sehnsucht nach den Werken jeglicher Kunst, gleichgültig welcher Gegenstand behandelt ist, von Tag zu Tag wieder erstarkt und sogar stärker geworden, als es im Frieden war. Trotz aller Schicksalsschläge und Mühsale ist die Sehnsucht nach Schönheit und Innerlichkeit in allen gewachsen, und es scheint, daß mit dem Glauben an den endgültigen moralischen Sieg auch die Hoffnung erwachsen ist, der Kunst und der Kunstpflege erstehe ein neuer Frühling.

Trotz den Schrecken unserer Zeit blieb unsere Seele den alten Göttern treu. Mitten im Krieg will sie schauen, wie sie vor dem Krieg geschaut hat, sogar genießen, wie sie vordem genossen hat. Die Not des Krieges hat uns gelehrt, dem Schrecken ruhig in die Augen zu sehen, aber sie hat auch unser Sehnen aus dem Schrecken heraus nach Reinem, Höherem wiedererweckt und innerlicher gemacht. In dieser Erkenntnis veröffentlichen wir vom 1. April 1916 an eine neue Kunstzeitschrift unter dem Titel ‚Der Bildermann. Steinzeichnungen fürs deutsche Volk‘, die sich nicht ausschließlich auf die Bilder des Krieges beschränkt, sondern jedem künstlerisch behandelten Stoffe offen steht.

Zweimal monatlich wird ‚Der Bildermann‘ Originallithographien von Meisterhand bringen. Slevogt, Gaul, Liebermann, Käthe Kollwitz, Walser, Kalckreuth werden neben den jüngeren strebenden Begabungen wie Purrmann, Pechstein, Heckel, Kirchner, Kokoschka, Meidner, Großmann u.a. an ihm mitarbeiten.

Was wir bringen, sind keine Reproduktionen. Der Druck von Stein ist ein Original. Die photographische Platte ist nicht zwischen die Zeichnung des Künstlers und den Druck getreten. Der Strich der Lithographie ist so lebendig wie der Strich der Zeichnung. Das Unbewußte des Künstlers, das sich ausdrückt in den leisen, niemals zu reproduzierenden Bewegungen der zeichnenden Hand, bleibt der Künstlersteinzeichnung erhalten.

‚Der Bildermann‘ will weite Kreise mit der Kunst in fühlbare Beziehung bringen, nicht in die Fühlung, die durch Wissen über Kunst erreicht wird, sondern in die, die mittels der Empfindung sich vom Künstler direkt zum Kunstfreund überträgt. Es scheint uns, daß wir der bildenden Kunst nicht allein diese Wirkung überlassen dürfen, und so werden wir aus dem Bereiche der Poesie alte und neue Volkslieder bringen, sorgfältig auf einzelne Blätter gedruckt, mit Künstlerzierat, geeignet, an den Wänden als sprechendes Bild angeheftet zu werden.

So wollen wir versuchen, mit dem Besten, was deutsche schöne Kunst und deutsche Dichtkunst schafft, ein Volksblatt zu gründen, und so hoffen wir, daß durch dieses Volksblatt festgehalten wird, was unser deutsches Volk während des Krieges erlebt, nicht nur die kriegerische Gegenwart, der wir uns nicht entziehen werden, sondern auch die Vergangenheit und die schönere Zukunft.

Kommentar von Michael Stark

Der von Paul Cassirer und Leo Kestenberg formulierte, doch nicht mit ihren Namen gezeichnete Text zur Begründung des Wechsels von der Kriegszeit zum Bildermann, zur Beschreibung des neuen Projekts und seiner Erscheinungsweise, markiert die neue, veränderte Einstellung zum Weltkrieg und charakterisiert das verlegerische Ethos beider. Name und Kopfblatt der Zeitschrift stammen von Max Slevogt. Für den Wechsel zu einer expressionistisch-pazifistischen Publikation stehen nicht allein die Namen der hinzugetretenen graphischen und literarischen Beiträger: Erich Heckel (1883 – 1970), Ernst Ludwig Kirchner (1880 – 1938), Oskar Kokoschka (1886 – 1980), bzw. Walter Hasenclever (1890 – 1940), Else Lasker-Schüler (1869 – 1945), Erich Mühsam (1878 – 1934) und Robert Walser (1878 – 1956), sondern auch der etwa bei Barlach überdeutliche Wandel der symbolischen Empathie von martialischer Kriegsverherrlichung in Blättern wie „Der heilige Krieg“ (Kriegszeit, Nr. 17, 16. Dezember 1914) oder „Erst Sieg, dann Frieden“ (Nr. 20, 30. Dezember 1914) zur bildkünstlerischen ‚Trauerarbeit‘ in den Beiträgen zum Bildermann, z.B. die Graphiken „Aus einem neuzeitlichen Totentanz“ (Nr. 11, 5. September 1916), „Selig sind die Barmherzigen“ (Nr. 16, 20. November 1916) und „Dona nobis pacem“ (Nr. 18, 20. Dezember 1916); erwähnt sind ferner Karl Walser (1877 – 1943), Leopold von Kalckreuth (1855 – 1928), Hans Marsilius Purrmann (1880 – 1966), Max Pechstein (1881 – 1955) und Ludwig Meidner (1884 – 1966); ab Nr. 18 wurde Der Bildermann zum 20. Dezember 1916 mit folgender redaktioneller Begründung eingestellt: „Der Gedanke, die Kunst unserer Zeit durch ein vornehmes künstlerisches Mittel, den Steindruck, weiten Kreisen unseres Volkes zu vermitteln, hat uns bei der Gründung unserer Zeitschrift geleitet. Die Zeitumstände führen zu der Erkenntnis, daß die Ausführung dieses Gedankens heute auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt. Wir müssen uns entschließen, den Plan zu vertagen, bis wieder die Wege gangbar sind, die das arbeitende Volk zu friedlichen künstlerischen Bestrebungen führen […].“ Auch ein angekündigtes neues Projekt erschien nicht mehr.