II.6.11 Kulturwissenschaften

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Von Aleida AssmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Aleida Assmann

6.11 Kulturwissenschaften

Die Kulturwissenschaften sind nicht aus einer neuen Methode oder theoretischen Wende entstanden, sondern antworten auf einen tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft und unserer Welt-(un)- ordnung. Die Physik und Biowissenschaften sind mit ihren grundstürzenden neuen Erkenntnissen über die Struktur der Atome oder des Genoms zu einem gewaltigen Motor der Veränderung unserer Kultur geworden. Nicht weniger einschneidend sind die Konsequenzen eines technischen Wandels, der die elektronischen Medien hervorgebracht und mit einem Netz von Kommunikationskanälen den Weltraum durchstoßen und den Erdball überzogen hat. Neben naturwissenschaftlichen und technischen gibt es auch soziale Motoren des Wandels wie zum Beispiel die Neubestimmung des Geschlechterverhältnisses, das die Grundlagen westlicher Gesellschaften nachhaltig verändert hat. Und natürlich nicht zu vergessen die historischen und politischen Motoren kulturellen Wandels: Wir leben in einer Welt der Spätfolgen historischer Traumatisierungen, gewaltsamer Vertreibungen, postkolonialer Identitätssuche und, in Europa, neuer transnationaler Organisationsstrukturen (vgl. Appadurai 1996). Das erklärt zum einen, warum Kulturwissenschaften mehr oder weniger gleichzeitig an verschiedenen Orten der Welt entstanden sind, und zum anderen, warum sie sich auf vielfältige Weise ohne eine einheitliche Orientierung entwickelten. Nicht die Ausbreitung einer Schule, nicht der Siegeszug einer neuen Theorie ist für ihre Entstehung verantwortlich, sondern der Wandel der Kulturen selbst zusammen mit den neuen Fragen und Herausforderungen, die sich aus diesem Wandel ergeben (vgl. Nünning/Nünning 2003).

Cultural Studies

Die Kulturwissenschaften haben keine einheitliche Gestalt, weil sie eng mit den je spezifischen historischen und soziokulturellen Bedingungen verwoben sind, aus denen sie hervorgingen. Die deutschsprachigen ›Kulturwissenschaften‹ z. B. haben eine andere Genealogie als die Cultural Studies, beide sind ein Teil jener Kulturen, aus denen sie erwachsen sind. Die Cultural Studies sind nicht erst seit den 1980er Jahren in den USA, sondern bereits seit der Mitte der 1950er Jahre in der englischen Industriestadt Birmingham entwickelt worden. Sie entstanden aus einer Krise der humanities. So jedenfalls fasst es der Titel eines Aufsatzes von Stuart Hall zusammen, der damals maßgeblich an der Reorientierung mit beteiligt war: »The Emergence of Cultural Studies and the Crisis of the Humanities« (Hall 1990). Zusammen mit Raymond Williams und Richard Hoggart gehörte er zu einer Gruppe von jungen marxistisch inspirierten Literaturwissenschaftlern, die bei F.R. Leavis studiert hatten. Dieser Lehrer verkörperte ein hohepriesterlich-elitäres Konzept von bürgerlicher Hochkultur, in dem die jüngere Generation, die wie Hall aus den ehemaligen Kolonien oder wie Williams aus der Arbeiterschicht stammten, ihre Interessen und Erfahrungen immer weniger wiederfinden konnten. Das Signal ihrer Sezession in Birmingham war ein neuer Kulturbegriff.

Leavis war der Papst einer sakralisierenden Kanonpolitik gewesen, die das Fundament der humanities bildete; sein Hauptwerk mit dem sprechenden Titel The Great Tradition (1948) hatte den verbindlichen Kanon für die englische Literatur des 19. Jh.s festgesetzt. In einer Zeit wachsender Rationalisierung und Technisierung kämpfte er für die Kultur als unverzichtbare Energiequelle menschlichen Lebens. Dabei beruhte sein kulturpädagogisches Modell auf einer klaren Opposition zwischen der dumpfen und trägen Masse der Gesellschaft einerseits und den Wenigen andererseits, die berufen sind, bewusste Träger von Kultur zu sein. Von diesem engen elitären Kulturbegriff setzte sich die Birmingham- Schule radikal ab und wandte sich ihrerseits dem Studium der industriellen Massenkultur zu. Für diese neue Generation, die von Marx, Foucault und Gramsci gelernt hatte, war Kultur nicht das einbalsamierte Erbe einer nationalen Tradition, sondern der Schauplatz von Kämpfen um Macht, Geld, Anerkennung und Prestige.

Dieser Impuls der Birmingham-Schule, der auf eine Ausweitung des Kulturbegriffs von Hochkultur auf Populärkultur gerichtet war, wurde in den 1970er und 1980er Jahren von all denen begeistert aufgegriffen, die sich in einer bürgerlich elitären Definition von Kultur nicht wiederfanden wie u. a. die Migranten, die Feministinnen und andere soziale Minderheiten. Der literarische Kanon, die Idee einer verbindlichen gemeinsamen kulturellen Überlieferung, so hat es Stuart Hall zusammengefasst, war plötzlich »weggefegt durch weltweite Migrationen, durch Fragmentierung, durch ein Erstarken der Peripherie gegenüber dem Zentrum, durch einen Kampf der Marginalisierten um soziale Anerkennung und kulturelle Macht, durch die Pluralisierung von Ethnien in der englischen Gesellschaft « (Hall 1990, 21). […]

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