II.2.8.5 Autobiografie

Leseprobe

Von Daniela LangerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniela Langer

2.8.5 Autobiografie

Der Begriff ›Autobiografie‹ bedeutet ›Beschreibung des eigenen Lebens‹ (von gr. autos: selbst, bios: Leben, graphein: schreiben) und stellt eine von verschiedenen Selbstaussageformen dar, zu denen auch Apologien, Chroniken, philosophische Selbstreflexionen, Tagebücher, Briefe, Memoiren, Reisebeschreibungen oder Lebensläufe gehören. Die Tradition autobiografischen Schrifttums ist lang und setzt mit Selbstdarstellungen der Antike ein; die Ausprägung der ›Gattung‹ in ihrer ›klassischen‹ Form erfolgte Ende des 18. Jh.s im Kontext einer allgemeinen, durch Aufklärung und Empfindsamkeit beeinflussten ›Selbstbewusstwerdung‹ des Subjekts und zugleich in Anlehnung an das Formenarsenal des Romans (historische Überblicksdarstellungen bieten Holdenried 2000 und Wagner- Egelhaaf 2000).

Da die Autobiografie als ›Selberlebensbeschreibung‹ (Jean Paul) eine Erzählung des Lebens einer realen Person zum Gegenstand hat, gelten – einerseits – Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsanspruch als konstitutive Charakteristika. Vor allem die ältere Forschung verstand die Autobiografie als historisches Zeugnis nicht nur hinsichtlich des individuellen Lebens des Autobiografen, sondern – so Wilhelm Dilthey, für den die Autobiografie zum Paradefall des hermeneutischen Verstehens überhaupt wurde – auch hinsichtlich der allgemeinen Geschichte. Da die Autobiografie als Erzählung allerdings auch kompositorischen Strukturen und literarischen Gestaltungsmitteln unterliegt, wird ihr – andererseits – eine spezifische, der unmittelbaren Wiedergabe der Wirklichkeit widersprechende literarische Überformung, ja sogar ein fiktionaler Gehalt zugestanden. Die Autobiografie steht so im Spannungsfeld zwischen »Referenz und literarischer Performanz« (Wagner-Egelhaaf 2000, 4), zwischen »Poetisierung und Fiktionalisierung einerseits, Dokumentation und Erinnerung andererseits«. Dies führt in Hinsicht auf die Analyse zur Notwendigkeit einer erhöhten Reflexion über Absicht und Zielsetzung der Untersuchung sowie den gewählten Paradigmenrahmen der ›Gattung‹ zwischen historischem Dokument und literarischem, ja fiktionalem Text – wobei unterschiedliche Definitionen von ›Autobiografie‹ unterschiedliche analytische Zugriffe nach sich ziehen.

Definitionsversuche als Konturierung des Analysegegenstands

Die für die Autobiografie konstitutive Ambivalenz wird auch darin deutlich, dass es keine sprachstrukturellen Merkmale gibt, nach denen sich entscheiden ließe, ob ein Text eine reale oder eine bloß fingierte Wirklichkeitsaussage macht, ob also eine ›echte‹ Autobiografie oder ein (gegebenenfalls autobiografischer) Roman vorliegt (vgl. Holdenried 2000, 26). Philippe Lejeune führte aus diesem Grund im Jahre 1973 mit dem ›autobiografischen Pakt‹ ein textexternes (und über den Paratext erzeugtes) ›Vertragsverhältnis‹ zwischen dem Autor und dem Leser einer Autobiografie in die Diskussion ein, das die genannte Problematik umgeht: Lejeune zufolge verifiziert der Name des Autors auf dem Titelblatt die Identität von Autor, Erzähler und Figur. Dem Leser wird so das Angebot gemacht, den Text als Selbst- und Wirklichkeitsaussage zu lesen (vgl. Lejeune 1994, 23–27). Obgleich diese Lösung einen pragmatischen Ansatzpunkt zur Abgrenzung der Autobiografie von anderen literarischen Texten bietet, kann sie doch streng genommen keine Gattungsdefinition liefern, da die Gattungsfrage hier auf ein bestimmtes Rezeptionsverhalten verschoben wird.

Einen anderen Weg geht Paul de Man, der der Autobiografie einen eigenen Gattungsstatus abspricht. Er versteht die Autobiografie vielmehr als »eine Lese- oder Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftritt«, insofern der Autor für das Verständnis eines Textes immer von Belang sein kann (de Man 1993, 134). Die Unmöglichkeit der Unterscheidung zwischen Fiktion und Autobiografie fasst de Man im Rückgriff auf Gérard Genette in dem einprägsamen Bild des ›Steckenbleibens‹ in einer Drehtür, wobei die Dimensionen des Fiktionalen und des Faktischen aber nicht »sukzessiv, sondern simultan« gegeben sind (ebd.): [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.