Vom Erhabenen und Schönen

Von Edmund BurkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Edmund Burke

Dritter Teil

1. Von der Schönheit

Ich will Schönheit zunächst insoweit untersuchen, als sie sich vom Erhabenen unterscheidet; im weiteren Verlaufe der Untersuchung wird zu prüfen sein, inwiefern beides zusammen bestehen kann. Vor alledem aber müssen wir einen kurzen Blick auf die Meinungen werfen, die man bisher über die Schönheit entwickelt hat. Ich glaube, daß sich diese Meinungen schwerlich auf irgendwelche feststehende Prinzipien zurückführen lassen; denn es ist üblich, von der Schönheit in bildlicher Weise, das heißt in außerordentlich unsicherer und unbestimmter Weise zu reden. Unter Schönheit verstehe ich die Qualität oder die Qualitäten eines Körpers, durch die er Liebe oder eine ähnliche Leidenschaft verursacht. Ich schränke diese Definition auf die rein sinnlichen Qualitäten der Dinge ein, weil ich die äußerste Einfachheit bei einem Gegenstande anstrebe, der uns völlig verwirren muß, wenn wir alle die verschiedenen Ursachen der Sympathie einbeziehen, aus denen uns irgendwelche Menschen oder Dinge vermöge sekundärer Zusammenhänge anziehen – und nicht vermöge der unmittelbaren Kraft, die sie bloß auf Grund ihres Gesehenwerdens ausüben. Unter Liebe verstehe ich die Befriedigung, die im Gemüt beim Betrachten irgendeines schönen Dinges aufkommt, von welcher Natur dieses auch sein mag. Ich unterscheide sie von Begierde oder Sinnenlust, also von einer Energie des Gemüts, welche uns zum Besitz gewisser Objekte treibt, die uns nicht durch Schönheit, sondern durch ganz andere Mittel affizieren. Wir können eine sehr starke Begierde nach einer Frau von sehr wenig Schönheit haben, während die vollkommenste Schönheit von Menschen oder anderen Lebewesen, obgleich sie Liebe hervorruft, doch keineswegs so etwas wie Begierde erregt. Dies zeigt, daß sich Schönheit und die von ihr verursachte Leidenschaft, die ich Liebe nenne, von Begierde durchaus unterscheidet, obgleich Begierde bisweilen mit ihr zusammenwirken mag. Und nicht den Wirkungen der Schönheit rein als solcher, sondern jener Begierde müssen wir die heftigen, stürmischen Leidenschaften und die daraus folgenden körperlichen Erregungen zuschreiben, die das begleiten, was in einer der herkömmlichen Bedeutungen des Wortes als Liebe bezeichnet wird.

2. Proportion ist nicht die Ursache der Schönheit
im Pflanzenreich

Man sagt gewöhnlich, daß Schönheit in einer bestimmten Proportion von Teilen bestehe. Bei genauer Erwägung finde ich gute Gründe, daran zu zweifeln, daß Schönheit eine Idee sei, die überhaupt mit Proportion zusammenhängt. Proportion betrifft fast ausschließlich die Angemessenheit, wie dies jede Idee von etwas Geordnetem zu tun scheint, und muß deshalb eher für eine Schöpfung des Verstandes als für eine primäre Ursache angesehen werden, die auf Sinne und Einbildungskraft wirkt. Wenn wir finden, daß ein Objekt schön sei, so tun wir das nicht auf Grund einer langen Beobachtung und Untersuchung; Schönheit verlangt keine Unterstützung durch unser Räsonnement; selbst der Wille spielt nicht mit hinein; das Erscheinen von Schönheit verursacht vielmehr ebenso unmittelbar einen gewissen Grad von Liebe in uns, wie die Berührung von Eis oder Feuer die Ideen von Hitze oder Kälte hervorruft. Um in diesem Punkte zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen, wäre es sehr gut, einmal zu prüfen, was Proportion ist; denn manche, die das Wort gebrauchen, scheinen weder ein sehr klares Verständnis für seine Bedeutung zu haben, noch sehr deutliche Ideen über die Sache selbst. Proportion ist das Maß quantitativer Verhältnisse. Da jede Quantität teilbar ist, leuchtet es ein, daß jeder einzelne Teil, zu dem man durch Teilung irgendeiner Quantität gelangt, ein bestimmtes Verhältnis zu den anderen Teilen und zum Ganzen haben muß. Diese Verhältnisse sind der Ursprung der Idee der Proportion. Sie werden durch Messung gefunden und sind die Objekte mathematischer Forschung. Ob aber irgendein Teil einer bestimmten Quantität ein Viertel, Fünftel, Sechstel oder die Hälfte des Ganzen sei und ob er dieselbe Länge wie ein anderer Teil – oder die doppelte oder die halbe – habe, das ist für das Gemüt eine durchaus gleichgültige Sache; es nimmt in dieser Frage eine neutrale Stellung ein; und gerade dieser absoluten Indifferenz und Ruhe des Gemütes verdanken die mathematischen Spekulationen einige ihrer beachtlichen Vorzüge; dort gibt es nämlich nichts, was die Einbildungskraft interessieren könnte; dort kann die Urteilskraft den entscheidenden Punkt frei und unbefangen prüfen. Alle Proportionen, alle quantitativen Anordnungen sind für den Verstand gleich, denn aus allen ergeben sich für ihn dieselben Wahrheiten – aus den größeren wie den kleineren, aus der Gleichheit wie der Ungleichheit. Aber Schönheit ist sicher keine Idee, die mit Messung zusammengehörte; und ebensowenig hat sie mit Rechnung und Geometrie zu tun. Wenn sie es hätte, so müßten wir in der Lage sein, einige bestimmte Maße herauszuheben und – entweder für sich betrachtet oder im Verhältnis zu anderen – als schön darzutun; wir könnten dann diesen glücklich gefundenen Maßstab auch an jene natürlichen Objekte anlegen, für deren Schönheit wir keinen Zeugen als die Sinne haben, und könnten die Stimme unserer Leidenschaften durch die Bestimmungen unserer Vernunft bestätigen lassen. Da wir aber diese Hilfe entbehren müssen, wollen wir prüfen, ob Proportion nicht doch in irgendeinem Sinne als Ursache von Schönheit angesehen werden könne, –wie dies so allgemein und von manchen so zuversichtlich versichert wird. Wenn Proportion eine der Grundlagen der Schönheit wäre, so müßte diese Kraft entweder von den natürlichen Eigenschaften gewisser Maße abzuleiten sein, die in mechanischer Weise wirken, oder von der Wirkung der Gewohnheit, oder von der Eignung gewisser Maße, besonderen Zwecken der Bequemlichkeit zu entsprechen. Unser Anliegen muß demnach sein, zu untersuchen, ob die Teile solcher Objekte des Pflanzen- und Tierreichs, die schön gefunden werden, unveränderlich nach bestimmten Maßen gebildet sind, so daß wir überzeugt sein dürfen, daß die Schönheit auf diesen Maßen beruht – sei es nach dem Prinzip einer natürlich-mechanischen Ursache, sei es auf Grund von Gewohnheit, oder sei es endlich auf Grund der Brauchbarkeit für irgendwelche bestimmte Zwecke. Ich werde unser Problem unter jedem dieser Gesichtspunkte systematisch entwickeln. Ehe ich aber weitergehe, wird es, so hoffe ich, kein Fehler sein, wenn ich die Grundsätze darlege, die mich in dieser Untersuchung geleitet haben, – mich also auch irregeleitet haben, falls ich irren sollte. 1. Wenn zwei Körper gleiche oder ähnliche Wirkungen auf das Gemüt ausüben und eine Untersuchung ergibt, daß sie in gewissen Eigenschaften übereinstimmen und sich in anderen unterscheiden, so ist die gleiche Wirkung denjenigen Eigenschaften zuzuschreiben, in denen die Körper übereinstimmen, und nicht denen, in denen sie sich unterscheiden. 2. Die Wirkung eines natürlichen Objekts darf nicht aus der Wirkung eines künstlichen Objekts hergeleitet werden. 3. Die Wirkung eines natürlichen Objekts darf nicht auf einen Vernunftschluß, der seinen Nutzen betrifft, zurückgeführt werden, wenn sich eine natürliche Ursache angeben läßt. 4. Keine bestimmte Quantität und kein quantitatives Verhältnis dürfen als Ursachen einer gewissen Wirkung anerkannt werden, wenn entweder diese Wirkung auch durch andere – vielleicht sogar entgegengesetzte – Maße und Verhältnisse hervorgerufen wird, oder wenn jene Maße und Verhältnisse bestehen können, ohne die fragliche Wirkung hervorzubringen. – Dies sind Grundsätze, die ich bei meiner Untersuchung über die Macht der Proportion als einer natürlichen Ursache in allererster Linie befolgt habe. Wenn sie der Leser für richtig hält, so bitte ich ihn, sie sich die ganze folgende Erörterung hindurch vor Augen zu halten: einer Erörterung, in der wir jeweils zuerst untersuchen wollen, an welchen Dingen wir die Qualität der Schönheit finden, um sodann zu sehen, ob wir an diesen Dingen irgendwelche Proportionen nachweisen können, und zwar in einer Weise, die uns davon überzeugt, daß unsere Idee der Schönheit aus den Proportionen entspringt. Wir werden dabei diese angenehme Macht betrachten, wie sie zunächst an den Pflanzen, dann an den niederen Lebewesen und endlich am Menschen in Erscheinung tritt.

Wenden wir unsere Augen auf die pflanzliche Schöpfung, so finden wir dort nichts so Schönes wie Blumen. Aber es gibt Blumen von jeder Gestalt und jedem Bauprinzip; sie sind zu einer unendlichen Verschiedenheit von Formen entfaltet; und gemäß diesen Formen haben ihnen die Botaniker Namen gegeben, die fast ebenso verschiedenartig sind. Welche Proportion können wir nun entdecken zwischen den Stengeln und Blättern der Blumen, oder zwischen den Blättern und Staubgefäßen? Wie stimmt der schlanke Stengel der Rose mit dem dicken Kopfe zusammen, unter dem er sich biegt? Aber die Rose ist eine schöne Blume; und könnten wir nicht wagen zu behaupten, daß sie einen guten Teil ihrer Schönheit gerade einem Mangel an Proportion verdanke? Die Rose ist eine große Blume und erblüht doch an einem kleinen Strauche; die Apfelblüte ist sehr klein und erwächst auf einem großen Baume; und doch sind beide schön, Rose und Apfelblüte, –und die Pflanzen, die sie tragen, werden von ihnen aufs reizendste geschmückt: trotz dieser Disproportion. Könnte man unter allgemeiner Zustimmung irgendein Objekt schöner nennen als den Orangenbaum, wenn Blätter. Blüten und Früchte zugleich an ihm prangen? Und doch wäre es vergeblich, hier nach irgendeiner Proportion zu suchen zwischen Höhe und Breite und irgend etwas anderem, was die Dimensionen des Ganzen oder das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander beträfe. Ich gebe zu, daß wir an vielen Blumen etwas von einer regelmäßigen Figur oder einer methodischen Anordnung der Blätter finden. Die Rose etwa hat eine derartige Figur und Anordnung der Blumenblätter; blickt man sie aber schräg an, so geht die Regelmäßigkeit der Figur zum guten Teil verloren, und die Ordnung der Blätter verwirrt sich, – und doch bleibt die Schönheit erhalten; die Rose ist sogar schöner, ehe sie voll erblüht ist, und die Knospe wiederum schöner, ehe sich eine exakte Figur gebildet hat; – und dies ist keineswegs das einzige Beispiel, an dem man finden kann, daß Methode und Exaktheit, die die Seele der Proportion sind, der Ursache der Schönheit eher im Wege als zur Seite stehen.

3. Proportion ist nicht die Ursache der Schönheit
im Tierreich

Daß Proportion nur einen kleinen Anteil an der Bildung von Schönheit hat, ist auch bei Tieren evident. Hier ist die außerordentlich große Mannigfaltigkeit der Gestalten bei mangelnder Proportion ihrer Teile vorzüglich geeignet, diese Idee zu erwecken. Der Schwan – zugestandenermaßen ein schöner Vogel – hat einen Hals, der länger als der übrige Körper ist, und nur einen sehr kurzen Schweif. Ist diese Proportion schön? Wir müssen zugeben, daß sie das ist. Was sollten wir dann aber beim Pfau sagen, der einen verhältnismäßig nur kurzen Hals, dafür aber einen Schweif hat, der länger ist als Hals und Rumpf zusammengenommen? Und wie viele Vögel gibt es, die unendlich abweichen – sowohl von diesen beiden Beispielen wie von jedem anderen Maßstab, den man aufstellen könnte! Ihre Proportionen sind völlig verschieden und oft einander geradezu entgegengesetzt. Und doch sind viele dieser Vögel außerordentlich schön. Wenn wir diese Mannigfaltigkeit betrachten, so finden wir in keinem ihrer Bestandteile etwas, das uns bestimmen könnte, a priori zu sagen, wie die anderen sein sollten, oder irgendwelche Vermutungen darüber zu hegen, wie sie sind; – es sei denn etwas, das die Erfahrung als voller Täuschungen und Irrtümer erweisen würde. Auch hinsichtlich der Farben, und zwar der Vögel wie der Blumen (denn es gibt etwas Ähnliches in der beiderseitigen Färbung), kann man nichts von einer Proportion bemerken – weder in der Raumerfüllung noch in der qualitativen Abstufung. Einige haben nur eine einzige Farbe, andere alle Farben des Regenbogens; einige zeigen Grundfarben, andere gemischte Farben; kurz: ein aufmerksamer Beobachter wird bald zu dem Schluß kommen, daß es in den Farben dieser Objekte ebensowenig Proportion gibt wie in ihren Gestalten. Gehen wir nun zu den Säugetieren über und betrachten zunächst den Kopf eines schönen Pferdes. Wenn wir seine Proportion zu Rumpf und Gliedern und deren Verhältnisse zueinander ermittelt und diese Proportionen zum Richtmaß der Schönheit erhoben haben – und dann einen Hund oder eine Katze oder irgendein anderes Tier nehmen und fragen, ob bei ihnen die gleichen Proportionen zwischen Kopf, Hals und Rumpf usw. bestehen: ich glaube, wir können ruhig sagen, daß sie bei jeder Gattung anders sind, ja daß dies bei vielen Gattungen sogar für die Individuen gilt, und zwar für Individuen von sehr auffallender Schönheit. Wenn man nun aber zugeben muß, daß sehr verschiedene und sogar gegensätzliche Formen und Bauarten mit Schönheit verträglich sind, so schließt dies, glaube ich, das Zugeständnis ein, daß keine bestimmten Maßstäbe, die auf einem natürlichen Prinzip beruhen, zur Hervorbringung der Schönheit erforderlich sind, – wenigstens soweit die Tiergattungen in Betracht kommen.

4. Proportion ist nicht die Ursache der Schönheit
beim Menschengeschlecht

Es gibt verschiedene Teile des menschlichen Körpers, die erfahrungsgemäß bestimmte Proportionen zueinander haben. Um aber beweisen zu können, daß in ihnen die wirkliche Ursache der Schönheit liegt, müßte erst einmal gezeigt werden, daß jeder Mensch schön ist, bei dem diese Proportionen exakt festzustellen sind: und zwar daß er entweder schön wirkt beim Anblick eines genau betrachteten einzelnen Gliedes oder beim Anblick des ganzen Körpers. Gleicherweise müßte gezeigt werden, daß das Verhältnis der Teile zueinander einen mühelosen Vergleich zwischen ihnen ermöglicht und aus dem Vergleich die Affizierung des Gemüts in natürlicher Weise folgt. Meinerseits habe ich viele dieser Proportionen zu verschiedenen Zeiten sehr sorgfältig geprüft und habe sie sehr ähnlich oder vollständig gleich gefunden bei Personen, die sich nicht nur sehr stark voneinander unterschieden, sondern von denen auch die einen sehr schön und die anderen von Schönheit sehr weit entfernt waren. Was die Teile betrifft, zwischen denen man solche Proportionen findet, so sind diese oft der Lage, Natur und Funktion nach so weit voneinander entfernt, daß ich nicht einzusehen vermag, wie sie überhaupt irgendeinen Vergleich erlauben sollten und wie demzufolge von ihnen eine Wirkung ausgehen könnte, die ihrer Proportion zu verdanken wäre. Der Hals, sagt man, hat bei schönen Körpern denselben Umfang wie die Wade und den doppelten Umfang des Handgelenks; – und eine unendliche Zahl von Bemerkungen solcher Art kann man überall lesen und hören. Aber welche Beziehung hat die Wade zum Hals und jeder von beiden Teilen zum Handgelenk? Sicher lassen sich jene Proportionen an hübschen Körpern finden – aber ebenso sicher auch an häßlichen, wenn sich jemand die Mühe nimmt, sie dort zu suchen. Und ich weiß nicht einmal, ob sie nicht an manchen Körpern, die zu den schönsten gehören, gerade am wenigsten exakt vorhanden sind. Man mag beliebige Proportionen für alle Teile des menschlichen Körpers festsetzen – und ich garantiere dafür, daß ein Maler sich an alle halten kann wie an die Offenbarung selbst und trotzdem, wenn er will, eine äußerst häßiche Gestalt zustande bringt. Und derselbe Maler kann beträchtlich von den vorgeschriebenen Proportionen abweichen und eine ausnehmend schöne Gestalt hervorbringen. In der Tat kann man an den Meisterwerken antiker und moderner Skulptur bemerken, daß einige von ihnen sehr weit von den Proportionen der anderen abweichen, und zwar in sehr auffallenden Teilen von großer Wichtigkeit; – daß sie aber nicht weniger abweichen von den Proportionen, die wir an lebenden Menschen von außergewöhnlich einnehmender und angenehmer Gestalt finden. Und schließlich: wie weit sind sich denn die Verteidiger der proportionalen Schönheit untereinander über die richtigen Proportionen des menschlichen Körpers einig? Einige sind der Meinung, daß er die siebenfache Länge des Kopfes haben müsse; andere verlangen die achtfache und wieder andere gehen bis zur zehnfachen Länge –welch ungeheure Differenz angesichts so kleiner Verhältniszahlen! Andere wenden andere Methoden zur Einschätzung der Proportionen an – und alle mit demselben Erfolg. Aber sind diese Proportionen wirklich genau gleich bei allen hübschen Männern? Und kann man dieselben Proportionen überhaupt an schönen Frauen finden? Niemand wird das bejahen, und doch sind beide Geschlechter unzweifelhaft der Schönheit fähig und das weibliche der größten – ein Vorzug, der nach meiner Meinung schwerlich einer höheren Exaktheit der Proportionen beim schönen Geschlecht zuzuschreiben ist. Wir wollen einen Augenblick bei diesem Punkt verweilen und näher betrachten, wie groß die Differenz ist, die zwischen den Maßen gleicher Körperteile besteht – allein bei den beiden Geschlechtern dieser einzelnen Gattung von Lebewesen.Wenn man irgendwelche bestimmte Proportionen für die Gliedmaßen des Mannes feststellt und menschliche Schönheit nur bei Vorliegen dieser Proportionen anerkennt, so muß man –auch entgegen allen Eingebungen der Einbildungskraft – zu dem Schluß kommen, daß eine Frau nicht schön ist, bei der man in Bau und Maß fast aller Teile Abweichungen von diesen Proportionen findet; oder man muß der Einbildungskraft folgen und jene Regeln aufgeben, muß Elle und Winkelmaß beiseite legen und nach einer anderen Ursache der Schönheit Ausschau halten. Denn falls Schönheit an ein bestimmtes Maß geknüpft wäre, das nach einem Naturprinzip wirkte, – wie sollte bei gleichen Teilen Schönheit gefunden werden, wenn sie verschiedene Proportionen aufweisen, und dies auch noch bei derselben Gattung? Wenn man klarer sehen will, ist es wichtig, zu beachten, daß fast alle Tiere Körperteile von sehr ähnlicher Natur haben, die auch nahezu denselben Zwecken dienen: Kopf, Hals, Rumpf alle Tiere Körperteile von sehr ähnlicher Natur haben, die f, Füße, Augen, Ohren, Nase und Mund. Aber die Vorsehung hat auf der Grundlage dieser wenigen gleichartigen Organe und Gliedmaßen eine in Bau, Maß und Verhältnis der Teile fast unendliche Verschiedenheit der Gestalten geschaffen, um den verschiedenen Bedürfnissen auf die beste Weise zu entsprechen und ihren Reichtum an Weisheit und Güte in ihrer Schöpfung voll zu entfalten. Wie wir aber oben bemerkten, ist trotz dieser unendlichen Verschiedenheit eine Eigentümlichkeit sehr vielen Gattungen gemeinsam: einige individuelle Exemplare der Gattung sind fähig, uns mit einer Empfindung der Lieblichkeit zu affizieren; und während sie darin übereinstimmen, daß sie diese Wirkung hervorbringen, so unterscheiden sie sich doch aufs äußerste in den relativen Maßen der Teile, denen die Wirkung zuzuschreiben ist. Diese Beobachtungen würden mir genügen, um die Vorstellung abzulehnen, daß irgendwelche besondere Proportionen von Natur aus eine angenehme Wirkung zustande brächten; aber diejenigen, die mit mir im Hinblick auf eine besondere Proportion übereinstimmen, werden immer noch voreingenommen sein zugunsten einer weniger bestimmten Proportion. Sie meinen: wenn auch Schönheit nicht allgemein mit bestimmten Maßen verknüpft ist, die allen Arten von Pflanzen und Tieren, die uns Vergnügen machen, gemeinsam wären, so gebe es doch für jede einzelne Gattung eine bestimmte Proportion, die für die Schönheit dieser besonderen Art absolut wesentlich sei. Wenn wir die Tierwelt im allgemeinen betrachten, so finden wir Schönheit auf keine bestimmten Maße beschränkt; da sich aber jede besondere Tierklasse durch besondere Maße und Verhältnisse seiner Körperteile auszeichnet, so muß selbstverständlich jedes schöne Tier die Maße und Proportionen seiner Klasse haben; andernfalls würde es ja von seiner eigenen Gattung abweichen und irgendwie zum Monstrum werden; trotzdem ist keine Gattung so streng an bestimmte Proportionen gebunden, daß es keine beträchtliche Verschiedenheit unter ihren Individuen gäbe; und wie wir für die menschliche Gattung gezeigt haben, so läßt sich auch für die Tierarten zeigen, daß Schönheit ohne Unterschied bei allen Proportionen zu finden ist, die eine Art nur immer zulassen kann, ohne daß ihre gemeinschaftliche Form verlassen wird; und nicht die Wirksamkeit irgendeiner natürlichen Ursache, sondern diese Idee der gemeinschaftlichen Form ist überhaupt das, was die Aufmerksamkeit auf die Proportion der Teile lenkt. In der Tat kann schon eine kurze Überlegung deutlich werden lassen, daß nicht das Maß, sondern die Art und Weise alle Schönheit erschafft, die die Gestalt betrifft.

Welches Licht können uns jene vielgerühmten Proportionen bringen, wenn wir uns mit Gestaltungen der Kunst beschäftigen? Es erscheint mir erstaunlich, daß die Künstler – wenn sie davon, daß Proportion die Hauptursache der Schönheit ist, wirklich so fest überzeugt sind, wie sie zu sein behaupten –vermöge dessen nicht allezeit im Besitz exakter Maßstäbe für alle Arten schöner Lebewesen sind, die ihnen zu den richtigen Proportionen verhelfen, wenn sie irgend etwas Geschmackvolles ersinnen wollen; namentlich da sie häufig versichern, daß sie sich in ihrer Praxis nach der Beobachtung des Schönen in der Natur richten. Ich weiß, man sagt es schon lange genug, einer redet es dem anderen nach, und das Echo wiederholt es tausendmal in allen Richtungen: die Proportionen der Gebäude seien denen des menschlichen Körpers entnommen. Um diese künstliche Analogie durchzuführen, stellt man sich einen Mann vor, der seine Arme in voller Länge seitwärts ausstreckt, und beschreibt dann ein Viereck, indem man durch die äußersten Punkte dieser seltsamen Figur Linien zieht. Es erscheint mir aber völlig klar, daß die menschliche Gestalt dem Architekten niemals irgendeine seiner Ideen liefert. Denn erstens sieht man Menschen nur sehr selten in dieser anstrengenden Haltung; sie ist ihnen nicht natürlich und kommt ihnen auch nicht zu. Zweitens legt der Anblick einer menschlichen Gestalt in dieser Haltung natürlicherweise gar nicht die Idee eines Vierecks, sondern viel eher die eines Kreuzes nahe; denn der große leere Raum zwischen Armen und Erdboden müßte erst ausgefüllt werden, ehe er irgend jemand an ein Viereck denken lassen kann. Drittens haben viele Gebäude keineswegs die Form dieses eigentümlichen Vierecks, sind trotzdem von den besten Architekten entworfen worden und zeigen allesamt eine ebenso gute, ja vielleicht eine bessere Wirkung. Und sicher könnte es nichts Abstruseres geben, als wenn ein Architekt sein Werk nach der menschlichen Figur bilden wollte, denn es gibt sicher keine zwei Dinge, die weniger Ähnlichkeit oder Analogie miteinander haben wie ein Mensch einerseits und ein Haus oder Tempel andererseits. Müssen wir ausdrücklich hinzufügen, daß auch ihre Zwecke völlig verschieden sind? Ich neige zu folgender Vermutung: diese Analogien wurden lediglich erfunden, um den Werken der Kunst durch den Aufweis einer Gleichartigkeit zwischen ihnen und den edelsten Werken der Natur ein größeres Ansehen zu verschaffen, – nicht aber um aus der Natur ernstlich Winke für eine vollkommene Gestaltung jener Kunstwerke zu gewinnen. Daß die Schutzherren der Proportion ihre künstlichen Ideen in die Natur hineingetragen und nicht aus ihr gewonnen und dann in Werken der Kunst angewandt haben –davon bin ich um so fester überzeugt, als sie bei jeder Diskussion über diesen Gegenstand sobald wie möglich das offene Feld der natürlichen Schönheit, das Pflanzen- und Tierreich, verlassen, um sich nur noch mit den künstlichen Linien und Winkeln der Architektur zu befassen. Denn die Menschen haben einen unglücklichen Hang, sich selber, ihren Anblick, ihre Werke zum Maßstab der Vollkommenheit aller möglichen Dinge zu machen. Als sie etwa bemerkt hatten, daß ihre Wohnungen besonders bequem und fest wurden, wenn sie in regelmäßigen Formen mit lauter einander entsprechenden Teilen ausgeführt waren, – so übertrugen sie diese Ideen auf ihre Gärten; sie machten ihre Bäume zu Pfeilern, Pyramiden und Obelisken, sie formten ihre Hecken zu grünen Wänden; sie legten ihre Wege in Vierecken, Dreiecken und anderen mathematischen Figuren an – äußerst exakt und symmetrisch; und sie dachten: da sie die Natur nicht nachahmten, so könnten sie sie letzten Endes gar verbessern und ihr zeigen, wie sie ihre Sache zu machen habe. Aber die Natur hat sich dieser Schulmeisterei, dieser Fesseln endlich doch entledigt; und unsere Gärten – wenn nichts anderes – bekunden unser beginnendes Gefühl dafür, daß mathematische Ideen nicht die wahren Maßstäbe der Kunst sind. Und sicher sind sie es ebensowenig in der tierischen und in der pflanzlichen Welt. Denn ist es nicht höchst bemerkenswert, daß in jenen zarten Beschreibungen, in den unzähligen Oden und Elegien, die im Munde aller Welt erklingen und von denen viele wohl ganze Zeitalter entzückt haben, daß in diesen Kunstwerken, in denen die Liebe mit einer so leidenschaftlichen Energie beschrieben und ihre Objekte in so unendlich verschiedenem Licht gezeigt werden, niemals auch nur ein einziges Wort von Proportion gesagt wird – wie doch geschehen müßte, wenn Proportion das wäre, worauf viele beharren: der Hauptbestandteil der Schönheit –, während andere Qualitäten so häufig und in so warmen Tönen erwähnt werden? Aber wenn Proportion diese Macht nicht hat, so könnte es unverständlich erscheinen, wie es überhaupt zu den Vorurteilen vieler Menschen zugunsten der Proportion gekommen ist. Der Ursprung liegt, so meine ich, in der bereits erwähnten Vorliebe für die eigenen Werke und Vorstellungen, die die Menschen so deutlich an den Tag legen; er liegt in falschen Räsonnements über die Wirkungen der Gewohnheit auf die Gestalt von Lebewesen; er liegt in der Platonischen Theorie über Brauchbarkeit und Eignung. Aus diesem Grunde werde ich im nächsten Abschnitt die Wirkungen der Gewohnheit auf die Gestalt der Lebewesen und dann die Idee der Brauchbarkeit untersuchen. Denn wenn Proportion nicht durch eine natürliche Macht wirkt, die mit gewissen Maßen verknüpft ist, so muß sie es durch die Gewohnheit oder die Idee der Nützlichkeit tun; einen anderen Weg gibt es nicht.

5. Weiteres über Proportion. Gewohnheit

Wenn ich nicht irre, entstammen die Vorurteile zugunsten der Proportion – wenigstens zum guten Teil – weniger einer Beobachtung über irgendwelche feste Maße, die in schönen Körpern zu finden wären, als vielmehr einer irrigen Idee über das Verhältnis zwischen Mißgestalt und Schönheit, nämlich insofern man dieses Verhältnis als einen Gegensatz betrachtete. Aus diesem Prinzip schloß man, daß natürlicherweise immer Schönheit zutage treten müßte, wenn die Ursachen einer Mißgestaltung beseitigt würden. Das ist nach meiner Auffassung ein Irrtum. Denn Mißgestalt ist nicht der Gegensatz zu Schönheit, sondern zur vollständigen, normalen Gestalt. Wenn ein Bein eines Menschen kürzer ist als das andere, so ist der Mensch mißgestaltet; denn es fehlt etwas zur Erfüllung der vollständigen Idee, die wir uns von einem Menschen bilden; – und zwar hat dies die gleiche Wirkung bei natürlichen Mängeln wie bei Verstümmelungen, die durch Unfälle verursacht worden sind. Wer einen Buckel hat, ist mißgestaltet; denn sein Rücken hat eine ungewöhnliche Form, die zur Idee einer Beschwerlichkeit oder eines Mißgeschicks Anlaß gibt. Wenn der Hals bei einem Menschen beträchtlich länger oder kürzer als bei anderen ist, so nennen wir den Menschen an diesem Körperteile mißgestaltet, weil eben Menschen gemeinhin nicht so beschaffen sind. Aber sicher kann uns die Erfahrung jeden Tag davon überzeugen, daß ein Mensch zwei gleich lange Beine haben kann, die einander in jeder Hinsicht entsprechen, ferner einen Hals von normaler Größe und einen völlig geraden Rücken, ohne daß an ihm zur gleichen Zeit auch nur die geringste Schönheit wahrzunehmen wäre. Indessen ist Schönheit so weit davon entfernt, zur Idee der Gewohnheit zu gehören, daß vielmehr das, was uns in dieser Weise affiziert, in Wirklichkeit äußerst selten und ungewöhnlich ist. Das Schöne fällt uns in gleichem Maße durch seine Neuheit auf wie das Mißgestaltete. Die Dinge liegen ebenso bei den Tierarten, die uns vertraut sind; und wenn uns ein Tier gezeigt würde, das einer uns noch unbekannten Gattung angehört, so würden wir nicht daran denken, vor der Entscheidung über seine Schönheit oder Häßlichkeit etwa zu warten, bis sich in uns durch Gewohnheit die Idee einer Proportion festgesetzt hätte; dies zeigt, daß die allgemeine Idee der Schönheit ebensowenig der Gewohnheit wie der natürlichen Proportion zu verdanken ist. Mißgestalt entspringt einem Mangel hinsichtlich der gewöhnlichen Proportionen; sind diese aber gegeben, so ist Schönheit keineswegs ihr notwendiges Resultat. Wenn wir annehmen möchten, daß Proportion in natürlichen Dingen relativ auf Gewohnheit und Gebrauch sei, so zeigt dagegen die Natur von Gebrauch und Gewohnheit, daß Schönheit als eine positive und machtvolle Qualität nicht aus ihnen resultieren kann. Wir sind so wunderbar geschaffen, daß wir einerseits von heftiger Begierde nach Neuheit erfüllt und andererseits ebenso stark dem Gewohnten und Gebräuchlichen verhaftet sind. Aber es ist die Natur der Dinge, an die uns eine Gewohnheit fesselt, daß sie uns sehr wenig affizieren, solange wir sie besitzen, aber sehr stark, solange wir sie entbehren. Ich erinnere mich, einen bestimmten Platz lange Zeit Tag für Tag besucht zu haben; und ich muß der Wahrheit zuliebe sagen, daß ich dabei – weit davon entfernt, Vergnügen zu finden – vielmehr von einer Art Überdruß und Widerwillen affiziert wurde; ich kam ohne Vergnügen, ich ging ohne Vergnügen und ich kehrte ohne Vergnügen zurück; als ich nun aber infolge irgendwelcher Umstände einmal versäumte, zur gewohnten Zeit dorthin zu gehen, befiel mich eine merkliche Unlust, und ich fand nicht eher Ruhe, bis ich wieder meine alte Fährte aufgenommen hatte. Wer an Schnupftabak gewöhnt ist, nimmt ihn zumeist, ohne dabei eine Empfindung zu haben; der früher scharfe Geschmackssinn ist so weit abgetötet, daß er sogar von einem so scharfen Reizmittel kaum noch irgend etwas fühlt, aber man nehme dem Tabakschnupfer die Dose weg und er ist der unglücklichste Sterbliche unter der Sonne. In der Tat sind Brauch und Gewohnheit, rein als solche, so weit davon entfernt, Vergnügen zu verursachen, daß die Wirkung einer ständigen Übung vielmehr gerade darin besteht,allen Dingen – von welcher Beschaffenheit sie auch seien – ihren Reiz zu nehmen. Denn wie Gewohnheit die schmerzhafte Wirkung vieler Dinge schließlich ganz aufhebt, so vermindert sie die angenehme Wirkung anderer Dinge in gleicher Weise und bringt beides in eine Art von Ausgeglichenheit und Indifferenz. Mit gutem Recht nennt man Gewohnheit eine zweite Natur; und unser natürlicher und gewöhnlicher Zustand ist der einer absoluten Indifferenz, gleichermaßen vorbereitet für Schmerz wie für Vergnügen. Werden wir aber aus diesem Zustand herausgerissen oder irgendeines Dinges beraubt, das zu seiner Aufrechterhaltung erforderlich ist, so fühlen wir uns immer verletzt – wenn jenes Ereignis nicht gerade durch ein Vergnügen herbeigeführt wird, das auf einer mechanischen Ursache beruht. Ebenso verhält es sich mit der zweiten Natur, der Gewohnheit, – in allen Fällen, in denen sie in Betracht kommt. So erregt der Mangel der gewohnten Proportionen an Menschen oder anderen Lebewesen sicher Abscheu, obgleich ihre Gegebenheit keineswegs die Ursache eines wirklichen Vergnügens sein kann. Es ist freilich wahr, daß die Proportionen, die man als die Ursachen der Schönheit des menschlichen Körpers hingestellt hat, häufig bei schönen Menschen vorkommen, – weil sie sich nämlich beim ganzen Menschengeschlecht finden; aber es kann außerdem gezeigt werden, daß sie auch ohne Schönheit bestehen können und Schönheit häufig ohne sie besteht, und daß Schönheit dort, wo sie besteht, immer auf andere, weniger fragwürdige Ursachen zurückgeführt werden kann; das führt uns natürlicherweise zu dem Schluß, daß Proportion und Schönheit keine Ideen von gleicher Natur sind. Der wahre Gegensatz zur Schönheit ist nicht Disproportion oder Mißgestalt, sondern Häßlichkeit; da diese aber aus Ursachen hervorgeht, die denen der positiven Schönheit entgegengesetzt sind, so können wir sie nicht näher betrachten, ehe wir die Schönheit untersucht haben. Zwischen Schönheit und Häßlichkeit gibt es eine Art Mittelmäßigkeit, bei der die aufgestellten Proportionen fast immer zu finden sind, die aber keinerlei Wirkung auf unsere Leidenschaften hat.

6. Brauchbarkeit ist nicht die Ursache der Schönheit

Man hat gesagt, daß die Idee der Nützlichkeit oder die gute Eignung eines Teils zur Erreichung seiner Ziele die Ursache der Schönheit sei – oder sogar die Schönheit selbst. Nur auf Grund dieser These ist es der Lehre von der Proportion möglich gewesen, sich so lange zu halten. Die Welt wäre es bald müde geworden, von Maßen zu hören, die sich auf nichts beziehen, weder auf ein natürliches Prinzip, noch auf eine Brauchbarkeit zur Erreichung gewisser Ziele. Diejenige Idee von Proportion, die die Menschen am allerhäufigsten im Auge haben, ist das Passen von Mitteln für bestimmte Zwecke; wo dies nicht in Frage kommt, dort kümmern sie sich nur sehr selten um die Wirkung der verschiedenen Maße der Dinge. Deshalb ist es für jene Theorie notwendig, darauf zu bestehen, daß nicht nur künstliche, sondern auch natürliche Objekte ihre Schönheit der Brauchbarkeit ihrer Teile für deren verschiedenen Zwecke verdanken. Aber ich befürchte, daß man bei der Aufstellung dieser Theorie die Erfahrung nicht genügend zu Rate gezogen hat. Denn nach diesem Prinzip würde die keilförmige Schnauze eines Schweines mit den zähen Knorpeln am Ende, seine kleinen, tiefliegenden Augen und die ganze Beschaffenheit seines Kopfes, der der Aufgabe des Wühlens und Grabens so trefflich angepaßt ist, außerordentlich schön sein. Der große Beutel, der am Schnabel des Pelikans hängt und für dieses Tier ein höchst nützliches Ding ist, müßte in gleichem Grade schön für unsere Augen sein. Der Igel, der durch seine stachlige Haut gegen alle Angriffe so wohl gesichert ist, und das Stachelschwein mit seinen stark hervortretenden Stacheln müßten dann als recht hübsche Geschöpfe betrachtet werden. Es gibt wenige Tiere, deren Teile sinnvoller erdacht wären als die eines Affen: er hat die Hände eines Menschen und die elastischen Gliedmaßen eines Tieres; er ist bewunderungswürdig eingerichtet zum Laufen, Springen, Hängen und Klettern – und doch gibt es in den Augen der Menschheit wenig Tiere, die geringer an Schönheit wären. Ich brauche kaum etwas über den Rüssel des Elefanten zu sagen, der von so mannigfachem Nutzen ist und so wenig zur Schönheit seines Besitzers beiträgt. Wie wohlgebaut ist der Wolf zum Rennen und Springen, wie bewunderungswürdig ist der Löwe zum Kampf gerüstet! Aber will deshalb irgend jemand Elefant, Wolf und Löwe als schöne Tiere bezeichnen? Ich glaube, niemand wird die Beine des Menschen für so geeignet zum Rennen halten wie die des Pferdes, des Hundes, des Rehes und vieler anderer Geschöpfe; wenigstens sehen sie nicht so aus; und doch wird ein wohlgebildetes menschliches Bein alle anderen bei weitem an Schönheit überragen. Wenn die Brauchbarkeit der Teile das wäre, was die Lieblichkeit ihrer Form ausmachte, so würde ihr wirklicher Gebrauch ohne Zweifel diese Lieblichkeit erheblich steigern; aber obgleich sich die Dinge auf Grund anderer Prinzipien bisweilen tatsächlich so verhalten, ist das keineswegs immer der Fall. Ein Vogel ist im Fluge nicht so schön wie im Sitzen; ja es gibt verschiedene Hausvögel, die man selten fliegen sieht und die nichtsdestoweniger schön sind; aber Vögel sind in ihrer Gestalt so außerordentlich verschieden von Säugetieren und Menschen, daß man ihnen auf Grund des Prinzips der Brauchbarkeit nichts Anziehendes zusprechen dürfte, ohne bedacht zu haben, daß ihre Teile für ganz andere Zwecke bestimmt sind. Ich hatte in meinem Leben niemals die Gelegenheit, einen Pfau fliegen zu sehen; und doch war ich schon lange – sehr lange, ehe ich in seiner Gestalt irgendeine Eignung zu einem Leben in den Lüften bemerkt hätte – von der ungewöhnlichen Schönheit betroffen worden, die den Pfau weit über viele der am besten fliegenden Vögel der Welt erhebt; obgleich doch sein Lebensweg nach allem, was ich sah, weit mehr Ähnlichkeit mit dem des Schweines hatte, das auf dem Gutshof mit ihm herumfraß. Dasselbe kann man von Hähnen, Hühnern und dergleichen sagen: sie gehören nach ihrer Gestalt zu den fliegenden Tieren, in ihrer tatsächlichen Bewegungsart aber unterscheiden sie sich nur wenig von Menschen und Säugetieren. Um nun diese Beispiele aus fremden Gattungen zu verlassen: wenn Schönheit in unserer eigenen Gattung an den Nutzen geknüpft wäre, so müßten Männer viel lieblicher sein als Frauen, und Stärke und Behendigkeit müßten als die einzigen Arten von Schönheit betrachtet werden. Aber um Stärke als Schönheit anzusprechen, um nur eine einzige Bezeichnung zu haben für die fast in jeder Hinsicht so völlig verschiedenen Qualitäten einer Venus und eines Herkules, – dazu gehört sicher eine absonderliche Verwirrung der Ideen oder ein ebenso absonderlicher Mißbrauch von Wörtern. Die Ursache dieser Verwirrung liegt nach meiner Auffassung darin, daß Körperteile von Menschen oder anderen Lebewesen, die sehr schön sind, oft zugleich auch ihren Zwecken sehr gut angepaßt sind. Wir werden getäuscht durch einen Fehlschluß, der das für eine Ursache nehmen läßt, was lediglich ein begleitender Umstand ist: das ist der Fehlschluß der Fliege, die sich einbildete, großen Staub aufzuwirbeln, weil sie auf dem Wagen saß, der das / wirklich tat. Magen, Lunge, Leber und andere Körperteile sind ihren Zwecken aufs allerbeste angepaßt und sind doch weit von jeder Schönheit entfernt. Auf der anderen Seite sind viele Dinge sehr schön, in denen man keinerlei Idee von Nützlichkeit entdecken kann. Und ich berufe mich auf die ersten und natürlichsten Gefühle jedes Menschen und frage, ob sich bei der Betrachtung eines schönen Auges, eines wohlgebildeten Mundes, eines gutgeformten Beines ihm irgendwelche Ideen davon darbieten, daß sie zum Sehen, Essen und Laufen besonders brauchbar wären? Welche Idee von Nützlichkeit erregen wohl die Blumen, der schönste Teil der Pflanzenwelt? Es ist wahr, der unermeßlich weise und gütige Schöpfer hat aus überquellender Gebelust oft auch noch Schönheit an die Dinge geknüpft, die er für uns nützlich gemacht hat; aber das beweist nicht, daß Nutzen und Schönheit ein und dieselbe Idee wären oder irgendwie voneinander abhingen.

7. Die wahren Wirkungen der Brauchbarkeit

Wenn ich Proportion und Brauchbarkeit von jedem Anteil an der Schönheit ausschließe, so will ich damit keineswegs sagen, daß sie keinen Wert hätten oder daß sie bei Kunstwerken außer Betracht bleiben müßten. Kunstwerke sind gerade die eigentliche Sphäre ihrer Macht, und hier haben sie ihre volle Wirkung. Wo immer die Weisheit unseres Schöpfers in die Richtung ging, daß wir von irgendeinem Ding affiziert werden sollten, dort überließ er die Ausführung seiner Absicht nicht der langsamen und unsicheren Tätigkeit unserer Vernunft; er versah vielmehr das Ding mit Kräften und Eigenschaften, die dem Verstande und selbst dem Willen zuvorkommen, indem sie die Seele durch Einwirkung auf Sinne und Einbildungskraft fesseln, bevor der Verstand so weit ist, entweder mit ihnen zusammen- oder ihnen entgegenzuwirken. Nur durch ausgiebige Denkarbeit und eingehende Studien kommen wir dazu, die anbetungswürdige Weisheit Gottes in seinen Werken zu entdecken; wenn wir sie aber entdecken, so ist die Wirkung auf uns – nicht allein in der Art, in der wir sie erfahren, sondern auch in ihrer eigenen Natur – sehr verschieden von derjenigen, die uns, ohne jede Vorbereitung, vom Erhabenen und Schönen her trifft. Wie sehr unterscheidet sich die Befriedigung des Anatomen, der die Funktion der Muskeln und der Haut entdeckt – die vortreffliche Einrichtung der ersteren für die verschiedenen Bewegungen des Körpers und das wundervolle Gewebe der letzteren, das einerseits ein allgemeiner Schutz und andererseits ein allgemeiner Ausgang aus dem Körper wie Eingang in den Körper ist –, wie sehr unterscheidet sich eine solche Befriedigung von dem Affekt, der einen normalen Menschen beim Anblick von zarter, sanfter Haut und von allen anderen Körperteilen ergreift, deren Schönheit auch ohne Forschertätigkeit wahrgenommen werden kann. Wenn wir im ersten Falle mit Verehrung und Lobpreisung zum Schöpfer aufblicken, kann das ursächliche Objekt häßlich und widerwärtig sein; im zweiten Falle aber berührt uns Schönheit durch ihre Macht über die Einbildungskraft oft derart, daß wir das Kunstvolle ihres Planes nur recht wenig beachten können; wir haben dann eine starke Anstrengung unserer Vernunft nötig, um unser Gemüt den Reizen des Objekts zu entreißen und der Betrachtung jener Weisheit zuzuwenden, die eine so machtvolle Maschine erdacht hat. Die Wirkung von Proportion und Brauchbarkeit, wenigstens soweit sie allein aus der Betrachtung des Werkes selbst hervorgeht, besteht in einer Billigung, einer Befriedigung des Verstandes, aber nicht in Liebe oder in irgendeiner anderen Leidenschaft dieser Art. Wenn wir den Bau einer Taschenuhr untersuchen und den Nutzen jedes ihrer Teile bis ins einzelne kennenlernen, so sind wir zwar befriedigt über die Brauchbarkeit des Ganzen, aber weit davon entfernt, so etwas wie Schönheit im Uhrwerk selbst wahrzunehmen; wenn wir dann aber auf das Gehäuse blicken, das die Arbeit eines tüchtigen Graveurs zeigt – ohne eine Idee von Nutzen oder doch nur mit einer sehr geringen –, so werden wir eine weit lebendigere Idee von Schönheit haben, als wir sie jemals durch die Uhr selbst bekommen könnten – trotz des Meisterwerks von Graham. Bei der Schönheit geht die Wirkung, wie ich sagte, jeder Kenntnis des Nutzens voraus; um aber über Proportion urteilen zu können, müssen wir den Zweck kennen. für den ein Werk bestimmt ist. Mit dem Zweck ändert sich auch die Proportion. Ein Turm hat eine andere Proportion als ein Haus, eine Galerie eine andere als eine Halle oder ein Zimmer. Um über die Proportionen solcher Dinge urteilen zu können, muß man erst mit den Zwecken vertraut sein, für die sie bestimmt sind. Gesunder Menschenverstand und Erfahrung machen zusammen ausfindig, was man bei Kunstwerken jeweils am besten tut. Wir sind vernünftige Geschöpfe und müssen bei allen unseren Werken Zweck und Ziel bedenken; die Befriedigung irgendeiner Leidenschaft, und sei sie die unschuldigste, darf erst in zweiter Linie in Betracht kommen. Hierin liegt die wahre Macht von Brauchbarkeit und Proportion: sie wirken auf den Verstand, indem der Verstand sie abschätzt und dann dem Werk zustimmt und es billigt. Die Einbildungskraft, die die Leidenschaften in erster Linie erregt, und die Leidenschaften selbst haben hier sehr wenig zu tun. Wenn wir einen Raum in seiner ursprünglichen Nacktheit sehen – nur die Wände und eine glatte Decke –, so mögen die Proportionen noch so vorzüglich sein: er wird uns sehr wenig gefallen, und eine kalte Billigung ist das Äußerste, was ihm zuteil werden kann. Ein sehr schlecht proportionierter Raum mit eleganten Friesen, netten Girlanden, Spiegeln und anderem rein ornamentalen Aufputz wird die Einbildungskraft gegen die Vernunft aufbegehren lassen: er wird uns weit mehr gefallen als die nackte Proportion des ersten Raumes, die der Verstand so stark billigte – als hervorragend brauchbar für seine Zwecke. Was ich hier und weiter oben über Proportion gesagt habe, soll keineswegs irgend jemanden dazu überreden, daß er absurderweise die Idee des Nutzens in den Werken der Kunst vernachlässige. Es soll zeigen, daß diese beiden vorzüglichen Dinge, Schönheit und Proportion, nicht identisch sind – nicht aber, daß eins von beiden mißachtet werden dürfe.

8. Wiederholung

Wir fassen zusammen: Wenn wir diejenigen menschlichen Körperteile, die wir proportioniert finden, immer auch in gleicher Weise schön fänden – was wir sicher nicht tun –; oder wenn ihre Lage so wäre, daß ihr Vergleich ein unmittelbares Vergnügen gewährte – was nur selten der Fall ist –; oder wenn bei Pflanzen oder Tieren irgendwelche Proportionen nachweisbar wären, die immer mit Schönheit verknüpft wären – was keinesfalls zutrifft –; oder wenn einerseits dort, wo Teile wohlangepaßt an ihre Zwecke sind, sie immer auch schön wären, und es andererseits dort, wo kein Nutzen zutage tritt, auch keine Schönheit gäbe – was aller Erfahrung widerspricht –: so wäre der Schluß gerechtfertigt, daß Schönheit in Proportion oder Nützlichkeit bestehe. Da aber nun in allen diesen Punkten gerade das Gegenteil der Fall ist, so dürfen wir überzeugt sein, daß Schönheit nicht auf diesen Umständen beruht – mag das andere, dem sie ihren Ursprung verdankt, nun auch sein, was es will.

9. Vollkommenheit ist nicht die Ursache der Schönheit

Es gibt noch eine andere verbreitete Vorstellung, die mit der soeben erörterten sehr nahe verwandt ist: daß nämlich Vollkommenheit die grundlegende Ursache der Schönheit sei. Diese These ist in einem Sinne aufgestellt worden, daß sie sich weit über die sinnlichen Objekte hinaus erstreckt. Aber in sinnlichen Objekten ist Vollkommenheit, als solche betrachtet, so wenig die Ursache von Schönheit, daß die Qualität der Schönheit, wo sie im höchsten Grade vorhanden ist – nämlich im weiblichen Geschlecht –, fast immer eine Idee von Schwäche und Unvollkommenheit mit sich führt. Frauen wissen das recht gut; aus diesem Grunde üben sie sich darin, zu lispeln, unsicher zu laufen und den Anschein von Schwäche und sogar von Krankheit zu bieten. Zu alledem werden sie von der Natur angeleitet. Schönheit in der Not ist vielfach die eindrucksvollste Schönheit. Erröten hat kaum geringere Macht; und im allgemeinen wird Bescheidenheit – ein stillschweigendes Eingeständnis von Unvollkommenheit – schon an sich als eine liebenswürdige Qualität betrachtet und erhöht sicher die Liebenswürdigkeit jeder anderen. Ich weiß, es ist in jedermanns Munde, daß wir Vollkommenheit lieben sollten. Das ist für mich ein hinreichender Beweis dafür, daß sie nicht das eigentliche Objekt der Liebe ist. Wer würde jemals sagen, wir „sollten“ eine hübsche Frau lieben – oder auch nur irgendwelche schöne Tiere, die uns gefallen. Um hier affiziert zu werden, ist nicht erst die Mitwirkung unseres Willens nötig.

10. Inwiefern die Idee der Schönheit auf Qualitäten
des Gemüts anwendbar ist

Die Bemerkung am Schluß des vorigen Abschnitts läßt sich im allgemeinen ebensogut auf Qualitäten des Gemüts anwenden. Die Tugenden, die Bewunderung verursachen und zu der erhabenen Art gehören, bringen eher Schrecken als Liebe hervor: so etwa Tapferkeit, Gerechtigkeit, Weisheit und ähnliche. Niemals war jemand kraft solcher Qualitäten liebenswürdig. Die Tugenden, die unser Herz für sich einnehmen, die in uns einen Eindruck von Lieblichkeit hervorrufen – wie Ungezwungenheit, Mitgefühl, Freundlichkeit oder Freigebigkeit –, sind sanfter, obgleich sie sicher von weniger unmittelbarer Wichtigkeit für die Gesellschaft und auch von geringerer Würde sind. Aber gerade aus diesem Grunde sind sie so liebenswürdig. Bei den großen Tugenden geht es hauptsächlich um Gefahren, Vergeltungen und Mühsale; ihre Ausübung betrifft mehr die Verhinderung des ärgsten Unheils als die Austeilung von Gütern; sie sind deshalb nicht lieblich, dafür aber höchst ehrwürdig. Bei den weniger hochstehenden Tugenden geht es um Unterstützungen, Geschenke, Entgegenkommen; sie sind also lieblicher, aber weniger würdevoll. Die Menschen, die sich in die Herzen der meisten Leute einschleichen, die zu Gefährten ihrer zarteren Stunden erkoren werden und bei denen man Angst und Sorge vergessen will: das sind niemals die Menschen mit glänzenden Qualitäten oder starken Tugenden. Es ist vielmehr die sanfte Jugendfrische der Seele, in deren Anblick unsere Augen Ruhe finden, wenn sie ermüdet sind vom Anschauen glanzvollerer Objekte. Es ist der Beachtung wert, wie verschieden wir uns affiziert fühlen, wenn wir von den Charakteren Caesars oder Catos lesen, wie sie bei Sallust so feinsinnig gezeichnet und gegenübergestellt sind: beim einen das Verzeihen und Gewähren (ignoscendo, largiundo), beim anderen das Nichtsgewähren (nil largiundo), der eine als Zuflucht der Unglücklichen (miseris perfugium), der andere als Verderben der Bösen (malis perniciem). Beim zweiten finden wir viel zu bewundern, viel zu verehren und vielleicht einiges zu fürchten; wir haben Hochachtung vor ihm, aber bleiben womöglich in einiger Entfernung. Der erste macht uns mit sich vertraut; wir lieben ihn, und er kann uns führen, wohin es ihm gefällt. Um die Dinge noch näher an unsere ersten und natürlichsten Gefühle heranzuführen, will ich eine Bemerkung hinzufügen, die ein geistvoller Freund beim Lesen dieses Abschnitts machte: Die Autorität unseres Vaters, so nützlich für unser Wohlbefinden und so verehrungswürdig sie in jeder Hinsicht ist, hindert uns doch daran, zu ihm dieselbe volle Liebe zu haben wie zu unserer Mutter, bei der die elterliche Autorität fast zerschmilzt in mütterlicher Zärtlichkeit und Nachsicht. Aber wir haben ganz allgemein eine große Liebe zu unseren Großvätern, deren Autorität einen etwas größeren Abstand von uns hat und durch die Schwäche des Alters zu einer Art weiblicher Zuneigung herabgemildert wird.

11. Inwiefern die Idee der Schönheit auf Tugend
anwendbar ist

Aus den Ausführungen des vorigen Abschnitts können wir leicht ersehen, inwieweit sich das Wort Schönheit in seinem eigentlichen Sinne auf Tugend anwenden läßt. Wenn man diese Qualität ganz allgemein der Tugend zuspricht, so enthält dies eine starke Tendenz zur Verwirrung unserer Ideen von den Dingen und gibt einer unendlichen Menge absonderlichster Theorien Raum; – ebenso wie die Verknüpfung des Namens Schönheit mit Proportion, Angemessenheit, Vollkommenheit und mit solchen Qualitäten der Dinge, die noch weiter voneinander und von unseren natürlichen Ideen über die Schönheit entfernt sind, dahin geführt hat, unsere Ideen von Schönheit zu verwirren und nur solche Maßstäbe und Regeln für unsere Urteile übrigzulassen, die noch unsicherer und trügerischer sind als unsere eigenen Grillen. Eine so nachlässige und unpräzise Redeweise hat uns sowohl in der Theorie des Geschmacks wie der Moral irregeführt und uns dazu verleitet, die wissenschaftliche Behandlung unserer Pflichten von ihrer eigentlichen Grundlage (unserer Vernunft, unseren Verhältnissen und unseren Bedürfnissen) abzulösen und auf Fundamenten zu erbauen, die gänzlich phantastisch sind und jeder Substanz entbehren.

12. Die wahre Ursache der Schönheit

Nachdem wir zu zeigen versucht haben, was Schönheit nicht ist, bleibt uns noch übrig, mit mindestens gleicher Sorgfalt zu prüfen, worin sie nun in Wirklichkeit besteht. Schönheit ist ein viel zu eindrucksvolles Ding, um nicht auf irgendwelchen positiven Qualitäten beruhen zu müssen. Und da sie keine Schöpfung unserer Vernunft ist; da sie uns ohne jede Beziehung zu einem Nutzen berührt, ja selbst dort, wo überhaupt kein Nutzen festzustellen ist; da schließlich Ordnung und Methode der Natur im allgemeinen sehr verschieden von unseren Maßen und Proportionen sind: so müssen wir schließen, daß Schönheit in der Hauptsache irgendeine Qualität an Körpern ist, die durch Vermittlung der Sinne in mechanischer Weise auf das menschliche Gemüt einwirkt. Wir müssen also sorgfältig untersuchen, wie die sinnlichen Qualitäten solcher Dinge geartet sind, die wir erfahrungsgemäß schön finden oder die in uns die Leidenschaft der Liebe oder irgendeinen entsprechenden Affekt erregen.

13. Schöne Objekte sind klein

Der augenfälligste Punkt, der sich uns bei der Prüfung irgendeines Objektes darbietet, ist dessen Ausdehnung oder Quantität. Und welches Maß von Ausdehnung bei Körpern vorherrscht, die für schön gehalten werden, kann man aus der Art entnehmen, in der man sich über sie auszudrücken pflegt. Ich habe mir berichten lassen, daß man in den meisten Sprachen von den Objekten der Liebe mit Diminutiven, also mit Wörtern spricht, die einen verkleinernden Zusatz enthalten. Jedenfalls geschieht das bei allen Sprachen, in denen ich‘. irgendwelche Kenntnisse habe. Im Griechischen sind das ἱoῠ und andere Diminutiv-Endungen fast durchweg Zeichen der Zuneigung und Zärtlichkeit. Diese Diminutiv-Endungen wurden von den Griechen gewöhnlich den Namen solcher Personen beigefügt, mit denen sie in Ausdrücken der Freundschaft und Vertraulichkeit verkehren wollten. Obgleich die Römer ein Volk von weniger lebhaften und feinen Gefühlen waren, so verfielen sie doch bei den gleichen Gelegenheiten natürlicherweise ebenfalls in die verkleinernde Ausdrucksweise. Im alten Englisch wurde das verkleinernde „ling“ den Namen der Personen und Dinge beigefügt, die Objekte der Liebe waren. Einige solche Ausdrücke haben sich noch erhalten, wie „darling“ (oder little dear, kleines Liebes) und wenige andere. In der Umgangssprache ist es überhaupt noch heutzutage üblich, allen Dingen, die wir lieben, das Zärtlichkeitswort „little“ (klein) hinzuzufügen. Die Franzosen und Italiener gebrauchen solche gefühlvolle Diminutiva noch häufiger als wir. In der Welt der Lebewesen außerhalb unserer eigenen Gattung ist es das Kleine, gegenüber dem wir zur Zärtlichkeit geneigt sind: kleine Vögel und einige kleinere Säugetiere. Ein großes schönes Ding — das ist eine Ausdrucksweise, die kaum jemals zu hören ist; aber von einem großen häßlichen Ding spricht man alle Tage. Es besteht ein sehr erheblicher Unterschied zwischen Bewunderung und Liebe. Das Erhabene, das die Ursache der Bewunderung ist, hat seinen Sitz nur in großen und schrecklichen Objekten; Liebe betrifft kleine, angenehme Objekte; wir unterwerfen uns dem, was wir bewundern, aber wir lieben das, was sich uns unterwirft; in dem einen Falle wird unsere Zustimmung erzwungen, im anderen erschmeichelt. Kurz, die Ideen des Erhabenen und des Schönen stehen auf so verschiedenen Fundamenten, daß schwerlich — fast hätte ich gesagt: überhaupt nicht — daran zu denken ist, sie in ein und demselben Gegenstand zur Versöhnung zu bringen, ohne die Wirkung einer der beiden Ideen auf die Leidenschaften erheblich zu beeinträchtigen. Das heißt in quantitativer Hinsicht, daß schöne Objekte verhältnismäßig klein sind.

14. Glätte

Die nächste Eigentümlichkeit, die an schönen Objekten ständig beobachtet werden kann, ist Glätteieine Qualität, die der Schönheit so wesentlich ist, daß ich mich keines schönen Dinges erinnere, das nicht glatt wäre. An Bäumen und Blumen sind glatte Blätter schön, in Gärten glatte Abhänge, in der Landschaft ein glatter Wasserlauf; in der Tierwelt ist schön ein glattes Vogelgefieder oder ein glatter Tierpelz; an einer hübschen Frau eine glatte Haut; und an den verschiedenen Arten von Zierat ist schön eine glatte, polierte Oberfläche. Ein sehr beträchtlicher Teil der Wirkung von Schönheit – ja tatsächlich der allerbeträchtlichste – ist dieser Qualität zu verdanken. Denn wenn man irgendein schönes Objekt nimmt und seine Oberfläche brüchig und rauh macht, so wird es nicht länger gefallen, wie wohlgebildet es in anderen Hinsichten auch sein mag. Andererseits lasse man ein Objekt so viele andere Grundlagen der Schönheit verlieren, wie man mag: wenn es nur diese eine Qualität behält, so wird es immer noch besser gefallen als fast alle anderen Objekte, die sie nicht haben. Das erscheint mir so evident, daß ich mich darüber einigermaßen wundere, weshalb niemand, der diesen Gegenstand behandelt hat, bei der Aufzählung der Qualitäten, die zur Bildung von Schönheit gehören, die Qualität der Glätte auch nur im geringsten erwähnt hat. Denn in der Tat widersprechen jede Rauheit, jeder plötzliche Vorsprung und jeder scharfe Winkel der Idee der Schönheit im höchsten Grade.

15. Allmähliche Änderung

Aber wie die vollkommen schönen Körper nicht aus winkeligen Teilen zusammengesetzt sein können, so bewegen sich ihre Teile auch nicht lange in derselben geraden Linie**. Sie ändern ihre Richtung jeden Augenblick – und ändern sie unter dem Auge des Beobachters durch eine ununterbrochen fortschreitende Abweichung, für deren Beginn oder Ende es aber schwer wäre, einen festen Punkt anzugeben. Der Anblick eines schönen Vogels wird diese Bemerkung illustrieren. Wir sehen hier den Kopf unmerklich nach der Mitte hin zunehmen und von dort aus allmählich wieder abnehmen, bis er in den Hals übergeht; der Hals seinerseits verliert sich in einem stärkeren Anschwellen, das sich bis zur Mitte des Rumpfes fortsetzt; von dort aus nimmt der ganze Körper wieder gegen den Schwanz hin ab; der Schwanz schlägt eine neue Richtung ein, verändert sie aber bald erneut und kommt wieder mit den anderen Teilen zusammen; so wechselt der Umriß fortgesetzt, und auf jeder Seite geht es ständig auf und ab. Bei dieser Beschreibung habe ich die Idee einer Taube vor meinem Auge, die sehr gut mit den meisten Bedingungen der Schönheit zusammenstimmt: sie ist glatt und flaumig; ihre Teile sind (um diesen Ausdruck zu gebrauchen) ineinander verschmolzen; nichts tritt an dem Ganzen plötzlich hervor, und doch ist das Ganze in beständigem Wechsel. Man betrachte den Teil einer schönen Frau, der vielleicht der schönste ist – den um Hals und Brust: die Glätte, die Weichheit, das leichte, unmerkliche Anschwellen; die wechselnde Oberfläche, die sich niemals auch nur an der kleinste Stelle gleichbleibt; den täuschungsvollen Irrgarten, durch den das unstete Auge schwankend fortgleitet, ohne zu wissen, wo es sich festhalten soll und wohin es verführt wird. Ist dies nicht ein Musterbeispiel jenes Wechsels der Oberfläche – ununterbrochen und doch an keinem bestimmten Punkte deutlich wahrnehmbar –, der eine der großen Grundlegen der Schönheit bildet? Es macht mir nicht wenig Vergnügen, zu finden, daß ich mich zur Stützung meiner Theorie in diesem Punkte auf die Meinungen des sehr geistvollen Herrn Hogarth berufen kann, dessen Idee von der Schönheitslinie ich im allgemeinen für außerordentlich richtig halte. Aber die Idee der Änderung – ohne scharfe Beachtung der Art und Weise der Änderung – führte ihn dazu, auch winklige Figuren als schön zu betrachten. Solche Figuren, es ist wahr, ändern sich stark; aber sie ändern sich in plötzlicher und abrupter Weise; und ich kenne kein natürliches Objekt, das winklig und zu gleicher Zeit schön wäre. Tatsächlich sind wenige natürliche Objekte vollständig winklig; aber ich meine: diejenigen, die dem am nächsten kommen, sind die häßlichsten. Ich muß hinzufügen: obgleich die sich ändernde Linie die einzige ist, in der vollkommene Schönheit begründet ist, so gibt es doch – soweit ich die Natur beobachten konnte – keine einzelne Linie, die an höchstvollkommenem Schönen immer zu finden wäre und deshalb allen anderen Linien an Schönheit überlegen wäre. Wenigstens konnte ich dies niemals bemerken.

16. Zartheit

Ein Anflug von Robustheit und Stärke ist der Schönheit sehr abträglich. Ein Anschein von Zartheit und selbst von Gebrechlichkeit ist ihr beinahe wesentlich. Jeder, der die pflanzliche und tierische Schöpfung untersucht, wird diese Bemerkung in der Natur begründet finden. Nicht die Eiche, die Esche, die Ulme oder sonst einen robusten Baum des Waldes finden wir schön; diese Bäume sind nur ehrfurchtgebietend und majestätisch und flößen eine Art von Verehrung ein. Aber die zarte Myrte, der Orangen- und der Mandelbaum, der Jasmin, der Weinstock: – sie sind es, die wir als pflanzliche Schönheiten ansehen. Gerade die Blumengattungen, die durch Schwäche und kurze Lebensdauer hervorstechen, geben uns die lebhafteste Idee von Schönheit und Zierlichkeit. Unter den Tieren ist der Windhund schöner als der Bullenbeißer, und die Zartheit eines Zelter, einer Barbe oder eines Araberhengstes ist viel liebenswürdiger als die Stärke und Stabilität eines Kriegs- oder Zugpferdes. Ich brauche nur wenig über das schöne Geschlecht zu sagen, da mir dort, glaube ich, dieser Punkt gern zugestanden werden wird. Die Schönheit der Frauen ist in beträchtlichem Maße ihrer Schwäche oder Zartheit zuzuschreiben und wird noch durch Schüchternheit erhöht – eine Qualität des Gemüts, die der Zartheit analog ist. Ich möchte nicht in dem Sinne verstanden werden, daß Schwäche, soweit sie einen schlechten Gesundheitszustand verrät, irgendeinen Anteil an Schönheit haben könne; aber der unangenehme Eindruck beruht dort nicht auf der Schwäche als solcher, sondern darauf, daß der schlechte Gesundheitszustand, der die Schwäche hervorruft, auch die anderen Bedingungen der Schönheit beeinflußt; der Körper fällt dann ein; mit der glänzenden Farbe, dem „lumen purpureum iuventae“ii, ist es vorbei; und die fein bewegten Linien werden zu Runzeln, plötzlichen Lücken und geraden Strichen.

17. Schönheit in der Farbe

Was die Farben betrifft, die gewöhnlich an schönen Körpern gefunden werden, so mag ihre Feststellung ein wenig schwierig sein, da es insoweit in den verschiedenen Teilen der Natur eine unendliche Mannigfaltigkeit gibt. Aber selbst aus dieser Mannigfaltigkeit können wir einiges herausheben, woran man sich halten kann. Erstens dürfen die Farben schöner Körper nicht düster und trübe, sondern müssen rein und hell sein. Zweitens dürfen sie nicht besonders grell sein. Diejenigen, die zu Schönheit am besten passen, sind die sanfteren Töne jeder Klasse: ein lichtes Grün, ein sanftes Blau, ein schwaches Weiß, Rosarot und Violett. Drittens muß ein Objekt, wenn schon seine Farben grell und lebhaft sind, doch wenigstens mehrere verschiedene Farben aufweisen, darf sich also nicht auf eine grelle Farbe beschränken; es müssen immer etwa so viel Farben vorhanden sein (wie bei buntgefleckten Blumen), daß Grellheit und Glanz der einzelnen Farben einigermaßen gemildert erscheinen. Bei einer hübschen Gesichtsfarbe gibt es nicht nur eine gewisse Mannigfaltigkeit der Färbung, vielmehr dürfen auch von den Farben weder das Weiß noch das Rot grell und glänzend sein. Außerdem müssen sie so allmählich ineinander übergehen, daß es unmöglich ist, feste Grenzen zu bestimmen. Auf dem gleichen Prinzip beruht es, daß die schillernden Farben an Hals und Schwanz des Pfaus und um den Kopf des Enterichs so erfreulich sind. In Wirklichkeit sind also die Schönheit der Gestalt und die Schönheit der Farbe so nahe miteinander verwandt, wie wir uns das bei Dingen so verschiedener Natur überhaupt als möglich vorstellen können.

18. Wiederholung

Wir fassen zusammen: Die Qualitäten der Schönheit, soweit es sich um rein sinnliche Qualitäten handelt, sind die folgenden: 1. verhältnismäßige Kleinheit; 2. Glätte; 3. Verschiedenheit in der Richtung der Teile, aber 4. nicht derart, daß die Teile winklig aufeinanderstoßen, sondern derart, daß sie gegenseitig ineinander übergehen; 5. ein zarter Bau ohne jeden deutlichen Anschein von Stärke; 6. klare und helle, aber nicht sehr grelle und glänzende Farben und 7., wenn doch irgendeine glänzende Farbe vorhanden sein muß, dann nur zusammen mit anderen. – Das sind, wie mir scheint, die Eigenschaften, auf denen Schönheit beruht; Eigenschaften, die kraft ihrer Natur wirken und weniger als irgendwelche andere der Gefahr unterliegen, durch Launen beeinträchtigt oder durch eine Verschiedenheit des Geschmacks durcheinandergebracht zu werden.

19. Die Physiognomie

Die Physiognomie hat einen beträchtlichen Anteil an der Schönheit, besonders an der Schönheit unserer eigenen Gattung. Das Gehaben eines Menschen prägt sein Gesicht-in bestimmter Weise aus; das Gesicht ist also, da es dem Gehaben regelmäßig entspricht, fähig, die Wirkungen gewisser angenehmer Qualitäten des Gemüts mit solchen des Körpers zu verschmelzen, – so daß es, damit eine vollendete menschliche Schönheit gebildet werde und diese Schönheit ihren vollen Einfluß erhalte, auch solche vornehme und liebenswürdige Qualitäten ausdrücken muß, wie sie der Sanftheit, Glätte und Zartheit der äußeren Form entsprechen.

20. Das Auge

Ich habe bisher absichtlich unterlassen, vom Auge, das einen so großen Anteil an der Schönheit lebendiger Geschöpfe hat, zu sprechen, weil es nicht so leicht ist, es unter die oben behandelten Titel zu bringen, obwohl es tatsächlich auf die gleichen Prinzipien zurückzuführen ist. Ich glaube also, daß die Schönheit des Auges erstens in seiner Klarheit besteht. Welche Farbe des Auges an meisten gefällt, hängt zum guten Teil von besonderen Neigungen ab; aber keinem Menschen gefällt ein Auge, dessen Wasser (um diesen Ausdruck zu gebrauchen) matt und trüb istiii. Uns gefällt ein klares Auge auf Grund des gleichen Prinzips wie Diamanten, klares Wasser, Glas und ähnliche durchsichtige Substanzen. Zweitens trägt die Bewegung des Auges, der ständige Wandel der Blickrichtung, zu seiner Schönheit bei; aber eine langsame, zarte Bewegung ist schöner als eine plötzliche; die zweite belebt, die erste wirkt lieblich. Drittens ist im Hinblick auf das Verhältnis des Auges zu den benachbarten Teilen die Regel festzuhalten, die für andere schöne Teile gilt: das Auge soll weder eine schroffe Abweichung von der Richtung der benachbarten Teile noch die Neigung zeigen, eine exakte geometrische Gestalt anzunehmen. Außer von alledem hängt der Eindruck, den ein Auge macht, von den Qualitäten des Gemüts ab, die es zum Ausdruck bringt; und hier entspringt im allgemeinen seine höchste Macht – so daß auf das Auge all das übertragen werden kann, was wir soeben über die Physiognomie gesagt haben.

21. Häßlichkeit

Es würde wohl als eine Art von Wiederholung des bisher Gesagten erscheinen, wenn wir hier näher auf die Natur der Häßlichkeit eingehen würden; denn nach meiner Auffassung ist Häßlichkeit in jeder Hinsicht das Gegenteil der Qualitäten, die wir als Grundlage der Schönheit angegeben haben. Da Häßlichkeit das Gegenteil von Schönheit ist, ist sie nicht das Gegenteil von Proportion und Brauchbarkeit; denn es ist möglich, daß ein Ding sehr häßlich ist und doch alle Proportionen und eine vollkommene Brauchbarkeit für alle mögliche Zwecke aufweist. Häßlichkeit ist nach meiner Auffassung ebensogut verträglich mit einer Idee von Erhabenem; ich möchte aber keineswegs behaupten, daß Häßlichkeit an sich eine erhabene Idee sei; sie ist es nur, wenn sie mit solchen Qualitäten verbunden ist, die einen starken Schrecken verursachen.

22. Anmut

Anmut ist eine Idee, die von Schönheit nicht weit entfernt ist; beide haben zum großen Teil dieselben Bestandteile. Anmut ist eine Idee, die sich auf Haltung und Bewegung bezieht. Zur Anmutigkeit von Haltung und Bewegung ist erforderlich, daß kein Anschein von Schwierigkeit besteht, daß die Biegung des Körpers nicht groß ist und daß die Verfassung der Teile sowohl ihre gegenseitige Behinderung wie auch den Anschein einer Trennung durch scharfe und plötzliche Winkel ausschließt. Sind diese Voraussetzungen gegeben, so besteht alle Zauberkraft der Anmut und das, was man ihr „Je ne sai quoi“iv nennt, in diesem Gerundetsein, dieser Zartheit in Stellung und Bewegung. Das wird jedem einleuchten, der aufmerksam die Mediceische Venus, den Antinous oder eine andere Statue betrachtet, die allgemein als in hohem Grade anmutig anerkannt ist.

23. Zierlichkeit und Glanz

Ich nenne einen Körper zierlich, wenn er aus glatten Teilen besteht, die einander nicht drücken, die keine Rauheit aufweisen und das Auge nicht verwirren, und wenn er gleichzeitig einer gewissen regelmäßigen Gestalt nahekommt. Das Zierliche ist mit dem Schönen eng verwandt und unterscheidet sich von ihm nur durch seine Regelmäßigkeit. Da diese Regelmäßigkeit aber eine sehr deutliche Eigenart des hervorgerufenen Affektes bewirkt, begründet sie trotz jener Verwandtschaft sehr wohl eine besondere Gattung. Zu dieser Gattung rechne ich die zarten, durch Regelmäßigkeit ausgezeichneten Werke der Kunst, die kein bestimmtes Objekt der Natur nachahmen – wie zierliche Gebäude und häuslichen Zierat. – Wenn irgendein Objekt an den ebenerwähnten Qualitäten oder an denen schöner Körper teilhat, aber zugleich große Dimensionen aufweist, so entfernt es sich von der Idee reiner Schönheit; ich nenne es glanzvoll.

24. Das Schöne für den Gefühlssinn

Die vorangegangene Beschreibung solcher Schönheit, wie sie das Auge in sich aufnimmt, kann sehr gut illustriert werden durch Beschreibung der Natur der Objekte, die eine ähnliche Wirkung mittels des Tastsinnes hervorbringen. Ich nenne dies das Schöne für den Gefühlssinn. Es entspricht in wunderbarer Weise dem Schönen, das die gleiche Art Vergnügen für das Auge verursacht. Zwischen allen unseren Empfindungen gibt es eine Verbindung; sie sind alle nur verschiedene Arten von Gefühlen und sind so angelegt, daß sie zwar durch verschiedene Arten von Objekten, aber doch alle in gleicher Weise affiziert werden. Alle Körper, die dem Tastsinn Vergnügen machen, tun dies durch die Schwäche des Widerstands, den sie bieten. Den Widerstand bieten sie entweder einer Bewegung entlang der Oberfläche oder einer Pressung der Teile gegeneinander. Wenn der erstgenannte Widerstand schwach ist, nennen wir den Körper glatt, ist es der andere, so nennen wir den Körper weich. Das hauptsächlichste Vergnügen, das wir durch den Gefühlssinn empfangen, betrifft eine dieser beiden Qualitäten; sind beide Qualitäten miteinander verbunden, so ist unser Vergnügen bedeutend gesteigert. Dies ist so offenbar, daß es eher geeignet ist, andere Dinge zu illustrieren, als selbst einer Illustration durch Beispiele zu bedürfen. Die nächste Quelle des Vergnügens ist bei diesem Sinne – wie bei jedem anderen – die unausgesetzte Darbietung von irgend etwas Neuem; und wir finden, daß Körper, deren Oberfläche einen dauernden Wechsel zeigt, vielfach die angenehmsten oder schönsten für das Gefühl sind, – wie jedermann an seinem eigenen Vergnügen erfahren kann. Die dritte Eigentümlichkeit solcher Objekte besteht darin, daß die Bewegungsrichtungen ihrer Oberflächen zwar in einem ständigen, niemals aber in einem plötzlichen Wechsel begriffen sind. Kommen wir mit etwas Plötzlichem in Berührung, so ist dies sogar dann unangenehm, wenn der Eindruck selbst nichts Heftiges an sich hat. Berührt uns ohne Ankündigung ein Finger, der ein wenig kälter oder wärmer als gewöhnlich ist, so fahren wir zusammen. Ein leichter, unerwarteter Schlag auf die Schulter hat die gleiche Wirkung. Daher kommt es, daß eckige Körper und Körper, deren Oberfläche plötzlich die Richtung ändert, dem Gefühlssinn so wenig Vergnügen machen. Jeder solche Wechsel ist eine Art von Steigen und Fallen im kleinen; so daß Vierecke, Dreiecke und andere eckige Figuren weder für den Gesichts- noch für den Gefühlssinn schön sind. Jeder, der den Zustand seines Gemüts beim Fühlen weicher, glatter, abgerundeter Körper mit demjenigen vergleicht, den er beim Anblick eines schönen Objektes in sich vorfindet, wird eine sehr auffällige Analogie beider Wirkungen wahrnehmen, die uns der Aufdeckung ihrer gemeinsamen Ursache ein gutes Stück näherbringen kann. Gefühls- und Gesichtssinn unterscheiden sich in dieser Hinsicht nur in sehr wenigen Punkten: der Tastsinn bezieht das Vergnügen an der Weichheit ein, die . primär kein Objekt für das Gesicht ist; der Gesichtssinn andererseits begreift Farbe, die für den Tastsinn schwerlich wahrnehmbar ist; der Tastsinn wiederum hat den Vorzug einer weiteren Idee von Vergnügen, die aus einem gemäßigten Grad von Wärme folgt; doch das Auge triumphiert vermöge der unendlichen Ausdehnung und Zahl seiner Objekte. Aber es gibt eine solche Ähnlichkeit in den Vergnügungen der beiden Sinne, daß ich zu der Annahme neige: wenn es möglich wäre, Farben mit dem Gefühlssinn zu unterscheiden (wie dies einige Blinde gekonnt haben sollen), so würden dieselben Farben und Farbenanordnungen, die der Gesichtssinn schön findet, in gleicher Weise höchst angenehm für den Tastsinn gefunden werden. Wir wollen aber Mutmaßungen beiseite lassen und zu einem neuen Sinn, zum Gehörssinn übergehen.

25. Das Schöne in Tönen

Beim Gehörssinn finden wir die gleiche Fähigkeit, in einer weichen und zarten Weise affiziert zu werden; und inwieweit süße und schöne Töne in Analogie zu der von uns beschriebenen Schönheit bei anderen Sinnen stehen, muß die Erfahrung jedes einzelnen entscheiden. Milton hat diese Art Musik in einem seiner Jugendgedichtev beschrieben. Ich brauche nicht zu sagen, daß Milton mit dieser Kunst in vollkommenster Weise vertraut war und daß niemand ein feineres Ohr und zugleich eine glücklichere Art hatte, die Affekte des einen Sinnes durch Bilder auszudrücken, die einem anderen entlehnt sind. Seine Beschreibung lautet wie folgt:

And euer against eating cares,

Lap me in soft Lydian airs;

In notes with many a winding bout Of linked sweetness long drawn out; With wanton head and giddy cunning, The melting voice through mazes running; Untwisting all the chains that tie

The hidden soul of harmony.ˡ

Wenn wir diese Beschreibung mit der Weichheit, der sich windenden Oberfläche, dem ununterbrochenen Zusammenhang und dem allmählichen Übergang beim Schönen in anderen Dingen in Parallele setzen – so werden all die Abweichungen zwischen den verschiedenen Sinnen mit ihren verschiedenen Affekten eher wechselseitig aufeinander Licht werfen und zu einer einzigen, klaren, übereinstimmenden Idee des Ganzen zusammenlaufen, als durch Verwickeltheit und Mannigfaltigkeit diese Idee zu verdunkeln.

Zu der oben angeführten Beschreibung muß ich noch ein oder zwei Anmerkungen hinzufügen. Die erste geht dahin, daß das Schöne in der Musik weder jenen Lärm und jene Stärke der Töne verträgt, die zur Erregung anderer Leidenschaften dienlich sein mögen, noch schrille, rauhe und dunkle Töne; es stimmt am besten mit klaren, ruhigen, sanften und leisen Tönen zusammen. Zweitens möchte ich anmerken, daß eine große Mannigfaltigkeit des Taktes oder schnelle Übergänge von einem Takt oder Ton zum anderen dem Genius des Schönen in der Musik zuwiderlaufen. Solche Übergängevi erregen oft Lustigkeit oder andere plötzliche und lärmende Leidenschaften, aber nicht jenes Hinsinken, Hinschmelzen, Schwachwerden, das die charakteristische Wirkung des Schönen bei allen Sinnen ist. Die Leidenschaft, die durch Schönheit hervorgerufen wird, steht einer Art Melancholie in der Tat näher als der Fröhlichkeit und Lustigkeit. Ich will hier Musik nicht auf eine ganz bestimmte Art von Noten oder Tönen beschränken; sie ist auch keine Kunst, mit der besonders vertraut zu sein ich mich rühmen könnte. Mein einziges Anliegen in dieser Anmerkung betrifft die Aufstellung einer folgerichtigen Idee der Schönheit. Die unendliche Mannigfaltigkeit der Affekte der Seele wird einem guten Kopf und einem hellen Ohr eine solche Mannigfaltigkeit von Tönen eingeben, wie zu ihrer Erregung tauglich sind. Dem kann es aber nicht abträglich sein, wenn wir einige wenige besondere Ideen, die alle zur selben Klasse gehören und miteinander zusammenstimmen, klären und von der ungeheuren Menge unter sich verschiedener und sich oft widersprechender Ideen absondern, die üblicherweise zu den Maßstäben der Schönheit gerechnet werden. Und auch über jene besonderen Ideen wollte ich nur die Hauptpunkte hervorheben, die die Gleichartigkeit des Gehörssinnes mit allen anderen Sinnen zeigen, soweit das Vergnügen, das sie gewähren, in Betracht kommt.

26. Geschmack und Geruch

Die allgemeine Übereinstimmung der Sinne ist noch einleuchtender, wenn man Geschmack und Geruch genau betrachtet. Wir wenden die Idee der Süße bildlich auf Gesehenes und Gehörtes an; da aber die Qualitäten, vermöge deren die Körper im Gesichts- und Gehörssinn entweder Vergnügen oder Schmerz hervorzurufen fähig sind, nicht so in die Augen fallen wie bei anderen Sinnen, so verweisen wir die Aufklärung der hier bestehenden Analogie – die eine sehr enge ist –in denjenigen Teil unserer Untersuchung, in dem wir die gemeinsame effektive Ursache der Schönheit im Hinblick auf alle Sinne betrachten werden. Wie ich glaube, gibt es keinen besseren Weg zur Aufstellung einer klaren und gefestigten Idee der visuellen Schönheit als die Prüfung der entsprechenden Vergnügungen anderer Sinne; denn was bisweilen bei einem der Sinne klar ist, ist beim anderen dunkler, und wo es eine klare Parallelität zwischen allen gibt, dort können wir auch bei jedem einzelnen Sinn mit größerer Sicherheit sprechen. Auf diesem Wege legen die Sinne wechselseitig füreinander Zeugnis ab; die Natur wird sozusagen selbst befragt, und wir berichten über sie nur das, was wir ihren eigenen Informationen verdanken.

27 .Vergleich des Erhabenen und Schönen

Am Schlusse dieses allgemeinen Blicks auf die Schönheit kommen wir natürlicherweise zu einem Vergleich mit dem Erhabenen. In diesem Vergleich tritt ein bemerkenswerter Gegensatz zutage: Erhabene Objekte sind riesig in ihren Dimensionen, schöne aber verhältnismäßig klein. Schönheit verlangt Glätte und Ebenheit; das Große kann rauh und ungehobelt sein. Schönheit muß die gerade Linie vermeiden, darf aber von ihr nur unmerklich abweichen; das Große liebt in vielen Fällen die gerade Linie, läßt aber, wenn sie einmal von ihr abweicht, auch eine sehr starke Abweichung zu. Schönheit darf nicht dunkel, das Große muß finster und düster sein. Schönheit muß licht und zart, das Große muß fest und sogar massiv sein. – Das sind in der Tat Ideen von sehr verschiedener Natur: die eine im Schmerz, die andere im Vergnügen begründet; und wie weit sie auch späterhin von der unmittelbaren Natur ihrer Ursachen abweichen mögen, so halten diese Ursachen doch eine unüberbrückbare Trennung zwischen ihnen aufrecht – eine Trennung, die von niemand vergessen werden darf, der sich damit beschäftigt, Leidenschaften zu erregen. Bei der unendlichen Mannigfaltigkeit der natürlichen Kombinationen müssen wir gewärtig sein, auch die Qualitäten von Dingen, die voneinander soweit wie irgend vorstellbar entfernt sind, in ein und demselben Objekt vereinigt zu finden. Wir müssen also auch gewärtig sein, Kombinationen der gleichen Art in den Werken der Kunst zu finden. Wenn wir aber die Macht eines Objektes über unsere Leidenschaften erwägen, so müssen wir erkennen: falls irgend etwas die Tendenz hat, das Gemüt kraft irgendeiner vorherrschenden Eigenschaft zu affizieren, so wird der hervorgerufene Affekt am einheitlichsten und vollkommensten sein, wenn auch die übrigen Eigenschaften und Qualitäten des Objektes von derselben Natur sind und zum gleichen Ziel tendieren wie die vorherrschende:

If black and white blend, soften and unite

A thousand ways, are there no black and white?vii

Wenn die Qualitäten des Erhabenen und Schönen bisweilen in Verbindung miteinander gefunden werden: beweist das, daß sie irgendwie miteinander verwandt sind; beweist das auch nur, daß sie nicht in Gegensatz und Widerspruch zueinander stünden? Schwarz und Weiß mögen sich gegenseitig mildern und miteinander vermischen — und werden dadurch doch nicht identisch. Ist aber auch, wenn sie sich so gegenseitig mildern und miteinander oder mit anderen Farben vermischen, die Macht des Schwarzen als Schwarzen und des Weißen als Weißen ebenso stark wie dann, wenn jedes von ihnen einheitlich in sich und getrennt vom anderen dasteht?

i Teil IV, 20. Abschnitt. — ** Teil IV, 23. Abschnitt.

ii der purpurnen Leuchte der Jugend.

iii Teil IV, 25. Abschnitt.

iv Ich weiß nicht was.

v Allegro.

1 Bewahre mich vor verzehrenden Sorgen

und hülle mich ein in sanfte lydische Lüfte,

in Töne, die immer wiederkehren

und mit einer lange auskostbaren Süße verbunden sind. Mit Wollust und schwankender List

hastet die schmelzende Stimme durch Irrgärten

und löst alle Bande wieder auf, die zusammengeflochten sind von der verborgenen Seele der Harmonie.

 

vi I ne‘er am merry when I hear sweet music.

(Ich bin nie lustig, wenn ich süße Musik höre.)

Shakespeare, Sommernachtstraum, Akt V, 1. Auftritt

vii Wenn du Schwarz und Weiß tausendmal vermischst, verschmutzest und vereinigst, bleiben sie nicht Schwarz und Weiß?

Editorische Notiz

Publikationsvorlage: Edmund Burke: Philosophische Untersuchungen unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen. Übers. von Friedrich Bassenge. Neu eingel. u. hrsg. von Werner Strube. Hamburg. Meiner, 1980. S. 127- 167. – Die nummerierten Fußnoten aus der Publikationsvorlage wurden mit leichten Korrekturen übernommen.

Dieser gedruckten Übersetzung liegt die zweite, erweiterte Ausgabe, die 1759 in englischer Sprache erschien, zugrunde.

Kommentar

Philosophische Untersuchungen unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen von Edmund Burke ( 1727 – 1797) war einer der Grundsteine, der die spätere empirische sensualistische Ästhetik mitbegründete. Burke war einer der ersten Wissenschaftler, der die Begriffe der Ästhetik klar voneinander unterschieden hatte. Auch spätere Autoren wie Lessing beschäftigten sich mit seinem Werk, welches eine Weiterführung der Arbeit T. Adisons war, der sich einige Jahre zuvor schon mit diesem Thema befasst hatte. Burkes Ästhetik wurde viel kritisiert, unter anderem von Emanuel Kant, der ihm vorwarf lediglich seine Beobachtungen nieder geschrieben und keine echte Ästhetik verfasst zu haben. Der Herausgeber Werner Strube allerdings rückte diese in seinem Vorwort dann wieder ins Recht Licht.

Literaturhinweise

Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt am Main. 2003.

Scruton, Roger: Burke´s Relevance Today – deutsch als Konservatismus oder Die Aktualität Edmund Burkes. In: Sezession. 3/ 2003. S. 14ff.

Zimmer, Robert: Edmund Burke zur Einführung. Hamburg 1995.

Bearbeitet von: Sarah Jenderny