Flugblatt-Hermeneutik

Die philologischen Gutachten im Prozess gegen die Kommune I 1967

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

 

Inhalt

I. Der Fall
II. Die Gutachten
III. Szondi – Lämmert – Wapnewski – Taubes
IV. Zeitläufte: Juni 1967
V. Schluss
Anmerkungen

I. Der Fall

Das vor mehr als 50 Jahren zu Ende gegangene Experiment der Kommune I dürfte mittlerweile, obgleich einige der Beteiligten noch am Leben sind, auf dem Weg ins kulturelle Gedächtnis sein. Ganz im Sinne der Erfinderinnen und Erfinder sind es vor allem Bilder, die bleiben. Illustrierten- und Zeitungsfotos vom Zusammenleben in dieser Ur-WG, natürlich die berühmten Nacktfotos, Bilder von Uschi Obermaier, Momentaufnahmen von Happenings und Aktionen. Ein 2008 erschienener Bildband gewährt dem Nachgeborenen intimen Einblick in einen Alltag aus Straßenpolitik und ‚revolutionärem‘ Geschirrspülen. Eines der meistzitierten Fotos zeigt Rainer Langhans mit Andreas Baader am Tag von Fritz Teufels Haftentlassung, dem 10. August 1967, bei einem Happening auf dem Ku’damm.[1] Spaßguerilla und Stadtguerilla geben sich hier die Klinke in die Hand. Langhans, in Frauenkleidern tanzend, scheint sich harmlosem Klamauk hinzugeben – Baader wirkt etwas ernster. Die Geschichte der RAF ist gleichfalls Teil des kommunikativen und bald gewiss auch des kulturellen Gedächtnisses. Die Gretchenfrage nach der Vorgeschichte der RAF in der Studentenbewegung und deren Umfeld richtet sich zwangsläufig auch auf die Aktivitäten und die mobilisierende Wirkung der Kommune I. Deren Öffentlichkeitsarbeit – zu nennen ist etwa das „Puddingattentat“ auf den US-Vizepräsidenten Hubert H. Humphrey oder das „Satirische Begräbnis“ des ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe – pflegt im Kontext der Avantgarde-Bewegung des Situationismus gelesen zu werden.[2] Die RAF wiederum sah sich bekanntlich als theoriegeleitete revolutionäre Stadtguerilla;[3] den späterhin vertrauten Bekennerschreiben und Videos gingen zunächst an eine möglichst breite Öffentlichkeit gerichtete, auf die Revolution einstimmende Manifeste nach dem Vorbild der Avantgarden voraus. Der erste lange RAF-Text aus der Feder Ulrike Meinhofs trägt den Titel „Das Konzept Stadtguerilla“.[4] Bei der Analyse von Diskursen und Praktiken legitim ist die Suche nach Entwicklungslinien, nach einem Narrativ, das von den Aktionen der RAF aus zurückblickt bis auf die Vorgeschichte von 1968. An der Schnittstelle von Text und Bild, aber auch von Diskurs und Praxis gehören zu dieser Vorgeschichte die insgesamt 38 Flugblätter, die die Kommune I im Zuge ihrer Aktionen verteilte.[5] Schon jetzt ist also daran zu denken, dass diese Flugblätter nicht nur Texte (mit graphischen Elementen) sind, sondern dass sie als ephemere Beigaben, als Lektüre beim Mittagessen, vor der Mensa der FU Berlin verteilt wurden, dass also auch hier improvisiertes Handeln – schnelles Produzieren, schnelles Verteilen beispielsweise – neben dem Text und seiner Lektüre einkalkuliert werden muss, will man die Tragweite von Flugblattaktionen wie dieser nachvollziehen.[6]

Zu den durchaus unfreiwilligen Ikonen des 68er-Gedächtnisses zählen vor allem vier dieser Flugblätter (Nr. 6‒9[7]), in denen in Anspielung auf einen Kaufhausbrand in Brüssel, der viele Menschenleben gefordert hatte, und in Verbindung mit dem Vietnamkrieg im Stil zynischer Presseverlautbarungen und Werbetexte Kaufhausbrandstiftung auch in Deutschland in Erwägung gezogen wird – dass Menschen zu Schaden kommen, wird in Kauf genommen. Zumindest abschnittweise wird mit Fiktionalisierung gearbeitet – man könnte aber auch sagen: mit Unwahrheiten, denn der Brüsseler Kaufhausbrand wird einer terroristischen Vereinigung in die Schuhe geschoben, deren Mitglied „Maurice L.“ zu Wort kommt. Ob ein Fiktionspakt vorliegt oder die Leser*innen mit einer kalkulierten Lüge der Verfasser konfrontiert werden, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Verteilt wurden diese Flugblätter am 24. Mai 1967. Das berühmteste, die Nr. 8, endet mit einer unbeholfenen Reminiszenz an Marvin Xʾs 1965 entstandenes Gedicht Burn Baby! Burn und damit an einen der „Race Riots“ in Los Angeles:[8] „burn, ware-house, burn!“[9] Alle Flugblätter besitzen eine graphische Dimension, Nr. 9 mit einem spiralig angeordneten handschriftlichen Text in Blockschrift, alle vier mittels einer Nummerierung, die an psychedelische Kalligraphie erinnert.[10]

Auf die Anzeige eines Studenten hin erhob der Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin Anklage gegen die Mitglieder der Kommune I. In zwei Verhandlungen, im Juli 1967 und im März 1968, wurde zu klären versucht, ob die Verfasser*innen der Flugblätter „zur Begehung strafbarer Handlungen aufgefordert“ hatten, nämlich „zum vorsätzlichen Inbrandsetzen von Räumlichkeiten, welche zeitweise dem Aufenthalt von Menschen dienen“.[11] Auf Antrag von Horst Mahler, Verteidiger der beiden Angeklagten Rainer Langhans und Fritz Teufel in der bereits auf den 6./7.7.1967 festgesetzten Vorverhandlung, wurden Sachverständige benannt, die in schriftlichen Gutachten auf der Grundlage ihrer Expertise entscheiden sollten, ob mit den Flugblättern „Aufforderungen zur Brandstiftung oder satirische Pamphlete“ vorlägen.[12] Diese Entscheidungsfrage ist suggestiv, aber bedenklich, denn aus einem satirischen Text die mittelbare Aufforderung zu strafbaren Handlungen abzuleiten, ist nicht ausgeschlossen.

Flugblätter werden heute und in jüngerer Vergangenheit „zum Zweck kommerzieller Werbung oder politischer Propaganda“ oder auch der „Unterhaltung“[13] verbreitet, sie müssen als pragmatische Textsorte oder als pragmatisch zu rezipierende Objekte analysiert werden, deren übergeordnetes Ziel es ist, Aufmerksamkeit zu erlangen, wo diese normalerweise nicht zu erwarten ist. Längst sind auch die Flugblätter der K I nicht nur als Texte, gar künstlerische Texte, gelesen worden, sondern auch als Element eines Medienkonzepts der Protagonist*innen oder zumindest als Mittel zum Zweck des Erlangens medialer Aufmerksamkeit in einer Gesellschaft, in der bald die erste Mondlandung ein von quasi jedermann am Fernseher verfolgtes Großereignis sein wird. Die K I ist dabei „Agentin der medialen Durchdringung von Gesellschaft und des Ausbaus der Konsumgesellschaft“.[14] Der Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth hat die Texte wie die Prozesse der K I als Störmanöver gelesen, als „Techniken der Subversion symbolischer Ordnung“[15], zu denen die Unberechenbarkeit des Verhaltens zählte. Liest man nur die Texte, dann verkennt man den ausgesprochen zukunftsträchtigen Anspruch der Kommunarden, ein von Entfremdung freies ganzheitliches Leben zu führen. In diesem ernsten Spiel kommt der Justiz wie den teils bekämpften, teils umworbenen Massenmedien eine entscheidende Rolle bei der „Popularisierung der Protestbewegung“[16] zu.

Um 1968 verändert sich zugleich die Kultur des Lesens, wird beispielsweise das bildungsbürgerliche Ideal der literarischen Belesenheit durch ein Primat der auf die Lebenspraxis abzielenden Theorielektüre ersetzt. Nicht mehr die Frage nach ästhetischem Gehalt und literarischer Intertextualität steht im Vordergrund, sondern die nach der Anwendbarkeit des tendenziell kollektiv Gelesenen und Diskutierten. Dieser kulturelle Bruch, der beispielsweise die Literaturwissenschaft bald nach 1968 sehr heftig trifft, nämlich im Design des neuen Grundstudiums,[17] zeigt sich, so meine These, auch in Produktion und Rezeption der K I-Flugblätter sehr deutlich. Zu den vielen sich an die Flugblätter selbst anlagernden Texten und Diskursfetzen gehörten – bei aller Theorieabstinenz der Kommunarden selbst – die anschwellenden Debatten der Studentenbewegung, wie exemplarisch am Hannoveraner Kongress im Gefolge der Bestattung Benno Ohnesorgs gezeigt werden soll. Dieser Theorieorientierung, die aber, wie Philipp Felsch u. a. anhand der Rezeption Louis Althussers vor und um 1968 gezeigt hat – er erinnert an Althussers Begriff einer „theoretische[n] Praxis“[18] –, auf eine zu revolutionierende Lebenspraxis abzielte, keineswegs also sich selbst genügte, hatten die Professoren mit ihrer aufgerüsteten Texthermeneutik wenig entgegenzusetzen. Sie wandten „strikt ihr eigenes stilanalytisches und literarhistorisches Instrumentarium an und h[o]ben hervor, daß die inkriminierten Flugblätter – satirisch parodierend – ästhetischer Natur seien.“[19] Dass sie damit möglicherweise unfreiwillig „ihre Fachkenntnisse in den Dienst einer Strategie (der Kommunarden, ihres Anwalts)“[20] stellten, liegt in der Natur der Sache. Zwar ist es laut § 73 (1) Strafprozessordnung der Richter selbst, der Sachverständige bestellt, doch kamen die Vorschläge, die die Flugblätter im Reich künstlerischer Freiheit zu bannen versuchten, zweifellos von Anwalt Mahler. Er schlug mit ungleichmäßigem Erfolg eine ganze Reihe von Publizisten, Autoren und Geisteswissenschaftlern vor.[21]

II. Die Gutachten

Gemeinsamkeit der Gutachten ist ein Beharren auf wissenschaftlichem Ton bei fortwährendem Bemühen, einen etwaigen Straftatbestand auszuschließen. Wenn es zutraf, was Peter Szondi in einem vertraulichen Brief schrieb, dass eine kleinbürgerliche Justiz abzustrafen war, die er im Bunde mit der ‚rechten‘ Berliner Presse und damit in Abhängigkeit von der damaligen Mehrheitsmeinung sehen wollte[22], dann ist hier eine durchaus bürgerliche Allianz erkennbar: Kunzelmann, Langhans, Teufel und die Professoren als ästhetisch Sensible setzen sich mit differenzierten Analysen über die brachialischen (Fehl-)Lektüren von Springer-Presse und Justiz hinweg. Diese Allianz setzt aber auch zwei Konstellationen des Zusammenspiels fort, die allen Beteiligten vertraut war, nämlich die zwischen väterlich-wohlwollenden, klugen, aber peinlich genauen Professoren und lernwilligen, kreativen, doch nicht zu angepassten Studenten einerseits, die zwischen versierten Kritikern und eigenwilligen Autoren andererseits. Im Dialog zwischen Flugblatt-Produzenten und Gutachtern werden dementsprechend sowohl Entscheidungen zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ als auch – am Rande – solche zwischen (künstlerisch) ‚gut‘ und ‚schlecht‘ getroffen. Die wahr/falsch-Entscheidungen verengen die Gutachter auf Anordnung des Gerichts oder besser des Verteidigers darauf, den Verstehensprozess darzulegen, sprich: eine Interpretation der Gutachten vorzulegen. Dies wäre heute so selbstverständlich nicht; in der Mitte der 1960er Jahre hingegen ist die Hermeneutik ein Verfahren, auf das Literaturwissenschaftler teils noch selbstverständlich und vortheoretisch, teils aber auch bekennerhaft und hochreflektiert (siehe Szondi) zurückgreifen.

Der Untertitel des Ende 1968 in Walter Höllerers Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter erschienenen Aufsatzes, der vor allem Eberhard Lämmerts, Peter Szondis und Peter Wapnewskis Gutachten abdruckt, verweist bereits auf die in den Gutachten durchaus mit voller Überzeugung praktizierte stilkritische und damit eher textinterne – damals hätte man gesagt: „werkimmanente“ – Hermeneutik voraus.

An der Tauglichkeit der Methode zweifelt aus dem Abstand von eineinhalb Jahren der Journalist Dieter E. Zimmer in einem den Abdruck der Gutachten schließenden Resümee: „Egal, welches die subjektiven Intentionen der Flugblattautoren aus der K I waren: andere sind jedenfalls zur Tat geschritten.“[23] Es schiene mittlerweile „gutartig naiv“, die Flugblätter als „literarisches Phänomen“ einzuschätzen.[24] Die Gutachten – dies noch vorab – besaßen auch in den Augen der Zeitgenossen eine geringe Halbwertszeit, sprich: die Zeiten und die Rede über politische wie über künstlerische Texte veränderten sich rasch. Dabei schwebt über den Gutachten ein in ihnen selten ausgesprochenes ästhetisches Verdikt, das allein der Gruppe 47-Begründer Hans Werner Richter zusammen mit seiner Ablehnung, ein Gutachten zu schreiben, offenlegte.[25] Dass die Kommunarden schlechte Prosa schrieben, wog tatsächlich wohl schwerer als der Verdacht, sie könnten Gewalt gutheißen. In einer von Bildungsbürgern beherrschten Debatte kann dies nicht verwundern. Das Urteil über die (links-)liberalen FU-Professoren Peter Szondi, Eberhard Lämmert, Peter Wapnewski und Jacob Taubes, mit 38 bis 45 Jahren noch recht jugendliche Ordinarien, sprach indessen schon Klaus Briegleb in seiner 1993 erschienenen Monographie zur Literatur in der 68er-Bewegung. Gemeinsam war diesen vieren, die allesamt damals schon als Koryphäen ihrer Fächer, der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Germanistischen Mediävistik sowie der Jüdischen Religionsphilosophie, gelten durften, dass sie, „Grenzgänger in ihren Fakultäten, […] weitgehend mit den vernünftigen Zielen der Revolte sympathisierten“;[26] Peter Szondi etwa war laut Selbstauskunft von 1970 „gemäßigt links“.[27] Briegleb distanziert sich im Grunde bei allem Wohlwollen zusammen mit den damaligen Kommunarden sowie den „drei Gewalten Presse, Staatsanwalt und Gericht“ von diesen „Beamten für Literatur“, die „Formbelege einer Literaturwissenschaft und Publizistik [vorlegten], die den ihnen institutionell zugewiesenen Ort nicht aufzusprengen brauchten, um uneigennützig (mutig) und liberal (offen) zu handeln.“[28]

Die Gutachten bieten Textinterpretationen und favorisieren im Sinne fachlicher Expertise auch auf forensischem Terrain die Hermeneutik als primäre Methode einer Literaturwissenschaft vor der Studienreform – in einer Zeit, da Werkimmanenz (und somit eine theoretisch mehr oder weniger reflektierte dichtungsimmanente Hermeneutik), Geistesgeschichte, Stilanalyse als auf Wilhelm Dilthey und Rudolf Unger zurückgehendes Paradigma, in dessen Tradition sich noch Emil Staiger und Wolfgang Kayser verorteten, an Geltung zu verlieren begannen. Es fällt die Ernsthaftigkeit auf, mit der alle Gutachter Bedeutungen analysieren, rhetorische Mittel hervorkehren und auf literarischen Einflüssen beharren. Auch wenn man an ihrer Qualität zweifelt, liest man die Texte doch als literarische. Der hermeneutische Ansatz wird durch ein wenig Literatursoziologie ergänzt, doch fragt man wenig nach den realen Distributions- und Rezeptionsbedingungen. Wer eigentlich liest die Flugblätter mutmaßlich so, wie es die Literaturprofessoren tun? Ist ihre übliche Praxis, richtig und so ‚gut‘ wie möglich und damit besser als der Normalleser zu lesen, hier statthaft oder sollte man – was freilich um 1968 theoriegeschichtlich noch nicht möglich ist – die studentische Leserkognition im Blick behalten?

III. Szondi – Lämmert – Wapnewski – Taubes

Peter Szondi analysiert aber die Flugblätter „als Philologe“[29] und korrigiert die Fehlinterpretation der Anklageschrift. Fiktionstheoretisch wird zwischen textimmanenter Sprechinstanz und Autorintention unterschieden, die Position letzterer aber besonders hervorgehoben. Dies trifft auf alle Gutachten zu, die aus den Flugblatttexten satirische Literatur zu machen versuchen. Dass der Staatsanwalt den Text wörtlich genommen und seine Aussagen unmittelbar den Verfassern zugeordnet hatte, wird also als Interpretationsfehler gewertet in Anbetracht vieler weiterer Fiktionsmerkmale. Ohne die unterschiedlichen Auslegungstraditionen von Rechtspflege und Literaturwissenschaft zu reflektieren, bezieht Szondi Juristen und Philologen in eine Deutungsgemeinschaft ein, bei der aber den Philologen aufgrund ihrer Professionalität Superiorität zuerkannt wird. Dies suggerieren Formulierungen wie die, dass „die Anklageschrift meint“, etwas in einer bestimmten Weise „interpretieren zu müssen“[30]. Die Voraussetzungen und Zielsetzungen dieses Interpretierens können anscheinend ignoriert werden, der Staatsanwalt war einfach der schlechtere Leser. Die Flugblätter, so Szondi deutlich, sprächen die Sprache derjenigen, gegen die sich die Verfasser eigentlich wendeten.[31] Die Erzählung um Maurice L. in Flugblatt Nr. 6 gilt Szondi nicht etwa als provokatorische und zur Tat anstachelnde Lüge, sondern als Fiktion, d. h. ein Fiktionspakt wird vorausgesetzt. Szondi kommt zum Schluss, das Gericht habe den „Text anders ausgelegt, als er von der ‚Kommune I‘ gemeint gewesen sein muß“.[32] Nach wie vor ist es der Autor, der Sinn in den Text hineinlegt, und der Interpret muss wiederum diesem Sinn nachspüren, nicht eigene Insinuationen an den Text herantragen. Es frappiert, wie kompromisslos Szondi dem Text Eindeutigkeit unterstellt, obgleich er ihn doch zumindest in der Nähe der Literatur der Moderne ansiedelt (die freilich in den wissenschaftlichen Œuvres der Gutachter keine Hauptrolle spielt). Wenn er Flugblatt Nr. 8, das indirekt zur Brandstiftung auffordert, als ironisch liest, meint er, dass stellenweise das Gegenteil des Gemeinten ausgesagt sei. Vereindeutigung mag den Gutachtern als Gebot der Stunde erschienen sein – in dubio pro reo. Doch den Höhenkamm ihrer Interpretationskunst erreichen sie damit nicht und verkennen oder verleugnen, was, wenn nicht Anliegen der Autoren, so doch Effekt der von der K I produzierten Zeichenkonglomerate aus Text, Bild, Handeln, mündlicher Rede ist: „die Erzeugung mehrdeutiger Botschaften“ oder zumindest eine „charakteristische Ambiguität der Sprechakte“.[33]

Den Gutachtern war vielmehr an einer Klärung der Fronten gelegen. So tut Szondi in einem Brief an seinen Kollegen Rainer Gruenter die Flugblätter als pubertäres Missverständnis ab und dementiert jegliche Sympathie, allein gegen die Springer-affine kleinbürgerliche Justiz habe sich sein Gegentext zur Anklageschrift gerichtet.[34] Noch mehr bedeckt hielt sich Szondi, als ihn im Zusammenhang mit dem kurz vor seinem Tod ergangenen Ruf nach Zürich Fragen zu öffentlichen, hochschulpolitischen Äußerungen erreichten. Dass hier die letzte von sieben „Stellungnahmen zu Stellungnahmen“ das Gutachten betraf, rückt dieses in die Reihe hochschulpolitischer Akte des Berliner Professors, dessen Haltung zur Protestbewegung man sich offenbar im ebenfalls studentenbewegten Zürich, der Stadt von Szondis Lehrer Emil Staiger, versichern wollte. Hier bekennt sich Szondi dazu, die Flugblätter in einer ersten Lektüre selbst „für kriminell“ gehalten zu haben. Wenn er einmal mehr auf seiner „Philologenpflicht“ beharrt, „die Interpretationsfehler des Staatsanwalts in einem Gutachten nachzuweisen“, so nimmt er sein Engagement für die Angeklagten aus den politischen Kämpfen der Zeit weitgehend heraus. Dass es ihm nur um die philologische Korrektur falscher Textauslegung gegangen sei, könne man daran ersehen, „daß zumindest in meinem Gutachten weder die Pläne der ‚Kommunarden‘ noch die mögliche Wirkung ihrer Flugblätter behandelt wurden“[35]. Die Not des Verzichts auf eine welthaltige Lektüre der Gutachten vor Gericht macht Szondi hier also zu einer philologischen Tugend und stellt sich so noch ganz in eine so werkimmanent wie möglich zu denkende germanistische Tradition.

Dabei trieb Szondi als Literaturtheoretiker wie als Interpret der Höhenkammliteratur – von der Klassik bis hin zum Zeitgenossen und Gesprächspartner Celan – die Hermeneutik als literaturwissenschaftliche Basisdisziplin auf den Spuren Schleiermachers, Diltheys und Gadamers durchaus voran. In einem kurz vor seinem Tod entstandenen Rundfunkbeitrag zu Schleiermachers Hermeneutik wendet er sich vehement gegen eine methodisch unpräzise und auf dem Stand des „Rechenschaftsbericht[s] eines Literaturgenießenden“[36] verbleibende Literaturwissenschaft. Schleiermacher sei der mögliche Lehrmeister einer noch auszuarbeitenden „Interpretationslehre“[37] – nicht nur für ästhetisch hochwertige Texte, nein, auch „Zeitungen und Inserate“ könnten hermeneutische „Probleme bieten“[38]. So sei die Entstehung des Texts zu berücksichtigen und sein „Ursprung aus dem individuellen Lebens seines Autors“[39]. Noch jetzt ist der Fluchtpunkt der Autor und sein (Er-) Leben, dem sich der Interpret zu nähern hat. Anders als Dilthey unterstreicht Szondi mit Schleiermacher die Objektivität des Verstehens, das auf technischer und grammatischer Auslegung beruhe, also eine vollkommene Stilanalyse einschließe.

Dass es 1967 denn doch indiskutabel war, sich den Existenzen Langhansʾ und Teufels allzusehr anzuempfinden, darf nicht verwundern. Die Stilanalyse, in Wolfgang Kaysers bis Ende der 60er Jahre kanonischem Buch Das sprachliche Kunstwerk als eigentliche Königsdisziplin der literaturwissenschaftlichen Interpretation statuiert[40], verlor nach 1968 bald ihre Anhängerschaft. Damit soll Szondi als Theoretiker der Hermeneutik keineswegs geringgeschätzt werden. Sein Berliner Kollege und Nachfolger Lämmert äußerte vielmehr die These, Szondi habe der Rezeptionsästhetik den Boden bereitet, habe er doch etwa in seiner Auslegung von Hölderlins Friedensfeier Mehrdeutigkeit als Texteigenschaft und damit mehrere zutreffende Auslegungen des Texts anerkannt. Lämmert zeichnet den Hermeneutiker Szondi als Gestalt des Übergangs: Verfechter der Autonomie des Kunstwerks à la Staiger, sei er doch auf der Suche nach der historischen Bindung des Texts und seiner Entstehung, namentlich in Bezug auf Celan.[41] In diesem Spannungsfeld stellt sich das Flugblatt-Gutachten weitgehend in eine Tradition, die Eindeutigkeit und ‚Wahrheit‘ der Deutung für sich reklamiert – und sei es, um Delinquenz zu verhindern. Dies geschieht um den Preis, jegliche Modernität der Flugblätter zu verleugnen.

Ähnlich wie Szondi untersuchten auch Lämmert und Wapnewski in ihren Gutachten grammatische und rhetorische Mittel der Flugblätter, um ihr literarisch-satirisches Potenzial transparent zu machen. Lämmert ist bestrebt, die „inkriminierten Flugblätter“[42] nach den Regeln der Kunst Satz für Satz und vom Einzelnen zum Ganzen voranschreitend zu analysieren, also auch hier folgt das Gutachten einem hermeneutischen Plan. Der Gutachter hebt den imitativen Duktus hervor, die ironische Nachahmung der Sprache von Presse und Werbung. Nur wenn man einzelne Passagen herauslöse und nicht den Gesamttext als solchen zur Kenntnis nehme, könne man missverständlicherweise die Aufforderung zu einer Straftat herauslesen. Eine rhetorische Textanalyse, die imitatio und aemulatio im Kontext rhetorischer persuasio diskutiert, mündet in der Auflistung ebenfalls missverstandener Prätexte. So war Orson Wellesʾ „schreckenvoll glaubhaft gemachte Radiosendung einer Mars-Invasion“[43] einst doch, auf den zweiten Blick, als Fiktion erkannt worden (als der Text als ganzer inklusive medialer Rahmung gelesen wurde, könnte man ergänzen). Mit impliziten Vergleichen wie diesem geht Lämmert also streng genommen über eine textinterne Hermeneutik hinaus und denkt über mögliche (Fehl-) Rezeptionen nach. Als weitere Prätexte führt er surrealistische Manifeste oder den Futurismus eines Marinetti ein, erlaubt sich dann aber doch ein abwertendes Geschmacksurteil, denn was die Avantgarden Originelles geschaffen hatten, sei heute im Zitat nur noch „Kitsch“[44]. Die ästhetische Abwertung, die in seinem Gutachten deutlicher erfolgt als in dem Szondis und die einen Wechsel des so peniblen Philologen in das Amt des Kunstrichters markiert, ermöglicht es Lämmert jedoch, einmal mehr die Harmlosigkeit der Flugblätter zu beteuern, und zwar diesmal durchaus aus Sicht der Adressaten. Studentische Leser seien vertraut „mit diesem Redestil“ und nähmen dessen „Lächerlichkeit“ wahr, statt etwa eine Aufforderung zur Brandstiftung darin zu erkennen.

Strenger und deutlicher als Lämmert arbeitet Wapnewski mit den interpretatorischen Prämissen seiner Zeit, wenn er seine Schwerpunkte auf die Ermittlung der Autorintention („die Erzeugung von Unruhe“[45]) sowie auf Vergleiche mit ästhetisch hochwertigen, hier aber in die Eindeutigkeit der klassischen Ironie gerückten Texte wie denen des absurden Theaters legt. Natürlich fielen die Flugblätter qualitativ hinter Beckett und Ionesco zurück, auch wenn sie deren rhetorische Strategien nachahmten und „mit Mitteln absurder Denkvorgänge und abwegiger Formulierungen“ argumentierten.[46]

Jacob Taubes schließlich bescheinigt Briegleb, sich als einziger auf die Situation der K I eingelassen zu haben.[47] Taubes maß seinem Gutachten so viel Brisanz zu, dass er es binnen weniger Monate im Merkur publizierte. Er dementiert die Bedeutung eines für den gesamten Fall entscheidenden, in den anderen Gutachten aber nicht erwähnten Ereignisses als Vorbedingung der Verhandlung des 6./7. Juli, nämlich den Tod Benno Ohnesorgs und die hieraus erwachsene kollektive Verunsicherung, die zumal an der FU in jenen Tagen gewiss mit Händen zu greifen war. Taubesʾ Artikel zitiert nämlich aus der Anklageschrift die ungeheuerliche, eine Mitschuld der K I am Tod Ohnesorgs implizierende Aussage: „Bei Zusammenstößen von Demonstranten mit der Polizei, die – zumindest auch – von der ‚Kommune I‘ geschürt und gewünscht worden waren, ist ein Student getötet worden.“[48] Es ging in dem Prozess also keineswegs allein um eine in den Flugblättern angelegte Potenzialität einer künftigen Straftat, sondern um die Ermittlung der zumindest moralischen Mitverantwortung der K I an einer bereits geschehenen Straftat, die hier nicht dem Mörder, sondern den protestierenden Studenten in die Schuhe geschoben wird. Diese Unterstellung wehren die Gutachten unisono ab. Taubes zitiert noch viel mehr Satiriker, Surrealisten und Dadaisten herbei als seine Kollegen, schützt die Kommunarden dann aber vor dem möglicherweise revolutionierenden Impetus jener Texte mit einer dialektischen Volte, dass nämlich die Totalität des Negationsgestus der K I nichts als „poetische Fiktion“[49] sein könne, somit nicht etwa politisch gewertet werden müsse und als wahres Ziel ein „infantile[s] Prinzip der Allmacht der Lust“[50] in sich trage. Schlechte Kunst wiederum, aber auf keinen Fall Politik! Auch wenn Taubes auf seine Weise den gerade nach dem 2. Juni alarmierenden Aktualitätsgrad der Flugblätter erkennt, biegt er die möglichen Effekte doch wieder, zum Besten der Angeklagten, um in ein für das Leben letztlich belanglos bleibendes Poetisches.

IV. Zeitläufte: Juni 1967

Extrahieren also die philologischen Gutachten die Flugblätter aus der zunehmend aufgeheizten Stimmung jener Wochen in einen geschützten Raum des (schlechten) künstlerischen Elaborats, so ist es allein die Anklageschrift, die ihnen Welthaltigkeit unterstellt. Zwischen der Verteilungsaktion vom 24. Mai und dem Prozess vom 6. Juli liegen der Tod Ohnesorgs am Tag des Schahbesuchs, die Beisetzung Ohnesorgs in Hannover am 9. Juni und der anschließend dort stattfindende Kongress sowie die Erste Lesung der Notstandsgesetze im Deutschen Bundestag am 29. Juni. Der Kongress bezeichnet eine Weggabelung in der Auseinandersetzung der Studentenbewegung mit der Legitimation von Gewalt. Eine Mitte Juni an der FU gegründete „Kritische Universität“ forderte Hochschulkritik und Studienreform[51] – damit war eine Entwicklung angestoßen, die bis weit in die 70er Jahre hinein unmittelbare Auswirkungen auf die universitäre Lehre wie auf die Verfassung der Universität insgesamt zeitigte. Auch in diesem Kontext sind die eher braven, handwerklich abwiegelnden Gutachten zu lesen; ob Gutachter, Staatsanwalt, Angeklagte oder Verteidiger: alle standen im Bann der sich zuspitzenden Ereignisse.

In Hannover waren am 9. Juni viele der Protagonisten versammelt und kamen zu Wort, nicht nur – und das macht den Kongress legendär – Habermas und Dutschke, sondern auch Langhans und sogar Mahler waren da und sprachen. Die Themen Studienreform und ‚politische Aktion‘ bis hin zur Frage nach dem Umgang mit (staatlicher) Gewalt gehörten spätestens seit jenem Tag auch in der öffentlichen Wahrnehmung zusammen. Dass sich mit der Forderung nach einer Studienreform auch Inhalte und Methoden der geisteswissenschaftlichen Fächer verändern würden, hofften zum damaligen Zeitpunkt gewiss viele, doch mochten es die bereits arrivierten Vertreter der Generation um die hier betrachteten Gutachter noch kaum ahnen. Wenige Jahre später würde ein streng interpretierendes, auf Eindeutigkeit des Textsinnes angelegtes Gutachten eines Germanistik-Professors nicht mehr möglich sein. Alle vier Gutachter hatten bald darauf als Professoren der FU (Wapnewski wechselte 1969 nach Karlsruhe, Szondi beging 1971 vor einem Wechsel nach Zürich Suizid) die Kämpfe um die Studienreform mitzutragen. Vorläufig war es Jürgen Habermas, der, noch ganz abstrakt, als eine der Konfliktlinien der sich formierenden Studentenbewegung das „Spannungsverhältnis […] zwischen dem Bedürfnis nach praktischer Gesamtorientierung und Scientismus“[52] benannte. Man könnte sagen: Theorie und Praxis, damit auch die Welthaltigkeit geisteswissenschaftlicher Methodik, würde sich einer Revision unterziehen lassen müssen. An der Scheidelinie zwischen Alt und Neu standen die sich in Gutachten verfestigenden Suchbewegungen der Berliner Professoren, zwischen einem autonomen Dichtungsverständnis, dem etwa unter Berufung auf Autorintentionen und Grundlage immenser Belesenheit auf die Spur zu kommen war, und einer auf einer Vielfalt von Kontexten bis hin zu Leserbedürfnissen und der Frage nach der Relevanz von Literatur für die gesellschaftliche Praxis beruhenden methodischen Breite.

Nicht zuletzt Rechtsanwalt Mahler führte die juristische Seite der Geschehnisse in die Debatte ein, etwa drohende Schnellgerichtsverfahren gegen Studenten, denen Gewaltausübung unterstellt werde, während faktisch von der Polizei Gewalt ausgegangen sei.[53] Habermas warnte davor, den „legale[n] Terror“[54] des Staates herauszufordern, und Dutschkes Forderung, die „polizeiliche und bürokratische Gewalt“ der vergangenen Wochen mit „Aktionen“[55] zu beantworten, provozierte Habermas zu dem berühmt gewordenen, als Verdachtsmoment gegen Dutschke gerichteten Wort vom „linke[n] Faschismus“: „Ich hätte gerne geklärt, ob er nun willentlich die manifeste Gewalt herausgefordert hat nach den kalkulierten Mechanismen, die in diese Gewalt eingebaut sind, und zwar so, daß er das Risiko von Menschenverletzung, um mich vorsichtig auszudrücken, absichtlich einschließt oder nicht.“[56] Das zunehmend für harmlos gehaltene Reich der Literatur geriet unter den sich hier abzeichnenden Lebensbedingungen ins Hintertreffen und Flugblätter durften zumindest in den Augen von Professoren, die sich weniger deutlich äußerten als Habermas, Poesie sein – aber eine harmlose Poesie der Eindeutigkeit. Zweideutig hingegen war Langhansʾ Hannoveraner Statement, das avantgardistisch geprägte Aktionen ankündigte, aber auch die Androhung von Gegengewalt enthielt.[57] ‚Direkte Aktion‘ war ein im Dunstkreis der Avantgarden durchaus semantisch aufgeladener Begriff[58] – und im 1968 verfassten Nachwort zu den Gutachten kann Dieter E. Zimmer anspielen auf „eine direkte Aktion wie ein Kaufhausbrand“[59]. Das Wort von der Brandstiftung als „Aktion“ fällt bereits in Flugblatt Nr. 6.[60] Zimmer meint freilich den von Baader/Ensslin/Proll/Söhnlein im April 1968 in Frankfurt gelegten Brand. Den manchmal kurzen Weg von der Theorie zur Praxis aber hatten Langhans, der zeitweilige Jura- und dann Psychologiestudent[61], und Teufel, der an der FU mit Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaft begonnen hatte[62], längst zurückgelegt.

V. Schluss

Das zukunftsweisende Element des Langhans/Teufel-Prozesses bestand wohl darin, dass es den Angeklagten scheinbar mühelos gelang, „auch den Gerichtssaal zur Bühne ihrer symbolischen Politik umzufunktionieren“[63] und mit der grundsätzlich situationistischen Praxis der „Störung der rituellen Ordnung“ durch „Antirituale“[64] letztlich gesellschaftsverändernde Wirkungen zu erzielen. Berücksichtigt man mediale, politische, soziale Kontexte in höherem Maße, als es die Gutachten taten, dann kann man die Verdachtsmomente der Anklageschrift zur Hauptverhandlung vom 27.11.1967 nicht ganz von der Hand weisen, die sowohl die Gutachten zur Kenntnis genommen hatte als auch ein Stück Empathie für den vielleicht typischen zeitgenössischen Flugblattleser beweist, der die Ironie der Texte nicht verstanden haben mag. Ironisch daran ist, dass diese Anklageschrift in dem Band Klau mich von den ehemaligen Angeklagten selbst veröffentlicht wurde:

Jeder Versuch, die inkriminierten Flugblätter außerhalb dieser Zusammenhänge [Aktionen und Äußerungen von Mitgliedern der K I zum Thema ‚Aktion‘, J.S.] – gleichsam naiv – zu analysieren, muß daher fehlschlagen und vermag nicht zu zutreffenden Ergebnissen zu führen. Eine Beurteilung zudem, die aus religions-philosophischer, philologischer oder publizistischer Sicht unter Einsatz von derart angreifbaren Methoden, wie sie laufende Standort- und Identitätsverschiebungen darstellen [gemeint ist die methodische Unterscheidung von interner Sprechinstanz und empirischem Autor, J.S.], nachweisen zu können glaubt, daß es sich bei den Flublättern um harmlose Pamphlete gewaltloser surrealistischer Denkart handele, ist ungeeignet; sie verkennt, daß die in Betracht kommenden Empfänger dieser Schriften, auf die es ankommt, aber auch ihre Verfasser selbst, jene Erörterungen professoraler Sachverständiger weder anzustellen noch vor- oder nachzuvollziehen imstande sind.[65]

Statt die Flugblätter als ‚ganze‘ Texte nach den Regeln hermeneutischer Kunst zu interpretieren, las Hans Mayer, prominenter Kollege der Gutachter, die Flugblätter als „ein schönes Spiel mit ganz neuen Spielregeln“, legt also nicht die Regeln der Erzähltheorie, sondern der Dramenanalyse oder der Spieltheorie an, wenn er, ebenfalls nach der Frankfurter Kaufhausbrandstiftung, auf die Begrenzung des Spiels durch eine Finalregel hinwies: „Wenn es aber Tote in der Wirklichkeit gibt, nicht bloß Bühnenleichen, ist der Rahmen des Spiels gesprengt.“[66] Nur ein Jahr nach dem ‚2. Juni‘ konnten Flugblätter nur noch einer pragmatischen Lektüre unterzogen werden, keiner textimmanenten mehr. Und auch Eberhard Lämmert fragte sich im Herbst 1968, also nach dem Schock der Revolte, rückblickend selbstkritisch: „Ist, wer mehrdeutige Texte einsinnig auslegt, ein Opfer oder ein Ausbeuter des Schreibers? Ist es ein Stilproblem, wenn eine Umarmung oder ein Mord nach dem Vorbild eines literarischen Modells vollzogen werden?“[67] Nichts mehr war wie noch ein Jahr zuvor, und auch die akademische Lektüre von Texten sollte von nun an nach anderen Regeln verlaufen.

Anmerkungen

[1] Vgl. Rainer Langhans/Christa Ritter: K 1. Das Bilderbuch der Kommune, München: Blumenbar-Verlag 2008, S. 28 (Dieter Kunzelmann beim Abwasch) und S. 78f.

[2] Aus literaturwissenschaftlicher Sicht schon 1993 von Klaus Briegleb: 1968. Literatur in der antiautoritäten Bewegung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993.

[3] Vgl. den publizistischen ‚Klassiker‘ von Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex, Hamburg 1985; mittlerweile sind Medien- und Kulturgeschichte der RAF detailliert erforscht worden, vgl. Cordia Baumann: Mythos RAF. Literarische und filmische Mythentradierung von Bölls Katharina Blum bis zum Baader Meinhof Komplex, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2012.

[4] Vgl. [Ulrike Meinhof:] Das Konzept Stadtguerilla, in: Rote Armee Fraktion: Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin: ID-Verlag 1997, S. 27‒48.

[5] Vgl. das ausführliche tabellarische Verzeichnis bei: Walter Delabar: „Burn, ware-house, burn!“ Zu den Flugblättern der Kommune I, in: Christiane Caemmerer, Jörg Jungmayr, Eef Overgaauw (Hrsg.): Flugblätter von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart als kulturhistorische Quellen und bibliothekarische Sondermaterialien, Frankfurt am Main, Berlin, Bern u. a.: Lang 2010, S. 269‒292; eine Liste der Bestände des APO-Archivs S. 282‒287.

[6] Die Flugblattaktionen und ihre Folgen wurden mehrfach dargestellt, vgl. Sara Hakemi: Anschlag und Spektakel. Flugblätter der Kommune I, Erklärungen von Ensslin/Baader und der frühen RAF (Schriften zur Popkultur; 2), Bochum: Posth 2008, S. 27‒74. Peter Brandes: Ereignis, Performanz, Situation. Zur Ereignishaftigkeit von Texten der Avantgarden, in: Winfried Eckel/Uwe Lindemann (Hrsg.): Text als Ereignis. Programme – Praktiken – Wirkungen, Berlin, Boston/MA: De Gruyter 2017, S. 129–146, hier S. 142–146.

[7] Abgedruckt u. a. bei Delabar: Burn, ware-house, burn (wie Anm. 5), S. 289‒292. Dass das Urheberrecht im Kontext dieser Flugblätter keine Beachtung findet, zeigt nicht nur die Beschränkung auf die Nennung der Quelle als Archivalie bei Delabar, sondern auch die Vielzahl der Digitalisate im Internet, darunter auch eine Flugblatt-Sammlung des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (http://dhsoftware.de/flugblaetter-1967.pdf; 29.10.2019).

[8] Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Watts_riots (Anlage der Seite 14.10.2004)

[9] Kommune I: [Flugblatt Nr. 8], in: Delabar: Burn, ware-house, burn (wie Anm. 5), S. 291.

[10] Ein Foto aus dem Gerichtssaal zeigt in ähnlicher Kalligraphie die Beschriftung einer Akte, die vor Horst Mahler liegt, mit dem Wort „Landfriedensschluss“: vgl. Langhans/Ritter (wie Anm. 1), S. 50.

[11] Der Wortlaut der Anklageschrift ist abgedruckt in: Rainer Langhans/Fritz Teufel: Klau mich. StPO der Kommune I, hrsg. von Bernward Vesper, Frankfurt am Main, Berlin: Edition Voltaire 1968, s.p.

[12] N. N.: Flugblätter, Gutachten, Epiloge oder Wie weit sind Stilprobleme – Stilprobleme?, in: Sprache im technischen Zeitalter 7 (1968), 28, S. 316‒345, hier S. 316.

[13] Michael Schilling: Artikel „Flugblatt“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Klaus Weimar u. a., Bd. 1, Berlin, New York/NY: De Gruyter 1997, S. 607‒609, hier S. 607 und 608.

[14] Delabar: Burn, ware-house, burn (wie Anm. 5), S. 270.

[15] Joachim Scharloth: 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, München, Paderborn: Fink 2011, S. 142.

[16] Ebd., S. 165.

[17] Vgl. Verf.: Theorie statt Belesenheit? Das literaturwissenschaftliche Grundstudium nach 1968, in: Christoph Strosetzki (Hrsg.): 200 Jahre Nationalphilologien – Von der Romantik zur Globalisierung, Stuttgart: Metzler 2020 (im Erscheinen).

[18] Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, 2. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2018, S. 70.

[19] Dies und das folgende Zitat: Christoph König: Audimax. In: Protest! Literatur um 1968. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar [Ausstellung und Katalog: Ralf Bentz, Sabine Brtnik, Christoph König, Roman Luckscheiter, Ulrich Ott, Brigitte Raitz] (Marbacher Katalog; 51), Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1998, S. 151‒153, hier S. 152f.

[20] Ebd., S. 153.

[21] Eine Auflistung u. a. bei Hakemi (wie Anm. 6), S. 59‒64.

[22] Vgl. Anm. 34.

[23] Dieter E. Zimmer: Eine Absage als vorläufige Schlußbemerkung, in: Flugblätter, Gutachten (wie Anm. 12), S. 342f., hier S. 343. Die Flugblätter waren also längst historisch geworden und mussten, so Zimmer, anders gelesen werden als zum Zeitpunkt des Prozesses und der Entstehung der Gutachten.

[24] Ebd., S. 342f.

[25] Vgl. Hakemi (wie Anm. 6), S. 60.

[26] Briegleb: 1968 (wie Anm. 2), S. 103.

[27] Peter Szondi: [Antworten auf eine Umfrage des Instituts für Demoksopie Allensbach am 17.1.1970], in: ders.: Über eine „Freie (d. h. freie) Universität“. Stellungnahmen eines Philologen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 144f., hier S. 145.

[28] Ebd., S. 103f.

[29] Peter Szondi: Aufforderung zur Brandstiftung? Ein Gutachten im Prozeß Langhans/Teufel, in: Flugblätter, Gutachten, Epiloge (wie Anm. 12), S. 329‒338, hier S. 329. – Szondis Gutachten war das umfangreichste und offenkundig ehrgeizigste; da er die Theorie der Hermeneutik zu seinen Forschungsinteressen zählte, wird hier darauf eingegangen.

[30] Ebd., S. 336.

[31] Vgl. ebd., S. 330.

[32] Ebd., S. 331.

[33] Scharloth: Kommunikationsgeschichte (wie Anm. 15), S. 169. Brandes: Ereignis, Performanz, Situation (wie Anm. 6), S. 145.

[34] Peter Szondi an Rainer Gruenter am 23.7.1967, in: Peter Szondi: Briefe, hrsg. von Christoph König und Thomas Sparr, 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 233‒235, hier S. 234.

[35] Peter Szondi: Stellungnahmen zu Stellungnahmen, in: ders.: Freie (d. h. freie) Universität (wie Anm. 27), S. 148‒150, hier S. 150.

[36] Peter Szondi: Schleiermachers Hermeneutik heute, in: ders.: Schriften II., hrsg. von Jean Bollack, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 106‒130, hier S. 109 [zuerst als Funksendung 1970, erstmals als Manuskript veröffentlicht 1970].

[37] Ebd.

[38] Ebd., S. 110.

[39] Ebd., S. 112.

[40] Vgl. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, 14. Aufl. Bern, München: Francke 1969.

[41] Vgl. Eberhard Lämmert: Theorie und Praxis der Kritik. Peter Szondis Hermeneutik, in: Michael Klein, Sieglinde Klettenhammer (Hrsg.): Literaturwissenschaft als kritische Wissenschaft (Innsbrucker Studien zur Alltagsrezeption; 1), Wien: LIT-Verlag 2005, S. 77‒99, vgl. vor allem S. 81f., 85, 88.

[42] Eberhard Lämmert: Brandstiftung durch Flugblätter? Ein Gutachten, in: Flugblätter, Gutachten, Epiloge (wie Anm. 12), S. 321‒329, hier S. 323.

[43] Ebd. – Gemeint ist Orson Wellesʾ 1938 in den USA ausgestrahltes Hörspiel War of the Worlds nach H. G. Wells.

[44] Ebd., S. 327.

[45] Peter Wapnewski: Gutachten, in: ebd., S. 338‒342, hier S. 339.

[46] Ebd., S. 341.

[47] Vgl. Briegleb: 1968 (Anm. 2), S. 106.

[48] Jacob Taubes: Surrealistische Provokation. Ein Gutachten zur Anklageschrift im Prozess Langhans-Teufel über die Flugblätter der ‚Kommune I‘, in: Merkur 21 (1967), 236, S. 1069‒1079.

[49] Ebd., S. 1078.

[50] Ebd., S. 1079.

[51] Vgl. König: Audimax (wie Anm. 19), S. 155f.

[52] Bedingungen und Organisation des Widerstandes. Der Kongreß in Hannover. Protokolle – Flugblätter – Resolutionen (Voltaire Flugschriften; 12), Berlin: Voltaire-Verlag 1967, S. 47 (Jürgen Habermas).

[53] Vgl. ebd., S. 34‒37 (Horst Mahler).

[54] Ebd., S. 42‒48, hier S. 43 (Habermas).

[55] Ebd., S. 78‒82, hier S. 81 und 82 (Dutschke).

[56] Ebd., S. 100f. hier S. 101 (Habermas).

[57] Vgl. ebd., S. 90.

[58] Vgl. Briegleb: 1968 (wie Anm. 2), S. 51. Vgl. zur Gewaltlosigkeit der ‚direkten Aktion‘ Scharloth: 1968 (wie Anm. 15), S. 73.

[59] Dieter E. Zimmer: Eine Absage als vorläufige Schlußbemerkung, in: Flugblätter, Gutachten, Epiloge (wie Anm. 12), S. 342f., hier S. 343.

[60] Vgl. Delabar: Burn, ware-house, burn (wie Anm. 5), S. 289.

[61] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_Langhans (Anlage der Seite 18.4.2004)

[62] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Teufel (Anlage der Seite 23.12.2003)

[63] Alexander Holmig: Die aktionistischen Wurzeln der Studentenbewegung. Subversive Aktion, Kommune I und die Neudefinition des Politischen, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 107‒118, hier S. 117.

[64] Scharloth: 1968 (wie Anm. 15), S. 68.

[65] Klau mich (wie Anm. 11), s.p.

[66] „Absurda comica von Fritz Teufel“. Hans Mayer über die Situation des Theaters, in: Der Spiegel 22 (1968), 22, S. 145‒147, hier S. 147.

[67] Eberhard Lämmert: Nötiger Hinweis zur Fortsetzung der Diskussion, in: Flugblätter, Gutachten, Epiloge (wie Anm. 12), S. 344f., hier S. 344.