Ostersonntag, 12.4.

Als ich 18 Jahre alt war, kurz vor dem Abitur, gab es viele Ostern wie dieses. Ich weigerte mich schon lange, Sonntagskleider anzuziehen, trug tagaus, tagein meine braunen Cordhosen, Springerstiefel und den geringelten Acryl-Rollkragenpullover von C & A. Ich war Existenzialistin, und das sollte man mir ansehen. Als ich immer noch 18 war, nach dem Abitur, fiel ich in ein großes Loch. Die Struktur der Schule war weggebrochen, und ich wurde depressiv.

Ich schreibe nicht nur gegen Corona an, sondern auch gegen meine Vergangenheit. Das Trauma überschreiben mit Wörtern. Die französische Schriftstellerin Violette Leduc lebte immer im Schatten ihrer kalten, abweisenden Mutter. „Ich war eine Wüste, die mit sich selber spricht“, schrieb sie an Simone de Beauvoir. Ihre ganze Kindheit hindurch hat die Mutter ihr ein unheilbares Gefühl der Schuld eingeflößt: Schuld, geboren zu sein, eine zarte  Gesundheit zu haben, zu existieren. Von der Mutter erdrückt, wollte die Tochter sich völlig vernichten. Und doch vergötterte sie die Frau mit dem stählernen Blick.
„Mein Fall ist kein Einzelfall: Ich habe Angst zu sterben und bin zutiefst betroffen, auf der Welt zu sein. Ich habe geweint, ich habe geschrien. Die Tränen und die Schreie haben mir viel Zeit genommen.“ So beginnt „Die Bastardin“, Violette Leducs autobiografisches Meisterwerk. Ich habe es im Vorbeigehen in einem Karton in Schwabing gefunden, ein total zerfleddertes Buch, rororo „neue frau“, April 1978, Hochzeit des Feminismus.

In diesen Tagen denke ich viel über meine Mutter nach. Ich denke nicht, ich werde gedacht. Von meinem Körper, der noch nach Schlaf riecht. Das Ballett der Gedanken. Dann schreibe ich den Text mit dem Körper. Ein sinnlicher Vorgang.

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020