Samstag, 4.4.

Ich schreibe in die Morgendämmerung hinein. Dann schwingen die Träume noch nach und inspirieren mich. In manchen Nächten überfluten sie mich wie ein Tsunami, in anderen schweben sie wie Ascheregen auf mich nieder. Das Unterbewusstsein lüftet seinen Schleier, Bruchstücke der Kindheit tauchen auf. Der Shutdown macht die Erinnerung durchlässig, die Grenzen zwischen Tag und Traum verwischen. Meine Träume begleiten mich wie ein Schatten, überschatten die Realität. Sie umhüllen mich mit der Wärme der Nacht. Sind bedeutungsschwangeres Geschehen, Prophezeiungen der verwundeten Seele. Traumzeit ist poetische Zeit. Träume setzen Traumata voraus. Wer nie gelitten hat, wird traumlos schlafen. Der Schlaf der Gerechten ist bilderlos, blutleer.

In Zeiten der Quarantäne herrscht in den Ministerien der Einsamkeit Hochbetrieb. Einsamkeit ist gescheitertes Alleinsein. Keiner ist freiwillig einsam, man wird zur Einsamkeit gezwungen.
Nelson Mandela, Jean Genet, Julian Assange – Gefangene der Gesellschaft. Die RAF-Fraktion in Isolationshaft. Ob einer scheitert an der erzwungenen Einsamkeit, hängt von seiner inneren Stärke und Selbstdisziplin ab. Jean Genet wurde im Gefängnis zum Dichter. Sein Leben war durchtränkt von Einsamkeit, die er stolz zum Mythos stilisierte. Julian Assange, weggesperrt im Hochsicherheitstrakt in London, scheitert an der Isolation. Bis zur Unkenntlichkeit gealtert, hat er den Kontakt zu sich und der Welt verloren und sich selbst aufgegeben. Aus dem brillanten Denker ist ein Autist geworden.

Auch wir sind Gefangene der Verhältnisse. Helikopter kreisen über unseren Köpfen und orten Verstöße gegen die Einsamkeit. Gestern nachmittag ging ich im Alten Nordfriedhof spazieren. Ich setzte mich auf eine Bank und rauchte. Sofort stand ein Polizist vor mir und ermahnte mich: „Sie wissen ja, Hinsetzen ist verboten!“

Social distancing, das ist mehr als 1,5 Meter Abstand. Schon nach 2 Wochen Kontaktverbot scheint die Außenwelt in weite Ferne gerückt. Ich fremdele mit der Realität wie ein kleines Kind, das sich hinter seiner Mutter versteckt, wenn ein Fremder auftaucht. In den Fokus meiner Aufmerksamkeit rückt die eigene Befindlichkeit. Die Wirklichkeit ist seltsam unwirklich geworden, unsicherer Boden unter meinen Schritten. Dieser Zustand ist wie Regression, zurück zu den Wurzeln der eigenen Existenz. Verzweifelt klammere ich mich an die Fragmente der Humanität. „Der Mensch ist ein soziales Wesen“ – ein Satz, der wie Spott und Hohn in meinen Ohren klingt.

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020