Sonntag, 22.3.

Corona, die Krone der Erschöpfung. 24.873 Infizierte. Die Stadt ist wie leergefegt. Europa hat jetzt einen offiziellen Grund, sich abzuschotten: die Pandemie. Das Flüchtlingselend wird vor sich hergetrieben.

Angst macht kopflos. Als wäre das Gehirn auf Tauchstation, das Leben sinnentleert. Blubb, blubb, blubb, Gedankensplitter im luftleeren Raum. Nullzeit für gemischte Gefühle. Tauche ich auf für einen Moment, wird Identität wieder spürbar. Welche Offenbarung, wenn die Erinnerungen tanzen!

Die Vergangenheit ist eine Baustelle. Meine Erinnerungen sind im Flow. Schärft der Ausnahmezustand die Sinne?
Die Wohnung meines verstorbenen Vaters steht seit drei Jahren leer. Sein Schlafzimmer ist komplett ausgeräumt, an einer Wand ist die Tapete schon abgekratzt oder hängt in Fetzen herunter. Die Renovierung wurde abgebrochen, Stillstand wegen Erbstreitigkeiten. In den herrschaftlichen Räumen zur Straße hin, liegen noch die Orientteppiche, mit einer Staubschicht bedeckt. Die Fensterscheiben sind schmutzig. Seltsamerweise nirgendwo Spinnweben. Das riesige Bad, frisch gestrichen in Meerblau. Kurz vor seinem Tod hat mein Vater eine behindertengerechte Dusche einbauen lassen. Hier ist er eines Morgens nach dem Duschen so schwer gestürzt, dass er sich Hämatome am ganzen Körper zugezogen hat. Sie haben seinen Tod beschleunigt. Er wurde 97. Im Flur steht der neue metallicrote Rollator, der kein einziges Mal benutzt wurde, ein Symbol der Hilflosigkeit. Keiner von uns Geschwistern ist fähig, die Wohnung zu entrümpeln. Alles hängt in der Schwebe.
Am 7. April ist sein dritter Todestag. Werde ich eine Kerze anzünden können oder werden die Gotteshäuser geschlossen sein? Zu wem sollen wir jetzt beten?

Tag 1 der Ausgangssperre ist vorüber. Die Menschen halten sich an die Regeln, keine besonderen Vorkommnisse. Alles ist ruhig geblieben. Die Straßen und Plätze sind verwaist, keine Touristen. Der Ausnahmezustand gilt weltweit.

Es ist Nacht, und es schneit. Von meinem Tisch am Fenster aus sehe ich die Flocken unter der Straßenlaterne flimmern. Nebenbei läuft der Fernseher, „Unsere wunderbaren Jahre“, ein Dreiteiler über die Nachkriegsjahre in Deutschland. Manche ältere Menschen fühlen sich in der aktuellen Situation erinnert an den Krieg, an Fliegeralarm, Hunger, Hamsterkäufe. „Der Krieg war viel schlimmer als Corona“, sagt meine 95jährige Tante, die ihre Putzfrau abbestellt hat und jetzt selbst ihre Teppiche saugt. Sie lebt im betreuten Seniorenwohnen und trägt die Kontaktsperre mit Gleichmut.
Die Fernsehbilder rauschen an mir vorbei, ich nehme nur die Filmmusik wahr. Sie ist elegisch. Ein früherer Freund von mir sammelte Soundtracks, er besaß hunderte von Schallplatten mit Filmmusik. Ich konnte diese Leidenschaft nie verstehen. Er war Fotograf, machte die Probeaufnahmen immer mit einer Polaroidkamera. Ich höre noch heute das Geräusch, das die Hasselblad machte, wenn er auf den Auslöser drückte und seine Fotoserien schoss in rasender Geschwindigkeit. Er war Deutsch-Italiener und lebte in einer alten Fabrikhalle in Hamburg. Seiner Wirkung auf Frauen war er sich bewusst.
Das waren die 80er Jahre, als die ganze Gesellschaft nach dem Motto „Höher, schneller, weiter“ funktionierte.

Es gibt 3 Möglichkeiten, auf die Corona-Krise zu reagieren:
Angst
Ignoranz
Gelassenheit
Ich switche zwischen 1. und 3. hin und her. Wenn ich meine Emotionen nicht durch die Ratio filtere, überwältigt mich blankes Entsetzen. 800 Menschen sind gestern in Italien gestorben.

Die Franzosen kaufen jetzt Kondome und Rotwein in rauen Mengen, wir Deutschen hamstern Klopapier. Der Unterschied zwischen den Nationen könnte nicht deutliche zutage treten.
Vor drei Wochen saß ich an einem Sonntag vor einer Eisdiele in Schwabing und löffelte ein sündteures Bio-Eis. Ein junger „Biss“-Verkäufer kam vorbei und bot mir die Straßenzeitung an. Obwohl ich sie nicht gerne lese, kaufe ich immer ein Exemplar, aus Solidarität. Er beugte sich zu mir herunter und kam mir dabei bedenklich nah. Ich zählte 2.20 Euro ab und reichte sie ihm, wobei ich darauf achtete, seine Hände nicht zu berühren. Ich hatte Angst vor Ansteckung. Noch Stunden später war ich leicht panisch.

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020