Freitag, 20.3.

Heute ist Frühlingsanfang und Weltglückstag. Wie grotesk!
19.848 Infizierte. Im Englischen Garten werden Gruppen von berittenen Polizisten aufgelöst. Menschenansammlungen werden „aufgespürt“ (O-Ton Nachrichten).
Ich reagiere mit Paranoia. Sind wir auf dem Weg in den Polizeistaat?
Mir macht die Aushebelung der Grundrechte Angst. Ins Café gehe ich nur noch mit schlechtem Gewissen. Die meisten anderen üben sich in vorauseilendem Gehorsam und bleiben ganz weg. Ich habe in einer Apotheke einen Restposten Desinfektionsmittel ergattert und benütze es sofort. Panikattacke bei Sonnenaufgang: feuchte Hände, Herzrasen. Ich stehe auf. Der Boden hebt und senkt sich. Ich nehme einen Betablocker.

In China gilt die Gesichtsmaske als Höflichkeitsgeste: Ich schütze dich so vor mir! Ein obszön unförmiges Paar, das sich durch den Mundschutz hindurch leidenschaftlich küsst – das wäre ein gefundenes Fressen für den Wiener Karikaturisten Manfred Deix gewesen!

Schreiben als Therapie: Wörter hamstern, um in der Not Sätze zu haben. Das Tagebuch verlangt mir einiges ab. Ich muss tief rein in die Materie, mich mit Corona konfrontieren. Verdrängen der Gefahr durch das Virus ist für das Schreiben kontraproduktiv. Immer öfter lege ich Pausen ein, spüle Geschirr, räume auf, wasche meine Haare (die habe ich noch kurz vor dem Shutdown in intuitiver Voraussicht ultrakurz schneiden lassen). Jedes Kratzen im Hals deute ich als Anzeichen der Krankheit.

Von Freunden werde ich mit Videos bombardiert. Expertenmeinungen: Corona-Chefideologe Christian Drosten von der Berliner Charité; Lungenarzt und Corona-Rebell Dr. Wolfgang Wodarg, der auf seinem Feriensitz in Griechenland „Panikmache“ konstatiert; Alexander Kekulé, Professor für Medizinische Mikrobiologie und Virologie, der schon lange vor der WHO von einer „Pandemie“ spricht. Ich komme kaum nach, das Gehörte zu verarbeiten.

Drei Aphorismen:
In seinem Unterbewusstsein sehnt sich der Mensch nach Chaos.
Allgemein ist die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist. (Friedrich Nietzsche)
Pumuckl schreit: Wo ist der Puddeling?

Friedrich Hölderlin war 36 Jahre in einem Turm in Tübingen eingesperrt. Wie niemand sonst steht er in der deutschen Literatur für das Klischee vom wahnsinnigen Genie. Er war völlig vereinsamt, aber verfasste die schönste Dichtung. Ich frage mich: Wird auch mich die Krise kreativ machen?

Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020