Denkmal eines Denkmalsturzes

Mit einem Nachwort von Sabine Koloch

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Inhalt

Denkmal eines Denkmalsturzes
Nachwort: Peter Schütt ‒ Lyrik als Medium der politischen Agitation
Nachtrag: Zwei Fragen, zwei Antworten
Anhang: Sturz des Wissmann-Denkmals im Garten der Hamburger Universität
Anmerkungen

 

Denkmal eines Denkmalsturzes

Von Peter Schütt

Eine Anfrage des Hamburger Denkmalschutzamtes versetzte mich um fast ein halbes Jahrhundert zurück in die turbulente Zeit der Studentenrevolte. Ob ich damit einverstanden sei, dass das 1967 von mir als „Rädelsführer“ ‒ so stand es damals im Polizeibericht – zur Hälfte umgestürzte Kolonialdenkmal im Garten der Hamburger Universität an anderer Stelle wieder aufgestellt wird als „entweihtes und halb zerstörtes Denkmal“. Als neuer Standort biete sich der „Tansania-Park“ in der HafenCity an. Falls es zu der Neuaufstellung käme, würden zwei Schautafeln neben der Denkmalruine zum einen die Rolle Hermann von Wissmanns als brutalem Kolonialkrieger, zum anderen die Hintergründe und Motive unseres antikolonialen Happenings schlaglichtartig beleuchten.

Nach einigem Überlegen stimmte ich dem Vorhaben zu.

Die aus Finnland stammende Bildhauerin Hannimari Jokinen, die den kolonialkritischen Park konzipierte und propagierte, wollte von mir ganz genau wissen, warum ich das starke Verlangen gehabt hatte, am Wissmann-Denkmal in der geschlossenen Gruppe eine Protestaktion durchzuführen. Ich begründete mein Engagement mit meinem linken politischen Bewusstsein und mit den vielen Endlosgesprächen, die ich mit meinen afrikanischen Mitbewohnern im Studentenwohnheim geführt hatte.

Das genügte der hartnäckigen Interviewerin aber nicht. „Persönliche Gründe hatten Sie nicht?“, hakte sie nach. Ich überlegte angestrengt und dann fiel mir eine Episode aus jenen fernen Tagen ein, die ich im Eifer der politischen Agitation beinahe ganz aus meiner Erinnerung verbannt hatte. „Na schön, aber bitte nicht zum Mitschreiben: Es war eine Art Racheakt. Ich war damals Assistent von Karl Ludwig Schneider, Ordinarius für deutsche Philologie und Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg.“

Frau Jokinen wandte ein: „Der war ein erklärter Antifaschist.“

„Ja, das war er“, antwortete ich. „Er war Mitglied des Hamburger Zweiges der Weißen Rose und verbrachte fast ein ganzes Jahr im KZ. Wegen seines Mutes im Widerstand verehrte und bewunderte ich ihn sehr. Aber er hatte auch eine düstere Seite. Ich meine seinen Hass auf alles Dunkelhäutige und Afrikanische. Ein Vorfall ist mir besonders im Gedächtnis haften geblieben. Unser Professor rüstete Ende Juli 1966 zur Abreise an die Stanford University in den USA. Er sollte dort am deutschen Seminar ein Gastsemester absolvieren und seinen Hamburger Lehrstuhl mit dem amerikanischen Kafka-Forscher Walter H. Sokel tauschen. Vor seiner Abfahrt hatte er Assistentin und Assistent, Edith Otrembra und mich, zu sich gerufen, um mit uns zu besprechen, was während seiner Abwesenheit zu tun sei. Mir übertrug er die persönliche Betreuung des amerikanischen Gastes und die Fertigstellung einer Auswahl von Klopstocks Oden mit dem Nahziel Reclamheft. Zuerst hatte er Edith Otremba zu sich gebeten. Sie hatte sich für die bevorstehenden Semesterferien eine nicht ganz ungefährliche Reise vorgenommen. Zum ersten Mal wollte sie das Heimatland ihres Verlobten, Biafra, die abtrünnige und umkämpfte Provinz in Nigeria, besuchen und hatte darum ihren zukünftigen Ehepartner, den angehenden Arzt Ibo Ihekweazu, mitgebracht, um ihn ihrem Professor vorzustellen. Das Gespräch dauerte viel länger als vorgesehen und ich musste im Flur des vierten Stocks vom neubezogenen Philosophenturm geraume Weile warten, bis ich an die Reihe kam. Als Edith und Ibo aus Schneiders Sprechzimmer herauskamen, machten sie keinen sehr fröhlichen Eindruck. Für ein längeres Gespräch blieb uns keine Zeit.

Mein Professor rief mich zu sich. Er begann unser Arbeitsgespräch mit einer Bitte, die schon wegen ihres Ortes für mich mehr als peinlich war. Er öffnete seinen Besenschrank und bat mich, eine Bürste und einen Wischlappen herauszunehmen. ‚Darf ich Sie um einen Gefallen bitten? Es geht mir um die Sauberkeit in unserem schönen neuen Seminar.‘ ‚Bitte!‘, sagte ich kleinlaut. ‚Gehen Sie mal bitte schnell in die Herrentoilette! Ich fürchte, da hat wieder einer sein großes Geschäft in das Becken fürs Kleine gemacht. Gucken Sie nach und bringen Sie die Sache in Ordnung!‘

Zähneknirschend tat ich, was mir befohlen war. Ich kehrte unverrichteter Dinge zurück. In der Toilette war alles sauber und ordentlich. Mein Professor belohnte mich mit einem versöhnlichen Grinsen und ging zur Tagesordnung über.

In mir kochte es. Karl Ludwig Schneider hatte nicht nur mich gedemütigt, er hatte ebenso Edith Otremba und ihren afrikanischen Verlobten beleidigt. Der vulgärrassistisch Verleumdete, Sprecher des Biafra-Solidaritätskomitees, hatte kurz vorher am Universitätskrankenhaus in Eppendorf seine Ärzteausbildung mit Bestnote abgeschlossen. Fast zwei Jahrzehnte später besuchte ich Edith und Ibo Ihekweazu in Nsukka. Edith leitete das German Department an der Universität und war gerade zur Vorsitzenden des Verbandes Afrikanischer Germanisten (VAG) gewählt worden. Ihr Mann war inzwischen Gesundheitsminister der Provinz Biafra, unterhielt ein eigenes Krankenhaus und war als Chief des Distrikts ein einflussreicher und beliebter Regionalpolitiker.

Nach der unliebsamen Begegnung mit meinem Professor sann ich auf Rache. Ich beratschlagte mit meinen Mitbewohnern im Europakolleg, unter ihnen mehrere nigerianische Studienkollegen von Ibo Ihekweazu, und dann fassten wir den Entschluss. Wir wollten uns am Denkmal des Kolonialschlächters Hermann von Wissmann rächen. Am 8. August 1967 legten wir, unterstützt von etlichen Freunden und Genossen aus der linken Szene, Hand an seine Statue an.“

„Das kann ich“, meinte Frau Jokinen, „natürlich nicht auf die Schautafel schreiben. Das ist viel zu privat.“

„Sie haben Recht“, antwortete ich, „aber Sie wollten ja unbedingt meine persönlichen Beweggründe erfahren!“ Soweit HM Jokinens bohrende Frage an mich.

Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach dem Denkmalsturz ereignete sich etwas nicht minder Aufwühlendes in meinem Leben. Es war ein schwülheißer Sommernachmittag im August 1977. Ich stieg die Treppe zu meiner Wohnung im dritten Stock eines Altbaus im Stadtteil Eppendorf hinunter, um im Hinterhof meine Mülltüten zu entsorgen. Da traute ich meinen Augen nicht. Vor den Mülltonnen stand Hilfe und Rat suchend eine schöne schwarze Frau mit leuchtend grünen Augen. Vielleicht hatte sie mir niemand anders als Chiddr geschickt, der grüne Seelenlenker, der schon Moses den rechten Weg gewiesen hatte. Schüchtern fragte sie mich halb auf Deutsch, halb auf Englisch, ob ich wüsste, wo die Akten des Deutschen Kolonialforschungsinstituts zu finden sind.

Mir verschlug es die Sprache. Ich war komplett überfragt. Ich wohnte schon mehr als zehn Jahre in Eppendorf, aber davon, dass irgendwo in den alten Schuppen und Scheunen hinter unserem Haus das deutsche Kolonialarchiv untergebracht ist, hatte ich noch nie etwas gehört. Liz, so stellte sich die fremde Schöne mir vor, zeigte mir ein Schreiben vom Bundesarchiv in Koblenz. Darin wurde ihr mitgeteilt, die gesuchten Archivalien seien seit dem Krieg in die Eppendorfer Landstraße 102 ausgelagert. Das war meine Adresse.

Um den genauen Standort des Lagers herauszufinden, bot ich Liz an, mit in meine Wohnung zu kommen. Rasch war die Standortfrage mithilfe des Seminars für Afrikanistik geklärt. Liz gefiel es bei mir, mir gefiel sie auch. Sie blieb über Nacht, sie blieb länger und so begann meine Reise in die schwarze Haut, die mich über kurz oder lang zu einem anderen Menschen machte.

Das Rassismus-Problem ließ mich seither nicht mehr los. Ich war zunächst der Meinung, beim Rassismus handele es sich gewissermaßen um einen Geburtsfehler der weißen Herrenrasse. Ich sah zunächst den Kommunismus und später den Islam als Allheilmittel gegen die rassistische Krankheit an. Inzwischen weiß ich, dass rassistische Vorurteile und Diskriminierung leider Gottes fast überall auf der Welt vorhanden sind. Selbst unter meinen muslimischen Mitgeschwistern gibt es bedauerlicherweise immer noch rassistische Vorurteile. Und das, obwohl Hagar, Abrahams Geliebte, die Mutter Ismaels, des Stammvaters aller Araber, eine ägyptische Sklavin war, obwohl Bilal, der erste Gebetsrufer der Gemeinde in Mekka, aus Äthiopien stammte, und obwohl der Koran die Vielfalt der Hautfarben, Sprachen und Kulturen als Geschenk Gottes an die Menschheit betrachtet.

Nachwort: Peter Schütt ‒ Lyrik als Medium der politischen Agitation

Der hier erstmals veröffentlichte Prosatext „Denkmal eines Denkmalsturzes“ stammt aus dem Jahr 2017. Entstanden ist ein sehr persönliches Erinnerungsdokument[1] ‒über Täter-Opfer-Strukturen, Rassismus, Gefühlsaufruhr, Vergeltung, koloniale Vergangenheit, Solidarität, politischen Protest, das Eintauchen in neue, verwandelnde Erfahrungen. Über das im Titel präsent gemachte Medienereignis, den symbolischen „Gewaltakt“ gegen Hermann von Wissmann (1853‒1905)[2], verübt von Mitgliedern des Hamburger SDS am 8.8.1967 an dessen Standbild im Garten der Hamburger Universität, breitet sich der Schleier der Ich-Betroffenheit. Schütt geht es nicht um den genauen Ablauf der Aktion, die Anteile der einzelnen SDS-Mitglieder, die öffentliche Meinung. Ich will daher, um das Gesamtgeschehen nachvollziehbarer zu machen, einige Informationen ergänzen.

In der Planungsphase trug ein Flugblatt der Hamburger SDS die Absicht in die Öffentlichkeit, das „‚Schandmal‘ des ‚deutschen Herrenmenschen‘ abzuräumen“.[3] Ansatzpunkt der schriftlich verbreiteten Kritik war die Entwicklungslinie vom Kolonialismus über den Nationalsozialismus bis zu kolonialen Mustern der Gegenwart: „Am Dienstag, den 8. August 1967 um 17 Uhr, stürzt im Garten der Hamburger Universität ein berühmt berüchtigter Kolonialherr von seinem Sockel. […] Sein Name ist Hermann von Wissmann. […] Sein Werk ist die Erforschung und Eroberung ‚Deutsch-Ostafrikas‘ für Kaiser und Reich. Was im ‚Mutterland‘ als ‚friedliche Durchdringung‘ und ‚Unterstellung unter die deutsche Schutzherrschaft‘ dargestellt wurde, bedeutete für die Einwohner des Landes, Araber wie Afrikaner, bestenfalls Vertreibung, schlimmstenfalls die Ausrottung. […] Die WISSMÄNNER sind noch immer unter uns, stürzen wir wenigstens ihre DENKMÄLER!“.[4]

Der Hamburger Zeithistoriker Andreas Bohne berichtet in seinem 2018 auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlichten Beitrag Der Sturz des Wissmann-Denkmals in Hamburg von drei kurz aufeinanderfolgenden Sturzaktionen: „Am 8. August 1967 versuchten Hamburger Studenten die Denkmäler von Hermann von Wissmann und Hans Dominik abzutragen. Ein Seil war bereits um den Hals gelegt, als die Polizei einschritt und fünf Personen festnahm. Ein zweiter Versuch in der Nacht vom 26. zum 27. August 1967 war erfolgreich, jedoch wurde die Statue wieder aufgestellt. Ein Jahr später, in der Nacht zum 31. Oktober 1968, wurde das Denkmal wiederum gestürzt. Diesmal entschied die Universitätsleitung, die Statue nicht wieder aufzurichten, sondern in die Sternwarte Hamburg-Bergedorf einzulagern.“[5]

Zu Beginn der symbolischen Denkmalsturzaktion am 8. August 1967 verlas Peter Schütt vom Sockel der von einem Askari (in der Lesart von Peter Schütt: Herero) und einem Löwen flankierten Wissmann-Statue herab sein Gedicht „Denkmal eines bekannten Soldaten“. In seiner Lyrik-Anthologie Sicher in die siebziger Jahre. Straßentexte (1969) druckte er dieses Gedicht zusammen mit dem folgenden Kommentar ab: „Der Hamburger SDS veranstaltete am 8. August 1967 am Denkmal des deutschen Kolonialführers Hermann von Wissmann im Gelände der Hamburger Universität ein Straßentheater zur Aufklärung über den Nationalsozialismus. Zur Eröffnung las der Verfasser dieses Gedicht; er wurde im Verlauf der Aktion als Rädelsführer festgenommen und später wegen Hausfriedensbruch zu dreihundert Mark Geldstrafe, ersatzweise dreißig Tage Haft, verurteilt. Merke: der Arbeitstag eines Schriftstellers hat bei der Justiz einen Wert von 10,00 DM; ein Gedicht kann immerhin dreihundert Mark kosten!“[6]

Während der Aktion, als das SDS-Mitglied Dirk Siefer dem überlebensgroßen bronzenen Standbild Wissmanns[7] den Strick um den Hals legte, rezitierte Peter Schütt, auf dem Boden stehend, das Gedicht „Schwarzrotgold“. Zum nachfolgenden Gerichtsprozess äußerte er sich 1978 in seinem Sammelband Klarstellung,[8] 1992 in der TAZ[9].[10] Darüber hinaus gab es literarische Verarbeitungen.[11]

Am 20.3.2019 führte der Hamburger Kolonialismusforscher Kim Todzi im Rahmen des Projekts „50 Jahre Denkmalsturz“ der Hamburger Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“[12] ein Interview mit Peter Schütt.[13] Todzis Kurzinformation auf kolonialismus.uni-hamburg.de zufolge war auch der spätere Filmregisseur Rolf Schübel (* 1942) an der symbolischen Sturzaktion beteiligt: „Einerseits war er als Mitglied des SDS und des Studierendenparlamentes aktiv in der Studierendenbewegung. Andererseits war er als Regie-Assistent an der NDR-Dokumentation ‚Landfriedensbruch‘ über die Studierendenbewegung unter der Regie von Theo Gallehr beteiligt und fungierte so als ‚Brücke‘ zwischen Studierenden und Filmenden.“[14] Gallehr bannte in seinem Film „Landfriedensbruch“ (1969) die happeningartige Protestaktion vom 8.8.1967 auf Zelluloid.[15]

Nachtrag: Zwei Fragen, zwei Antworten

Sie fragen mich nach Vorbildern zu unserem Denkmalsturz. Im Film „Landfriedensbruch“ nenne ich selbst den Umsturz des Stalindenkmals in Budapest im Jahre 1956 zu Beginn des Aufstandes. Aber ein anderes Vorbild lag mir schon aus geographischen Gründen viel näher. Vor der Missionsakademie im nahen Hermannsburg in der Lüneburger Heide stand damals neben dem Eingang ein „Nickneger“. Wenn man eine Geldspende in die Dose hineinwarf, die der „Nickneger“ in seiner ausgestreckten Hand den Besuchern entgegenhielt, begann er etliche Male mit dem Kopf zu nicken. Mein Freund, der Theologiestudent und angehende plattdeutsche Lyriker Dieter Bellman, hatte mir kurz vor unserer Aktion stolz vom Attentat auf das hundert Jahre alte Symbol der Missionsakademie erzählt. Und noch etwas habe ich anzumerken. Ich habe Ihnen einen Text mit der Überschrift „Sturz des Wissmann-Denkmals im Garten der Hamburger Universität“ zugesandt. Dieser ist gedacht für eine Dokumentation von Helga und Arwid Milz über „Die Hamburger SDS-Aktivitäten 1966‒1969“, die aber noch nicht erschienen ist. Sie können ihn gerne verwenden.[16]

Sie haben Recht, unser Denkmalsturz war als eine Art Happening gedacht und ist dann auch so gelaufen. Die Anzeige gegen uns „Wissmann-Attentäter“ kam von der Universitätsverwaltung. Auf Schneider konnte ich in diesem Fall nicht bauen, er verstand überhaupt keinen Spaß. Sie fragen mich nach meinen psychologischen Motiven. Hass und Rache mögen in Bezug auf Schneider eine Rolle gespielt haben, aber vermutlich mehr gegenüber meinem Vater, der ein schlimmer Rassist war.[17] Als ich zehn Jahre später eine afroamerikanische Frau heiratete, kam es zum endgültigen Bruch. Mein Vater ist bald darauf vor Gram darüber an Magenkrebs gestorben. Dass ich 1966/67 große Risiken eingegangen bin, war mir überhaupt nicht bewusst. Obwohl ich mein politisches und literarisches Engagement mit dem Ende meiner akademischen Karriere bezahlte, gab und gibt es keinen Grund, mich als Märtyrer zu fühlen oder hinzustellen. Im Gegenteil: Der Abschied von der Universität gab mir den entscheidenden Anstoß, mein Glück als freier Schriftsteller zu versuchen. Und dank der Popularität, die ich als Denkmalstürzer bekommen hatte, ist mir der Start ins Literatenleben erstaunlich leicht gelungen. Uns 68ern standen damals viele Türen offen, im Rundfunk wie in den Printmedien. Der Prozess gegen uns Wissmann-Attentäter wurde aufgrund des Drucks der studentischen Öffentlichkeit ins Audimax verlegt und Rundfunk- und Fernsehredakteure standen bei uns Schlange.[18]

Anhang: Sturz des Wissmann-Denkmals im Garten der Hamburger Universität[19]

8.8.1967

STURZ DES WISSMANN-DENKMALS IM GARTEN DER HAMBURGER UNIVERSITÄT

Gedichte von Peter Schütt

Zu Beginn der Aktion, vorgetragen vom Sockel herab
DENKMAL EINES BEKANNTEN SOLDATEN*
Stramm vom Scheitel bis zur Sohle. Ungebrochen.
Ohne ein Zeichen der Schwäche.
Er hat kein Gesicht zu verlieren.
Zittern und Zagen überkommt ihn nicht.
Der Hals sitzt ordnungsgemäß unter dem Kopf.
Unempfindlich an Hand und Fuß: er ist Haltung.
Die Abzugshebel von Nase, Auge und Mund
bedient er auf Befehl. Er zuckt
nicht mit der Wimper,
er drückt kein Auge zu, er verzieht keine Miene
und er rümpft die Nase nicht.
Er gibt nichts aus der Hand,
er schüttelt nichts aus dem Ärmel,
seine Knie werden nicht weich.

Er ist allzeit bereit. Auf den Ruf: Rührteuch!
setzt er sich in Bewegung und ruhig festen Schritts
tritt er, was sich ihm in den Weg stellt, kurz und
klein.
Er geht wie am Schnürchen, aufrecht, unbeugsam,
kopfhoch schreitet er durch Wasser, das
ihm bis zum Halse steht. Er fährt
nicht in die Höhe.

Während der Aktion, am Boden, während Dirk Siefer Wissmann den Strick um den Hals legt:

SCHWARZROTGOLD

Stolz wehte Wissmanns Reichskriegsflagge Schwarzrotgold!
Weiß ist die Weste der Täter,
schwarz sind ihre Opfer.
Rot ist der Wüstensand
vom Blut der Hereros.

Ob wir schwarz sind oder weiß:
rot ist das Blut, das in unseren Adern pocht,
rot ist die Wut, die in den Hereroherzen kocht,
rot ist unser Fanal, das die Wissmänner vom Sockel reißt!
Zieht, Genossen, zieht mit uns!

* Peter Schütt: Sicher in die siebziger Jahre. Straßentexte, Hamburg: Quer-Verlag 1969, S. 105.

Anmerkungen

[1] Vgl. Helmut Peitsch in Verbindung mit Konstantin Baehrens, Ira Diedrich, Christian Ernst, Christoph Kapp, Jacob Panzner, Ulrike Schneider, Frank Voigt (Hrsg.): Nachkriegsliteratur als öffentliche Erinnerung. Deutsche Vergangenheit im europäischen Kontext, Berlin, Boston/MA: De Gruyter 2019.

[2] Erwin Mau: Hermann von Wissmann, Deutschlands größter Afrikaner, Berlin: Hillger [1934]. Alexander Becker, Conradin von Perbandt, Georg Richelmann, Rochus Schmidt, Werner Steuber: Hermann von Wissmann ‒ Deutschlands größter Afrikaner, Paderborn: Salzwasser Verlag 2012.

[3] Andreas Bohne: 1968 und deutscher Kolonialismus ‒ war da was? Der Sturz des Wissmann-Denkmals in Hamburg, URL: https://www.rosalux.de/publikation/id/38970/1968-und-deutscher-kolonialismus-war-da-was/ (2018).

[4] Andreas Eckert und Albert Wirz: Wir nicht, die Anderen auch. Deutschland und der Kolonialismus, in: Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main, New York/NY: Campus 2002, S. S. 372‒388, hier S. 372.

[5] Bohne: 1968 und deutscher Kolonialismus (wie Anm. 3).

[6] Peter Schütt: Sicher in die siebziger Jahre. Straßentexte, Hamburg: Quer-Verlag 1969, S. 105‒106. Vgl. zur Rezeption dieser Anthologie die literaturgeschichtliche Darstellung: Geschichte der Literatur der Bundesrepublik Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Von einem Autorenkollektiv. Leitung Hans Joachim Bernhard (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart; 12), Berlin: Verlag Volk und Wissen 1983, S. 459‒460: „PETER SCHÜTT (geb. 1939), Mitbegründer der Gruppe ‚Hamburg linksliterarisch‘, promovierter Germanist, schlug den Weg ein, auf den sich die meisten jüngeren Autoren in den sechziger Jahren begaben. Christlich erzogen, lernte er in der Ostermarschbewegung die Praxis des politischen Kampfes kennen, teilte die Revolutionseuphorie vieler linker Intellektueller und näherte sich schließlich, während erneuter Selbstverständigung, der organisierten Arbeiterbewegung. Diese Entwicklung beeinflußte maßgeblich seine literarische Arbeit. Seine ersten Gedichte und theoretischen Äußerungen ([Asphalt-Literatur.] Zum Verständnis einer SDS-Ästhetik) zeigen ihn als einen Lyriker, der alle Möglichkeiten aufklärerisch-agitatorischen Schreibens nutzt und mit seinen Gedichten unmittelbar in die politischen Auseinandersetzungen eingreifen will. Aus diesem Grunde wandte er sich vor allem aktuellen Problemen zu und nahm häufig zu politischen Tagesereignissen Stellung ‒ zum Bundestagswahlkampf, zum Streit in der SPD und zum Krieg in Vietnam ‒, appellierend, Widerrede führend, anklagend und argumentierend. Während er in seinem ersten Buch schon im Titel einen Slogan der CDU aufnahm ‒ Sicher in die siebziger Jahre. Straßentexte (1969) ‒ und offen seine kritische Absicht zu erkennen gab, begnügte er sich in den Publikationen der siebziger Jahre ‒ Friedensangebote (1971) und Für wen? Für uns! (1977) ‒ nicht mehr mit satirischen Angriffen gegen das kapitalistische System. Er bekannte, wofür und für wen er sich engagiert.“ ‒ Genau genommen war Peter Schütts „erstes Buch“ Bändchen 1391 der Verlagsreihe „Reclams-Universal-Bibliothek“: Friedrich Gottlieb Klopstock: Oden. Auswahl und Nachwort von Karl Ludwig Schneider, Stuttgart: Reclam 1966 (Schneider hatte sich über Klopstock habilitiert). ‒ Siehe auch folgende Arbeiten von Peter Schütt: Eiffe [= Ernst Peter Eiffe] for President, Frühling für Europa. Surrealismen zum Mai 1968. Herausgeber und Information: Uwe Wandrey. Politkritische Vorbemerkungen: Peter Schütt, Hamburg: Quer-Verlag 1968. Entwicklung der demokratischen Bewegung an der Universität Hamburg im Wintersemester 1967/68, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 13, 1968, S. 380‒389. Untergrund-Literatur: Agitation durch Aktion, in: Rolf-Ulrich Kaiser (Hrsg.), Protestfibel. Formen einer neuen Kultur, Bern, München, Wien: Scherz 1968, S. 112–127. Agnes Hüfner, Gerd Peter, Peter Schütt: Aktion Roter Punkt. Hannoveraner Chronik. Interviews, Analysen, Dokumente, München: Damnitz Verlag [1969]. Kampnagel lehrt euch: Arbeiter wehrt euch!, in: Kürbiskern. Literatur, Kritik, Klassenkampf 2, 1969, 2, S. 243–254 (wiederabgedruckt in: Agnes Hüfner [Hrsg.]: Straßentheater, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 107–138). Faustregeln für Klassenkämpfer, Dortmund: Weltkreis-Verlag 1970. Linkes Lesebuch, Dortmund: Weltkreis-Verlags-GmbH 1970.

[7] Joachim Zeller: „Deutschlands größter Afrikaner“. Zur Geschichte der Denkmäler für Hermann von Wißmann, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44, 1996, S. 1089–1111. Gordon Uhlmann: Das Hamburger Wissmann-Denkmal: Von der kolonialen Weihestätte zum postkolonialen Debatten-Denkmal, in: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller (Hrsg.), Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche in Deutschland, Erfurt: Sutton 2007, S. 281–285.

[8] Peter Schütt: Der Wißmann-Prozeß. Eine halbwegs authentische Geschichte, in: ders., Klarstellung. Faustregeln und Friedensangebote [Hrsg. und mit einem Nachwort von Reinhard Hacke], Berlin: Verlag Tribüne 1978, S. 83‒89 (einige Bibliotheken verzeichnen das Buch mit dem Vermerk: „Ausg. für d. DDR u. d. sozialist. Länder“).

[9] Peter Schütt: Der Denkmalsturz. Vor 25 Jahren kippten Studenten das Standbild des Afrika-Eroberers und Mitbegründers der Hamburger Uni, Hermann von Wissmann, von seinem Sockel ‒ eine symbolische Abrechnung mit dem Kolonialismus, in: Die Tageszeitung Online 7.8.1992, URL: https://taz.de/!1658712/.

[10] Vgl. auch Martin Eimermacher, Luisa Hommerich: Vom Protest zur Opposition. Vier 68er berichten, in: Die Zeit Online 17.5.2018, URL: https://www.zeit.de/2018/21/68er-bewegung-protestler-hanna-mittelstaedt-uwe-timm-peter-schuett-thomas-ebermann.

[11] Vgl. Michael Buselmeier: Nach der Revolte: Die literarische Verarbeitung der Studentenbewegung, in: Werner Martin Lüdke (Hrsg.), Literatur und Studentenbewegung. Eine Zwischenbilanz (Lesen; 6), Opladen: Westdeutscher Verlag 1977, S. 158‒185, hier S. 173.

[12] URL: https://www.kolonialismus.uni-hamburg.de/2018/10/30/50-jahre-denkmalsturz-der-sturz-des-wissmann-denkmals-an-der-universitaet-hamburg-1967-68/ (2019).

[13] URL: https://www.kolonialismus.uni-hamburg.de/2019/03/20/denkmalsturz-peter-schuett-im-interview/ (20.3.2019).

[14] Denkmalsturz: Rolf Schübel im Interview mit Kim Todzi, URL: https://www.kolonialismus.uni-hamburg.de/2019/03/27/denkmalsturz-rolf-schuebel-im-interview/ (27.3.2019).

[15] Ebd.

[16] Peter Schütt an die Herausgeberin am 27.10.2019.

[17] Schütts Vater verkörperte in den Worten von Ursula Reinhold („Erlesene“ Zeitgenossenschaft. Begegnungen mit Autoren und Büchern, E-Buch Göttingen: HeRaS Verlag 2014, S. 120) den „autoritären Schulmeister“, der über den „ungeratenen Sohn“ den Kopf schüttelte, wogegen die Mutter ihm übers Haar strich. ‒ Albrecht Goeschel wendet sich in seinem Projektbeitrag Waren es wirklich die Väter?, URL: https://literaturkritik.de/public/artikel.php?art_id=1139&ausgabe=51 (11.7.2018) gegen das Erklärungsmuster, den 68ern sei es „wesentlich um die Autoritätskonflikte mit ihren Vätern gegangen“. Sein Augenmerk gilt den vielen vaterlosen Söhnen der Nachkriegsjahre und den klammernden Müttern. ‒ Interessanterweise kennt der Klappentext zur Protestfibel aus dem Jahr 1968 (wie Anm. 6) weder vaterlose Kinder noch Mütter: „Das Buch ist aber nicht zuletzt geeignet, in den Vätern Verständnis für ihre Söhne und Töchter, im Volk das Verstehen der Jugend zu wecken.“ ‒ Vom Fall Peter Schütt abweichende Forschungsergebnisse gibt der Arbeitssoziologie Rudi Schmidt zusammenfassend wieder: „Die Generationsthese wurde von manchen Wissenschaftlern aufgegriffen, ist aber nie durch biographisches Material hinreichend bestätigt worden, schon gar nicht in der Variante der NS-belasteten Eltern. Sie machte sich gut für dramatische Stories über die Geschichte der Bundesrepublik, aber die Realität war verwickelter. C. von Hodenberg liefert dazu Bestätigungen aus den Interviews mit Bonner Beteiligten von 1968. Danach seien die referierbaren Elternbeziehungen der jungen Leute um 1968 nicht auffällig konfliktbelastet gewesen: ‚Der Vater-Sohn-Konflikt und der biografisch begründete Antifaschismus scheiden mithin als Triebkräfte von Achtundsechzig weitgehend aus‘ (S. 76). Darin ist ihr zuzustimmen, aber wirklich neu ist das nicht.“ Rudi Schmidt: Der späte Nachhall von ’68 ‒ Alte Erkenntnisse in neuen Gewändern?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 70, 2018, S. 705‒725, hier S. 710.

[18] Peter Schütt an die Herausgeberin am 31.10.2019.

[19] Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.