Abgesang. Was ist geblieben?

Eine Anmerkung zum „Literaturstreit“

Von Ulrich DittmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Dittmann

Vor einem Jahr „tobte der Literaturstreit“ (Ulrich Greiner in der ZEIT, 27.7.91) um Christa Wolfs „Was bleibt“. Zwei Ereignisse vergegenwärtigen derzeit noch einmal die Kontroverse. Zum einen erschien bei Reclam/Stuttgart die literarische Jahresübersicht 1990, die ohne den sensationslüsternen, breitgetretenen Quark aus Publikumszeitschriften die Hauptzeugnisse zusammenstellt. Der Bodensatz der Anwürfe gegen die Autorin bleibt uns damit erspart; eine Reihe allgemeiner Aufsätze zur vereinten deutschen Literatur hebt das Niveau der Auseinandersetzung. Zum anderen zeigt die Sensation vom literarischen Markt 1991  –  Henscheids Attacke auf Heinrich Böll (einer der „verlogensten, ja korruptesten“ Schriftsteller, der zudem „steindumm, kenntnislos und talentfrei“ gewesen sei, so Eckhard Henscheid im Zürcher „Raben“)  –  wie die Wolf-Diskussion noch zu überbieten ist. Die Feuilletons des „Spiegel“ und anderer bringen das Reden von der „Korruptheit“ unter die Leute, Henscheid ist im Gespräch. Mit seinem zentralen Vorwurf knüpft er an den Begriff an, mit dem vor einem Jahr Lew Kopelew die Opportunismus-Anschuldigungen gegen Christa Wolf zurückwies; der konzedierte „tragische Schuld“ bei Dichtern, die sich von Ideologien verführen ließen, stellt diese aber in Gegensatz zu „Korrumpiertheit oder sklavischem Gehorsam“: ,,Die moralische Integrität von Christa und Gerhard Wolf ist unabstreitbar.“ Ihm wurde nicht widersprochen, aber Henscheid greift wie einen letzten verbleibenden Hammer diesen Begriff auf, um in Fortsetzung von Greiner, Schirrmacher & Co. auf einen weiteren Schriftsteller der sogenannten engagierten Literatur einzuschlagen. Die Geltung, die Böll und Wolf aus der Thematisierung der Geschichte bezogen, gibt das Podest ab für die Generation ihrer neuen Kritiker.

Wenn das „debunking“ bei uns nur ein Ritual wäre wie in England! Aber der deutschen Sprache fehlt selbst das Äquivalent für den Abbau eines Denkmals. „Der Sturz vom Sockel“ erhält hier immer etwas außerordentlich Grundsätzliches und Spektakuläres, er sichert Aufregung in allen Gazetten und Talk-Shows. Dementsprechend grundsätzlich fiel auch Günter Kunerts Aufsatz über den „Sturz vom Sockel“ (FAZ 3.9.90) aus: Er konstatierte das unmittelbare Erlöschen des „Bedarfs nach politischer Aktivität von Schriftstellern“ und räumte als ehemaliger DDR-Bürger besonders autoritär (und autoritativ verstanden) mit dem falschen Selbstbewußtsein engagierter Autoren auf. Sein „debunking“ fegte die Szene leer für die Religion von der „reinen Kunst“  –  vom Dichter, der das „Ohr des Volkes“ mißachtet und auf den es letztlich gar nicht ankommt. Um wieviel sympathischer registrierte dagegen Christoph Hein die gewandelten Zustände, als er erleichtert die Entlastung der DDR-Literatur von den früheren Aufgaben, die Tagespresse zu ersetzen, begrüßte!

Aber die Publizität der Attacken von Henscheid, Greiner und Schirrmacher verbraucht sich schnell. Verlängert man die Perspektive vom derzeitigen Fluchtpunkt der Diskussion über politische Aktivitäten von Schriftstellern zurück in die Anfänge unserer deutschen Gegenwart, so stößt man auf ein prominentes Vorbild für die literarischen Streitfälle der letzten fünfzehn Monate. In den Attacken gegen Christa Wolf berief man sich wiederholt so verdreht auf dieses Vorbild, daß auch bei den Argumenten der jungen Feuilletonisten ihr Verfallsdatum mitschwang. Mit dem Vorbild meine ich die Auseinandersetzung um Thomas Mann, die, von den „inneren Emigranten“ Thieß und von Molo begonnen und dem frühen Hans Egon Holthusen, dem Literaturpapst der beginnenden Adenauerzeit, fortgeführt, vier Jahre lang, zwischen 1945 und 1949, die literarische Öffentlichkeit in Deutschland bewegte. Schon die Tatsache, daß die 1963 gesammelte sogenannte „Große Kontroverse“ als Buch bald im Ramsch verschwand, zeigt die Vergänglichkeit der damaligen Staats-Literatur-Anwälte und ihrer Position.

Was passierte nach 1945? ,,Innere Emigranten“ hatten den großen Exilanten für ihre deutsche Literatur wiedergewinnen wollen. Als er seine Vorbehalte gegen das schnelle Überspringen der Nazizeit und die nahtlose Anknüpfung an die Zeit vor 1933 anmeldete, wurde er verdammt, ein weiteres Mal exiliert. Thomas Mann hatte vorbehaltvoll, aber pauschal auf die Vergeßlichkeit seiner Landsleute reagiert und fand die 1933 bis 1945 in dem „beängstigenden Land“ gedruckten Bücher „weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen“. Dafür wurde er samt seinem großen Faustus-Roman von einer ganzen Kritiker-­Fronde abgekanzelt.

Heute reagiert die Enkelgeneration dieser Fronde auf ein Buch der Wolf, meint aber damit nicht nur deren Gesamtwerk, sondern auch noch eine ganze Literaturrichtung. Man erteilt einer Autorin, deren Rang in der deutschen Literatur nur noch im Ausland erkannt wird (wie die französische und italienische Würdigung zeigen), einen Platzverweis.

Wie vielleicht deutlich wurde, legen die faktischen Parallelen zunächst den Vergleich nicht nahe, er ergibt sich erst aus der jeweiligen Begründung für die Selbstkorrektur der „inneren Emigranten“ beziehungsweise der heutigen Kritiker, die  v o r  der Vereinigung DDR-Autoren durchaus anerkannten. Das Selbstbewußtsein derer, die das Dritte Reich miterlitten hatten und dem Exilanten jedes Urteil verboten, entspricht dem derzeitigen und durch Historikerstreit und „Wieder-Vereinigung“ bestätigten: Erinnerungsarbeiter sind unerwünscht. Den oft zitierten Wolf-Gedanken aus ihrer Büchner-Preis-Rede von 1980, das deutsche Volk habe seine Einheit durch Auschwitz verspielt, subsumiert man ja auch allgemein unter das „Auschwitz-Syndrom“. Im gewandelten historischen Rahmen vollzieht sich also die gleiche Abfuhr für einen historisch engagierten Realismus. Am „Doktor Faustus“ vermißte Holthusen einst die Bindung an den „Begriff des Ewigen“; die „zeitgeistgebundene Perspektive“, vor allem die von Thomas Mann imaginierte Synthese von Griechenland und Moskau, von amerikanischer Freiheit und russischem Sozialismus, verwarf er unter Berufung auf Goethes politische Ansichten. Am Nichtbegreifen des ,,,corpus mysticum‘ des Volkes“ wies er die Grenzen des Schriftstellers nach! Gibt es also eine Linie von Holthusen zu Henscheid?

Heimo Schwilk rechnete im „Rheinischen Merkur“ (22. 6. 90) die „westlichen Modethemen wie Nachrüstung, Atomangst, Umweltzerstörung“ zu den Zeichen für Christa Wolfs „schriftstellerischen Sozialismus“ und des „real existierenden Opportunismus“. ,,Sozialismus, Solidarität und schöpferischer Widerspruch“ stellen für Schirrmacher (FAZ 2. 6. 90) nur Umschreibungen der „Unterwerfungs- und Gleichschaltungsprozesse“ dar. Die diffamierte „Gesinnungsästhetik“ schreibt er der „Herkunft aus dem protestantischen Gemeindehaus“ zu. Indem er aber dieses Haus  – einerseits Keimstätte des aufklärerischen Denkens seit jeher und andererseits des Widerstandes gegen die DDR-Oberen  –  diskriminiert, verrät er, daß es ihm nicht um einzelne Bücher oder Schriftsteller, sondern eben um jene Tradition geht, in der Künstler wie Thomas Mann auf die „Forderung des Tages“ antworteten.

Den jüngeren Kritikern fehlen die von Holthusen noch beschworenen „ewigen Werte“; sie  versuchen in ihrem Bestreben, möglichst umgehend die Rezeption zu beenden und das Publikum darüber zu belehren, daß Christa Wolf ebenso ,,virtuos wie verlogen“ (Greiner DIE ZEIT 1.6.90) ihre Bedrohtheit ausgewertet habe, ohne die sie sich der Reihe von Katja Behrens und Keto von Waberer zuordnen ließe. Die Leser sollten nach der Beseitigung der Anlässe sogleich auch von dem rein stofflichen Interesse ablassen. Es geht also um Marktanteile, Wolfs Herunterstufen in die Regionalliga. Obwohl Thomas Mann in der erwähnten Kontroverse bekannt hatte, ,,daß ihm oft genug anderes vordringlicher erschien als ‚Kunst’“, greifen die Kritiker auf seine Autorität zurück, wenn sie gegen Christa Wolf polemisieren. Nicht der philologischen Beckmesserei wegen, sondern als Beleg für die fragwürdige Argumentierweise seien die Anleihen angeführt: Karasek unterstellte im Grass-Gespräch des „Spiegel“ den Verteidigern der Wolf die Motive der „inneren Emigranten“, die das Miterleben zur Voraussetzung der Beurteilung erhoben; er übersah die den Wolf-Büchern immanente Kritik ebenso wie die Allgemeinheit ihrer auch für die Leser der BRD und des Auslands interessierende Thematik. Greifbarer noch zeigen die Initiatoren der Kampagne – Greiner und Schirrmacher – die Fehlanleihen  bei Thomas Mann. Der Mann der „ZEIT“ sprach in seinem Initial-Artikel von der „altbekannten machtgeschützten Innerlichkeit, die sich literarisch Fluchtburgen baut“, und der Mann der FAZ unterstellte der Wolf, sie habe in der DDR „eine besonders sensible Variante der machtgeschützten Innerlichkeit“ erblickt. Obwohl der Begriff sich zum Schlagwort verselbständigt hat, besitzt er noch die Autorität seines ursprünglichen Zusammenhangs: Thomas Mann prägte ihn im Wagner-Vortrag, der im Februar 1933 seine Ausbürgerung besiegelte. Damals ging es ihm um Wagners Flucht „von der Revolution zum Pessimismus und einer resignierten machtgeschützten Innerlichkeit“   –  ,,eine bürgerlich deutsche Selbsttäuschung“ des Komponisten, gegen die aber andere seiner Selbstzeugnisse für das Bewußtsein von der „Untrennbarkeit von Geist und Politik“ zeugen.

Mir ist kaum vorstellbar, daß Thomas Mann seinen Begriff gegen Christa Wolfs Subjektivitätsthematik heute richten könnte, wie das die junge Kritiker-­Fronde tut. Ist nicht gerade damit, daß in den Büchern Christa Wolfs der Faktor Subjektivität eine so große Rolle spielt, ein politisches Moment beschlossen? Ein Widerstand gegen die technokratische Parteidiktatur? Sie stellt keine Fluchtburg, sondern einen Vorposten dar, von dem aus jegliche Vereinnahmung des einzelnen früh und aufmerksam warnend angezeigt wird. Die Innerlichkeitsmotivik und romantische Anleihen sprechen für ein geschärftes Zeitbewußtsein bei Christa Wolf  –  eben jene „Untrennbarkeit von Geist und Politik“, auf die Thomas Mann hinwies.

Was also ist geblieben nach der großen Kontroverse des letzten Jahres? Zunächst einmal die Erzählung, die bei differenzierter Einordnung in die Reihe der Ich-Formen bei Christa Wolf ein anderes Bild entwirft als die platte autobiographische Lesart von Greiner & Co. Aus literarwissenschaftlicher Sicht hat der amerikanische Kollege Herbert Lehnert im dritten Heft der diesjährigen „Weimarer Beiträge“ ein adäquates Verständnis angebahnt.  –  Außerdem bleibt „die Einsicht in die unausrottbare Lust, hierzulande einen reinen, vom Tageskram unverstellten Blick via Kunst in die Mysterien“ zu tun; dafür werden präventiv diejenigen ausgegrenzt, die durch ihre unmittelbare Geschichtserfahrung in die edlen Gärten zwischen Syberberg und Handke Unruhe bringen könnten. Nachdem die Geschichte abgewickelt wurde, verteidigt die Postmoderne ihre Ungestörtheit; man stritt gegen Texte, die zusätzlich nach einer den Ereignissen angemessenen Sprache suchten und fanden. Darin zeigte sich, wer das „Unglücksverhältnis der deutschen Intellektuellen mit der Macht“ (Schirrmacher, FAZ) diesmal besetzte: nicht Christa Wolf, sondern die im Schlepptau des Historikerstreits gegen die Erinnerungsarbeiter argumentierenden Kritiker.

Aber es gibt auch hoffnungsvolle Andeutungen für eine neuerliche Selbstkorrektur: Ulrich Greiner erwähnte in seiner Glosse zur Heine-Preis-Verleihung an den Bundespräsidenten die DDR-Autorin. Sie scheint ihm nun offensichtlich die akzeptablere Preisträgerin zu sein! Bleibt doch was von der Diskussion? Oder beschämt die kulturelle Situation der alten Länder so sehr, daß die vor Jahresfrist abgewehrten Alternativen neuerdings erwägenswert erscheinen?

Hinweis des Herausgebers

Der Beitrag ist zuerst erschienen in: ndl. Monatsschrift für deutschsprachige Literatur und Kritik. (Berlin und Weimar) Jg. 39 Heft 12 (Dezember 1991) S. 159-163. Ich danke Ulrich Dittmann für das Angebot, ihn hier erneut zu veröffentlichen.

Aus Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Marburg 2019 (siehe Verlagsseite)