Eskalation des Streits

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Die Reaktionen auf Greiners und Schirrmachers Artikel vom 1. und 2. Juni 1990 ließen nicht lange auf sich warten. In den folgenden Wochen erschien eine bald kaum mehr überschau­bare Flut von Stellungnahmen. Auch die Zeitungen aus der Provinz und noch der Bayernkurier sahen sich dazu aufgefordert, den Fall Christa Wolf zu kommentieren. Ein Streit war initiiert, von dem sich in der BRD und der sich auflösenden DDR kaum ein Intellektueller unberührt zeigte.

Wolfram Schütte war einer der ersten, die öffentlich reagierten. Er schrieb am 8. Juni in der Frankfurter Rundschau von einem „Eil-Verfahren beim Umgang mit der DDR-Literatur“, das der „menschlichen, politischen und ästhetischen Komplexität“ des Phänomens nicht gerecht werde (siehe S. 112). Dem Artikel Schüttes folgte eine Vielzahl von Stimmen, die Christa Wolf gegen ihre Kritiker vehement verteidigten oder sich zumindest über die Art der Kritik empört zeigten. Gewichtigen Beistand erhielt sie von prominenten Opfern des stalinistischen Systems. Lew Kopelew, der 1945 in der Sowjetunion zu zehn Jahren Straflager verurteilt, 1956 rehabilitiert, 1968 aus Partei und Schriftstellerverband ausgeschlossen und 1981 ausgebürgert worden war, schrieb einen offenen Brief an die Zeit, die FAZ und die Welt, den die taz am 14. Juni veröffentlichte (siehe S. 117). Die Form eines offenen Briefes wählte später auch Walter Janka, der 1957 in einem Schauprozeß – bei dem sich die damalige Präsidentin des Schriftstellerverbandes Anna Seghers durch ihr Schweigen schuldig machte – zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, 1960 vorzeitig entlassen, doch erst nach dem Sturz Honeckers rehabilitiert worden war. Der Brief ist auf den 24. August 1990 datiert und erschien im Oktoberheft der Zeitschrift europäische ideen. Christa Wolf sei zu groß, als daß sie einer Verteidigung bedürfe, erklärt er hier.„Keiner von denen, die sie beschuldigen oder angreifen, kann ihr literarisch oder moralisch das Wasser reichen. Und warum verschweigen alle ihre ,Kritiker‘, daß Frau Wolf schon scharfe Kritik an dem mißbrauchten SED-Staat übte, als noch Herr Kohl dem Herrn Honecker einen aufwendigen Staatsempfang bereitet hat – und die SPD-Führung mit den miserabelsten SED-Politbüro-Mitgliedern über Verständigung und Zusammenarbeit in schöner Harmonie konferierte?“ Auch in der DDR diskutierten viele „Wendehälse“ darüber, ob ihre Erzählung zur „Unzeit“ gekommen sei. „Und in der vergangenen Nacht haben sie stehend dem Untergang der DDR in der,Volks‘-Kammer applaudiert. Ich kann mich diesem Applaus und Jubelgeschrei nicht anschließen. Eine reformierte DDR, frei von korrupten Bonzen, wäre als Alternative zur Bundesrepublik für unsere Menschen und für die Wahrung des Friedens in Europa besser gewesen als eine neue großdeutsche Republik.“

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Aus Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Marburg 2019 (siehe Verlagsseite)