Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl

Von Charles DarwinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charles Darwin

Drittes Capitel

Vergleichung der Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Thiere.

[…]
[102] Ich glaube, es ist nun gezeigt worden, dass der Mensch und die höheren Thiere, besonders die Primaten, einige wenige Instincte gemeinsam haben. Alle haben dieselben Sinneseindrücke und Empfindungen, ähnliche Leidenschaften, Affecte und Erregungen, selbst die complexeren, wie Eifersucht, Verdacht, Ehrgeiz, Dankbarkeit und Grossherzigkeit; sie üben Betrug und rächen sich; sie sind empfindlich für das Lächerliche und haben selbst einen Sinn für Humor. Sie fühlen Verwunderung und Neugierde, sie besitzen dieselben Kräfte der Nachahmung, Aufmerksamkeit, Ueberlegung, Wahl, Gedächtniss, Einbildung, Ideenassociation, Verstand, wenn auch in sehr verschiedenen Graden. Die Individuen einer und derselben Species zeigen gradweise Verschiedenheit im Intellect von absoluter Schwachsinnigkeit bis zu grosser Trefflichkeit. Sie sind auch dem Wahnsinn ausgesetzt, wenn schon sie weit weniger oft daran leiden als der Mensch[30]. Nichtsdestoweniger haben viele Schriftsteller behauptet, dass der Mensch durch seine geistigen Fähigkeiten von allen niederen Thieren durch eine unüberschreitbare Schranke getrennt sei. Ich habe mir früher eine Sammlung von über zwanzig solcher Aphorismen gemacht; sie sind aber beinahe werthlos, da ihre grosse Zahl und Verschiedenheit die Schwierigkeit, wenn nicht die Unmöglichkeit des Versuches darlegen. Es ist behauptet worden, dass nur der Mensch einer allmählichen Vervollkommnung fähig sei, dass er allein Werkzeuge und Feuer gebrauche, andere Thiere sich angewöhne, Eigenthum besitze, dass kein anderes Thier das Vermögen der Abstraction habe oder allgemeine Ideen besitze, Selbstbewusstsein habe und sich selbst verstehe, dass kein Thier eine Sprache gebrauche, dass nur der Mensch ein Gefühl für Schönheit habe, Launen ausgesetzt sei, das Gefühl der Dankbarkeit, des Geheimnissvollen u. s. w. besitze, dass er an Gott glaube oder mit einem Gewissen ausgerüstet sei. Ich [103] will über die wichtigeren und interessanteren der angegebenen Punkte ein paar Bemerkungen zu geben versuchen.
[…]
Schönheitssinn. – Dieser Sinn ist für einen dem Menschen eigenthümlichen erklärt worden. Ich beziehe mich hier nur auf das [119] Vergnügen, welches gewisse Farben, Formen und Laute veranlassen und welches ganz gut ein Sinn für das Schöne genannt werden kann; bei cultivirten Menschen sind indessen derartige Empfindungen innig mit complicirten Ideen und Gedankenzügen associirt. Wenn wir aber sehen, wie männliche Vögel mit Vorbedacht ihr Gefieder und dessen prächtige Farben vor den Weibchen entfalten, während andere nicht in derselben Weise geschmückte Vögel keine solche Vorstellung geben, so lässt sich unmöglich zweifeln, dass die Weibchen die Schönheit ihrer männlichen Genossen bewundern. Da sich Frauen überall mit solchen Federn schmücken, so lässt sich die Schönheit solcher Ornamente nicht bestreiten. Wie wir später sehen werden, sind die Nester der Colibris und die Spielplätze der Kragenvögel (Chlamydera) geschmackvoll mit lebhaft gefärbten Gegenständen ausgeschmückt; und dies zeigt, dass sie ein gewisses Vergnügen beim Anblick derartiger Dinge empfinden müssen. Bei der grossen Majorität der Thiere ist indessen, soweit wir es beurtheilen können, der Geschmack für das Schöne auf die Reize des andern Geschlechts beschränkt. Die reizenden Klänge, welche viele männliche Vögel während der Zeit der Liebe von sich geben, werden gewiss von den Weibchen bewundert, für welche Thatsache später noch Beweise werden beigebracht werden. Wären weibliche Vögel nicht im Stande, die schönen Farben, den Schmuck, die Stimmen ihrer männlichen Genossen zu würdigen, so würde alle die Mühe und Sorgfalt, welche diese darauf verwenden, ihre Reize vor den Weibchen zu entfalten, weggeworfen sein, und dies lässt sich unmöglich annehmen. Warum gewisse glänzende Farben Vergnügen erregen, lässt sich, wie ich vermuthe, ebensowenig erklären, als warum gewisse Gerüche und Geschmäcke angenehm sind; Gewohnheit hat aber jedenfalls etwas damit zu thun; denn was unsern Sinnen zuerst unangenehm ist, wird zuletzt angenehm, und Gewohnheiten werden vererbt. In Bezug auf Laute hat Helmholtz, zu einem gewissen Theile aus physiologischen Gründen, erklärt, warum Harmonien und gewisse Arten des Tonfalles angenehm sind. Ferner sind Laute, welche häufig in unregelmässigen Zwischenräumen wiederkehren, äusserst unangenehm, wie Jeder zugeben wird, der Nachts dem unregelmässigen Klappen eines Taues auf einem Schiffe zugehört hat. Dasselbe Princip scheint auch in Bezug auf das Gesicht zu gelten, da das Auge Symmetrie oder Figuren mit einer regelmässigen Wiederkehr vorzieht. Muster dieser Art werden selbst von den niedrigsten Wilden als Zierrathen verwendet; [120] auch sind sie durch geschlechtliche Zuchtwahl zur Verschönerung einiger männlichen Thiere entwickelt worden. Mögen wir nun für das durch das Gesicht oder Gehör erlangte Vergnügen in diesen Fällen einen Grund angeben oder nicht, der Mensch und viele der niedern Thiere sind in gleicher Weise über die nämlichen Farben, das graziöse Schattiren und derlei Formen und über die nämlichen Laute ergötzt.

Der Geschmack für das Schöne, wenigstens was die weibliche Schönheit betrifft, ist nicht in einer specifischen Form dem menschlichen Geiste eingeprägt; denn in den verschiedenen Menschenrassen weicht er vielfach ab, und ist selbst bei den verschiedenen Nationen einer und derselben Rasse nicht derselbe. Nach den widerlichen Ornamenten und der gleichmässig widerlichen Musik zu urtheilen, welche die meisten Wilden bewundern, liesse sich behaupten, dass ihr ästhetisches Vermögen nicht so hoch entwickelt sei als bei gewissen Thieren, z. B. bei Vögeln. Offenbar wird kein Thier fähig sein, solche Scenen zu bewundern, wie den Himmel zur Nachtzeit, eine schöne Landschaft, oder verfeinerte Musik; aber an solchen hohen Geschmacksobjecten, welche ihrer Natur nach von der Cultur und von complexen Associationen abhängen, erfreuen sich Barbaren und unerzogene Personen gleichfalls nicht.

Viele Fähigkeiten, welche dem Menschen zu seinem allmählichen Fortschritte von unschätzbarem Dienste gewesen sind, wie das Vermögen der Einbildung, der Verwunderung, der Neugierde, ein unbestimmtes Gefühl für Schönheit, eine Neigung zum Nachahmen und die Vorliebe für Aufregung oder Neuheit, mussten natürlich zu den wunderlichsten Aenderungen der Gewohnheiten und Moden führen. Ich führe diesen Punkt deshalb an, weil ein neuerer Schriftsteller[73] wunderbar genug die Laune „als eine der merkwürdigsten und typischsten Verschiedenheiten zwischen Wilden und den Thieren“ bezeichnet hat. Wir können aber nicht blos wahrnehmen, woher es kommt, dass der Mensch launisch ist, sondern wir sehen auch, dass die niederen Thiere, wie sich später noch zeigen wird, in ihren Zuneigungen, Widerwillen und ihrem Gefühl für Schönheit ebenfalls launisch sind. Wir haben auch Grund zu vermuthen, dass sie Neuheit ihrer selbst wegen lieben. […]

Viertes Capitel

Vergleichung der Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Thiere (Fortsetzung).

[…]
Es dürfte zweckmässig sein, zunächst voranzuschicken, dass ich nicht behaupten will, dass jedes streng sociale Thier, wenn nur seine intellectuellen Fähigkeiten zu gleicher Thätigkeit und gleicher Höhe wie beim Menschen entwickelt wären, genau dasselbe moralische Gefühl wie der Mensch erhalten würde. In derselben Weise wie verschiedene Thiere ein gewisses Gefühl von Schönheit haben, trotzdem sie sehr verschiedene Gegenstände bewundern, können sie auch ein Gefühl von Recht und Unrecht haben, trotzdem sie durch dasselbe zu sehr verschiedenen Handlungsweisen veranlasst werden. Um einen extremen Fall anzuführen: wäre z. B. der Mensch unter genau denselben Zuständen erzogen wie die Stockbiene, so dürfte sich kaum zweifeln lassen, dass unsere unverheiratheten Weibchen es ebenso wie die Arbeiterbienen für eine heilige Pflicht halten würden, ihre Brüder zu tödten, und die Mütter würden suchen, ihre fruchtbaren Töchter zu vertilgen, und Niemand würde daran denken, dies zu verhindern.[6] Nichtsdestoweniger würde in unserem angenommenen Falle die Biene oder irgend ein anderes sociales Thier, wie es mir scheint, doch irgend ein Gefühl von Recht und Unrecht oder ein Gewissen erhalten. Denn jedes Individuum würde ein innerliches Gefühl von dem Besitze gewisser weniger starker und andauernder Instincte haben, so dass oft ein Kampf entstehen [129] würde, welchem Impuls zu folgen wäre; es würde daher Befriedigung und Unbefriedigtsein gefühlt werden, da vergangene Eindrücke während ihres beständigen Zuges durch die Seele mit einander verglichen werden würden. In diesem Falle würde ein innerer Warner dem Thiere sagen, dass es besser gewesen wäre, eher dem einen Impuls als dem anderen zu folgen. Dem einen Zug hätte gefolgt werden „sollen“, der eine würde „recht“ der andere „unrecht“ gewesen sein. Aber auf diese Ausdrücke werde ich sogleich zurückzukommen haben.

[…]
Zusammenfassung der letzten beiden Capitel. — Es lässt sich nicht zweifeln, dass die Verschiedenheit zwischen der Seele des niedrigsten Menschen und der des höchsten Thieres ungeheuer ist. Wenn ein anthropomorpher Affe leidenschaftslos seinen eigenen Zustand beurtheilen könnte, so würde er zugeben, dass, obgleich er einen kunstvollen Plan sich ausdenken konnte, einen Garten zu plündern, obgleich er Steine zum Kämpfen oder zum Aufbrechen von Nüssen benutzen könnte, doch der Gedanke, einen Stein zu einem Werkzeug umzuformen, völlig über seinen Horizont gienge. Er würde ferner zugeben, dass er noch weniger im Stande wäre, einem Gedankengange metaphysischer Betrachtungen zu folgen oder ein mathematisches Problem zu lösen, oder über Gott zu reflectiren, oder eine grosse Naturscene zu bewundern. Einige Affen würden indess wahrscheinlich erklären, dass sie die Schönheit der farbigen Haut und des Haarkleides ihrer Ehegenossen bewundern könnten und wirklich bewundern; sie würden zugeben, [163] dass ihnen, obschon sie den andern Affen durch Ausrufe einige ihrer Wahrnehmungen und einfacheren Bedürfnisse verständlich machen könnten, doch die Idee, bestimmte Gedanken durch bestimmte Laute auszudrücken, niemals in den Sinn gekommen sei. Sie können behaupten, dass sie bereit wären, ihren Genossen in derselben Heerde auf viele Weisen zu helfen, ihr Leben für sie zu wagen und für ihre Waisen zu sorgen; sie würden aber genöthigt sein, anzuerkennen, dass eine interesselose Liebe für alle lebenden Geschöpfe, dieses edelste Attribut des Menschen, völlig über ihre Fassungskraft hinausgienge. […]

Fünftes Capitel

Ueber die Entwickelung der intellectuellen und moralischen Fähigkeiten während der Urzeit und der civilisirten Zeiten.

[…]
Primogenituren mit Familienfideicommissen ist ein directeres Uebel, trotzdem es früher wegen der durch sie ermöglichten Bildung einer vorherrschenden Classe von grossem Vortheil gewesen sein mag; denn irgend eine Regierung ist besser als Anarchie. Die meisten ältesten Söhne, mögen sie auch an Körper oder Geist schwach sein, heirathen, während die jüngeren Söhne, so überlegen sie auch in den ebengenannten Beziehungen sein mögen, nicht so allgemein heirathen. Auch können unwürdige älteste Söhne mit Familiengütern ihren Reichthum nicht verschwenden. Aber hier sind, wie in andern Punkten, die Beziehungen des civilisirten Lebens so complicirt, dass noch andere compensatorische Hemmnisse eingreifen. Die Männer, welche durch Primogenitur reich sind, sind im Stande, Generation nach Generation sich die schöneren und reizvolleren Frauen zu wählen, und diese müssen allgemein an Körper gesund und an Geist lebendig sein. Den schlimmen Folgen einer beständigen Reinhaltung derselben Descendenzreihe ohne irgendwelche Wahl, welches dieselben auch sein mögen, wird stets von Männern von Rang vorgebeugt, welche ihre Macht und ihren Reichthum zu vergrössern wünschen; und dies bewirken sie dadurch, dass sie Erbinnen heirathen. Aber die Töchter von Eltern, welche nur einzige Kinder erzeugt haben, sind für sich schon, wie Mr. Galton[12] gezeigt hat, leicht steril. Daher werden beständig Adelsfamilien in der direkten Linie aussterben, so dass ihr Reichthum in irgend eine Seitenlinie überfliesst; unglücklicherweise wird aber diese Linie nicht durch Superiorität irgend welcher Art bestimmt. […]

 

[30] s. Madness in Animals, by Dr. W. Lauder Lindsay, in: Journal of Mental Science. July, 1871.

[73] „The Spectator“, Dec. 4th 1869, p. 1430.

[6] H. Sidgwick bemerkt in einer trefflichen Erörterung dieses Gegenstands (The Academy, 15. June, 1872, p. 231): „eine höher entwickelte Biene würde, wie wir überzeugt sein können, eine mildere Lösung der Bevölkerungsfrage anstreben“. Nach den Gewohnheiten vieler oder der meisten Wilden zu urtheilen, löst indessen der Mensch das Problem durch weiblichen Kindermord, Polyandrie und völlig freies Vermischen; es liesse sich daher wohl zweifeln, ob es eine mildere Methode sei. Miss Cobbe, welche über dasselbe Beispiel Erörterungen anstellt (Darwinism in Morals, in: Theological Review. Apr., 1872, p. 188—191) sagt, die Grundsätze der socialen Pflicht würden dadurch umgekehrt werden. Damit meint sie, wie ich vermuthe, dass die Erfüllung einer socialen Pflicht die Individuen zu schädigen streben würde; sie übersieht aber die Thatsache, welche sie ohne Zweifel zugeben wird, dass die Instincte der Biene zum Besten der Gemeinschaft erlangt worden sind. Sie geht so weit, dass sie sagt, wenn die in diesem Capitel vertheidigte Theorie der Moral jemals allgemein angenommen würde, „könne sie nicht umhin zu glauben, dass in der Stunde ihres Triumphs die Tugend der Menschheit zu Grabe geläutet wird!“ Es steht zu hoffen, dass der Glaube an die Dauer der Tugend auf dieser Erde nicht bei vielen Menschen an einem so schwachen Faden hängt.

[12] Hereditary Genius, 1870, p. 132-140.

 

Editorische Notiz

Publikationsvorlage: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Charles Darwin. Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. In zwei Bänden. I. Band. Mit sechsundzwanzig Holzschnitten. Dritte gänzlich umgearbeitete Auflage. E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch). Stuttgart, 1875. Die Nummerierung der Fußnoten wurde aus der Publikationsvorlage übernommen. Die Seitenzahlen in eckigen Klammern weisen auf die Paginierung der Druckvorlage hin. Es handelt sich hier um Textausschnitte, ausgelassene Textpassagen sind durch Klammern angezeigt. Hervorhebungen im Originaltext wurden kursiviert.

Digitale Textfassung übernommen von: http://de.wikisource.org/wiki/Die_Abstammung_des_Menschen_und_die_geschlechtliche_Zuchtwahl_I (12.07.2011)

Kommentar

Darwins (1809-1882) erste Ausgabe dieses Werks (1871) wurde in zwei Auflagen (1:1871, 2:1872) ins Deutsche übersetzt. 1874 folgte eine von Darwin stark überarbeitete 2. englische Ausgabe in zwei Bänden, welche bis heute am weitesten verbreitet ist. Auf dem ersten Band dieser Ausgabe basiert die hier digitalisierte dritte deutsche Auflage.Charles Darwin gilt als der Begründer der evolutionstheoretischen Schönheitstheorie. Nach der Veröffentlichung seines Werkes „On the origin of species by means of natural selection“ in 1859 wurde seine Idee, dass sämtliche von Tieren entwickelte Ornamentik auf das Prinzip des „Überleben des Stärksten“ zurückzuführen sei, heiß diskutiert. Auch Darwin selbst sah Unstimmigkeiten in seiner Theorie, was ihn dazu brachte nach der Ursache von Ornamentik in sexueller – ästhetischer – Selektion zu forschen. Hiermit befasst sich „The descent of man and selection in relation to sex“.

Literaturhinweise

Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt am Main, 2003.

Reichholf, Josef H.: Der Ursprung der Schönheit. Darwins größtes Dilemma. Mit 23 Abbildungen, davon 22 in Farbe. München, 2011.

 

Bearbeitet von: Natalie-Maria Albu