Zur Zukunft der Germanistik

Eine Tagungseröffnung

Von Marilisa ReisertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marilisa Reisert und Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Wie oft höre ich doch die Leute rufen: Lassen Sie mich durch ich bin Germanist! Da braucht jemand unbedingt jemanden, der ihm den Unterschied vom Gedankenstrich zum Bindestrich erklärt. Nein, braucht er nicht! Ich kann ihn euch erklären: Es ist die Leerstelle. Einzig die Leerstelle. Die gleiche Leerstelle, die da steht, wo bei anderen Leuten die Perspektiven sind. Germanistikstudium, du intellektueller Fahrradführerschein, danke für Garnichts …[1]

So rechnet Julian Heun mit seinem Studienfach, der Germanistik, in einem Poetry-Slam Auftritt ab. Er formuliert harte Vorwürfe, denen auch wir – als Studierende dieses Faches – immer wieder ausgesetzt sind.

Warum studiert man im Jahr 2019, in dem Literatur kein Leitmedium mehr zu sein scheint, noch dieses Fach? Noch dazu eine Nationalphilologie? Warum soll ich mich mit Walter von der Vogelweide, Johann Wolfgang von Goethe und Ferdinand de Saussure beschäftigen? Was macht die Germanistik heute überhaupt noch wichtig und für uns Studierende attraktiv? Welche Rolle kann und will ich als GermanistIn in der Gesellschaft tragen?

Es scheint ebenso notwendig, dass sich das Fach angesichts der sich wandelnden Gesellschaft überdenkt und neu aufstellt. Die Germanistik scheint sich fragen zu müssen:

Wer bin ich und wenn ja wie viele? Eins, Zwei, Drei oder noch mehr?

Was verbindet die drei Fachbereiche Mediävistik, Neuere deutsche Literatur und Linguistik (noch) miteinander? Wo schneiden sich die drei Bereiche, deren Forschungsinteressen von Mouvance und Variance im Minnesang über Verginia-Variationen bei Lessing, Schiller und Kleist bis hin zu Partikelverben und sekundären Prädikativen im Zimbrischen reichen?

Diese Fragen wollen wir im Rahmen dieser Tagung stellen und hoffentlich auch beantworten.

Dass es sinnvoll und dringend notwendig ist, nach der Rolle und der Zukunft der Germanistik in einer sich rapide verändernden Gesellschaft zu fragen, kann „als das schlimmste Krisensymptom gelten. Und die Frage liegt nahe, warum“ man überhaupt nach der Zukunft der Germanistik fragen muss. „Scheint es nicht so, dass das Spiel schon verloren ist, wenn“ [2] man so fragt, wenn man sich Optimierungsschritte wie bei einem Unternehmen überlegt, eine Inventur, eine Bestandsaufnahme? Unsere These lautet, dass es eine große Chance ist, sich zumindest fragend auf den Weg zu machen. Starten wir also!

Die größte Freude an diesem Projekt, war die Zusammenarbeit mit den Studierenden der Fachschaft. Natürlich war auf irgendeine Weise zu erwarten, auf interessante und motivierte Studierende zu treffen, aber wer hätte gedacht, dass das Team so emsig und begeistert die Idee einer gemeinsamen Tagung zur Zukunft des Fachs aufnimmt. Vor allem: Da nichts so wichtig ist, wie die Frage nach der Zukunft der Germanistik, gestellt von Seiten der Studierenden, ist Optimismus immer noch angebracht. Unsere weiteren Fragen werden sein: Was läuft gut in der Hochschulgermanistik, was ist ganz daneben? Wie sollen ‚wir‘ uns positionieren, wie weitermachen, was beibehalten, was verwerfen? An welche altbewährten Traditionen soll angeschlossen, welche alten Zöpfe hingegen sollen abgeschnitten werden? Wir wollen nichts vorher Festgelegtes erzielen mit dieser Tagung, und wir erwarten auch nichts. Der einzige Grund ist vielleicht die Sondierung eines Feldes, das Angebot eines Gesprächs, der Beginn eines – wie es heute so schön heißt – Diskurses.

Ein Artikel von Martin Doerry über die Germanistik, der 2017 im Spiegel erschien, zitierte im Titel der Online-Fassung Bruchstücke eines Dialogs zwischen Studienanfängern an der Universität Düsseldorf: Wer war Goethe? Keine Ahnung, irgendso’n Toter. Für Doerry war der Dialog „ein Beleg für die erheblichen Wissenslücken, mit denen Studienanfänger mitunter ihr Germanistikstudium beginnen.“ Und er fragte, warum GermanistInnen keine gesellschaftlich relevante Rolle bei Debatten spielen und warum die Orientierungslosigkeit der Studierenden so groß ist, das Niveau der Lehrveranstaltungen so im Sturzflug und die Fähigkeit, sich konzentriert in Texte zu versenken, so desolat. Oder hatte er gar nicht diese Fragen gestellt, sondern nur so ähnliche, und sind dies die Fragen, auf die man adhoc kommt, wenn man über den Status quo der Germanistik an deutschen Hochschulen nachdenkt? Groß war die Aufregung nach dem Artikel im Spiegel und kurz die Debatte, hat der eine oder die andere doch zu schnell die ‚Vorwürfe‘ zurückgewiesen. Nein, nein, wir wissen doch alle, dass sich die Germanistik in bester Verfassung befindet. Aber: Vielleicht haben wir es selbst schon als Studierende erlebt, vielleicht erleben es die Dozenten, vielleicht können die Studierenden es hautnah bestätigen: Manchmal geht der Germanistik tatsächlich die Puste aus; zumindest fällt in manchen Augenblicken das Atmen schwer.

Ziel ist natürlich erst einmal eine Besichtigung einer Architektur, keine Prognose. Welche Räume haben sich in eine Ruine verwandelt, in welchen blüht das Leben, wo gehört was entstaubt, welches Zimmer haben wir schon lange nicht mehr betreten. Es ist – wie zu Beginn erwähnt – eine Bestandsaufnahme, und vielleicht ist diese immer auch verknüpft mit einem visionären Moment; denn schließlich haben wir alle einmal zu lesen begonnen, uns alle einmal entschlossen, Germanistik zu studieren und in ihr aufzugehen und für sie zu brennen.

Es ist ein Versuch, ausgehend von der LMU München etwas aufzubauen, vielleicht einen regelmäßigen Diskussionskreis, einmal im Semester eine Präsentation aus einem Fachteil, den vereinenden Glaube, dass es sich lohnt, literaturwissenschaftlich zu arbeiten und das Studierenden- oder Veranstaltungs-Bashing hintenan zu stellen.

Und wenn Sie sich schließlich von der Zukunft der Germanistik überzeugen wollen: Hier ist sie. Doch die Zukunft sind nicht einzelne Leute, nicht wir, nicht ein Projekt. Wenn Sie ein neues Atemholen erleben wollen, den frischen Geist der Germanistik, ein Fach voller Vitalität und Perspektive für eine sowieso unsicher gewordene Zukunft: Dann machen Sie mit und seien Sie ein Teil davon!

Anmerkungen

[1] Julian Heun: „Germanistik, du elender Hurenschmock, danke für gar nichts“ auf: https://www.youtube.com/watch?v=ZhWCVm7Lvto, (Min. 3:34)

[2] Oliver Jahraus: Sinn und Eigenrecht der Geisteswissenschaften, in: Jörg-Dieter Gauger, Günther Rüther (Hgg.): Warum die Geisteswissenschaften Zukunft haben! Ein Beitrag zum Wissenschaftsjahr 2007. Herausgegeben im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 2007, S. 242-253, hier: S. 242.