Politisch ist auch das Private!

Subjektiver Rückblick auf ’68. Ein Brief in sechs Teilen

Von Hartmut RosshoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hartmut Rosshoff

Inhalt

I. Marburg in den 70er-Jahren
II. 68 ohne Folgen?
III. Die 60er-Jahre und Berlin
IV. Germanistik plus
V. Marburg nach 68
VI. Plus Feminismus

Zürich, 6. April 2018

Liebe Frau Koloch

Danke für Ihren Brief vom Ostersonntag und Ihre Anfrage nach einem Bericht über die 68er-Germanistik. In Ihrer Frage sind für mich, meines Ermessens, gleich zwei Themen enthalten, nämlich erstens mein eigenes germanistisches Unterrichten und (quantitativ geringes) Schreiben, d. h. meine Dozentur in Marburg. Und vorher das schmale Quantum meiner Beteiligung an den Berliner Studentenprotesten, mehr als Beobachter denn als Akteur.

I.  Marburg in den 70er-Jahren

Ich war mit dem Studium 1968 schon weitgehend fertig, thematische Lese- und Denkverbote hatte ich schon vorher abgelehnt, und vor allem war ich Student und Doktorand nicht nur der Germanistik, sondern auch der Philosophie (worin ich meine Dissertation über den Neukantianer Emil Lask schrieb) und der Kunstwissenschaft. So interessierte ich mich z. B. für Carl Einstein, für dessen Themen und für seine Schreibweise (Kubismus, Expressionismus, Kunstkritik). Und mehr für Günter Kunert und Peter Handke als für Günter Grass, welch letzterer in Berlin ja auch zuweilen leibhaftig anzutreffen war.

Dass ich an der Universität Marburg eine Assistentenstelle angeboten bekam am damals nach Auflösung der Phil. Fak. neu zusammengestellten Fachbereich 9 „Neuere deutsche Literatur und Kunstwissenschaften“ (Plural, auch Musikwissenschaft war dabei), die wenig später in eine Dozentur und schließlich in eine Professur aufgewertet wurde, leider nur auf Zeit, lag vielleicht daran, dass ich gerade zu jener Zeit Mitarbeiter der linken Zeitschrift alternative war. Die Marburger Universität hat, wie jede andere auch, eine besondere Tradition und Geschichte. Schließlich lehrten hier einmal die Neukantianer, unter anderem Hermann Cohen und Julius Ebbinghaus. Sogar Hannah Arendt hat kurz in Marburg studiert und bei Heidegger gehört, der ebenfalls kurze Zeit an der ältesten noch bestehenden protestantischen Universität lehrte.

Zusammen mit ähnlich denkenden Kollegen haben wir versucht, der „bürgerlichen Germanistik“ etwas entgegenzusetzen, wobei wir die Germanistik als solche nicht verdammten, sondern wir suchten lediglich einen mehr „materialistischen“ oder mehr „marxistischen“ Ansatz, oder, noch genauer, einen Perspektivwechsel, wie er dem späten Walter Benjamin vorschwebte, d. h. Geschichte erzählt von unten. Außerdem wollten wir Autoren behandeln, die bisher von der Germanistik missachtet wurden, so etwa Hans Fallada (Hanno Möbius) oder Brecht mit seinen (schwierigen, eigentlich unmöglichen und gescheiterten und von ihm selbst aufgegebenen) Lehrstücken oder Exilschriftsteller oder sogar die ganz großen Klassiker neu interpretiert. (Heinz Schlaffer: Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, zuerst als Vorlesung gehalten; der Verfasser bezieht sich auf Walter Benjamins Arbeit über das Barockdrama als Allegorie und auf Marx’ Theorie vom Geld und Kapital.) Im Grunde erzählt aber die Literatur bereits oft, außer im Barockdrama bis hin zu Schiller, die Geschichte von unten, das Leben aus der individuellen Perspektive, ästhetisch als Besonderheit dargeboten. So gab es in Marburg den Büchner-Forscher Thomas Michael Mayer, der, orientiert an der Hölderlin-Ausgabe von D. E. Sattler im Verlag Stroemfeld/RoterStern, die Marburger Büchner-Ausgabe, hrsg. zus. mit Burkhard Dedner, auf den Weg brachte.

Ich selbst habe mich immer auch für die Literatur der damals unmittelbaren oder kürzlich vergangenen Gegenwart (besser: des 20. Jahrhunderts) interessiert und diese auch in Seminaren angeboten, so gemeinsam mit Hanno Möbius, Guntram Vogt und Alfons Glück die Dada-Bewegung in ihren mehreren Schüben und Orten, etwa als Revolte. Oder ich habe solch ein Seminar angeboten wie das über Hexen, geplant zusammen mit Marie Luise Gansberg, oder als Dozent allein eines über „Rahel Varnhagen und die Berliner Salons“. Oder gar zu Ror Wolf (Fortsetzung des Berichts) und Peter Weiss (Gespräch der drei Gehenden). Oder zusammen mit dem Kunsthistoriker Martin Warnke ein Kolloquium über Aby Warburg und die Warburg-Schule, gestützt auf einen Kraus-Reprint, welches entfernt auch etwas mit Walter Benjamin zu tun haben konnte, zwar nicht von den Forschungsgegenständen her, aber vielleicht methodisch. Auf jeden Fall aber mit der genauso wie die Literatur ins Exil vertriebenen deutschen Wissenschaft und mit ihr der Kunstwissenschaft.

Man darf die Germanistik nicht mit Soziologie verwechseln und schon gar nicht mit Politologie. Dies taten aber viele Studenten, die in Marburg, ganz anders als in Berlin, als zweites Hauptfach Politologie (oder Geschichte, Staatskunde, Soziologie) bei Wolfgang Abendroth und seinen Assistenten studierten, und die, im MSB Spartakus organisiert oder ihm nahe stehend, die Berliner (also auch mich) als Chaoten oder im schlimmsten Fall sogar als Maoisten verunglimpften. Ich erlebte am ersten Tag meines dortigen Eintreffens eine hochgradig proselytische Diskussion, in der behauptet wurde, in der DDR habe es nie einen Stalinismus gegeben. Und das Herder-Institut (ein Ostmitteleuropa-Institut) sei ein Spionagezentrum und werde vom BND finanziert. Und der Prager Aufstand von 1968 sei ein verdammenswerter Umsturzversuch gewesen, gegen d e n  Sozialismus.

Auch in meinen folgenden Veranstaltungen stellte ich mehrfach einen ermüdenden roten Konservatismus fest, verbunden mit Wunschdenken, und ein eigentliches Desinteresse an der Individualität und Besonderheit von Belletristik, also der „schönen – und auch nicht mehr schönen – Literatur“, indem man die Werke unterschiedlicher Autoren und selbst Brechts in „fortschrittliche“ und „noch nicht recht klassenbewusste“ einteilte, mit entsprechenden Wünschen und Zumutungen an uns junge Dozenten. Z. B. verabsolutierte man die Monografie von Ernst Schumacher (DDR) über Brecht (Theater und Gesellschaft im 20. Jahrhundert), worin dieser – das nach Reich-Ranicki „Beste“ am großen Autor Brecht: die frühen Gedichte – den jungen Brecht als (ich zitiere dem Sinn nach) „noch nicht klassenbewusst und lediglich anarchistisch verworren“ ablehnte. Auch sprach man mit einer gewissen raunenden Ehrfurcht vom damaligen Leipziger Germanisten Claus Träger. Nichts dagegen, aber mich langweilte dies.

Außerdem kam ich aus West-Berlin. Dort hatte man die pathetischen Phrasen und Geschichtsverbiegungen einschließlich der Schmähungen und Drohungen des DDR-Regimes, dem ja sogar Rudi Dutschke entflohen war, immer in den Ohren, und man kannte sie als Propaganda und war immun dagegen. Als Folge dessen machte ich Seminare über „Georg Lukács“ (Theorie des Romans), „André Jolles“ (Einfache Formen), „Ernst Bloch“, „Goethes späte Gedichte“, „Rahel Varnhagen und die Berliner Salons“ und über „Hexenwahn und seine Kritiker“.

Ich muss zugeben, dass die Germanistik sicher kein sehr leichtes Studium ist, von den Inhalten her, von den Methoden und auch von der Abfassung von Examensarbeiten her. Aber die meisten Studenten wollten ja Gymnasiallehrer werden, sprich Beamte, mit Lebenszeit-Stellung, jedenfalls damals an den Universitäten in Hessen. Was sollte da deren braver „Marxismus“ ‒ oder was sie dafür hielten ‒ mit im Übrigen wenig Text-Kenntnis. Man betrachtete mich ziemlich bald als einen „Strukturalisten“ und linken Spinner (oder Linksliberalen), weil ich einmal oder mehrfach Derrida oder BHL zitierte oder André Glucksmann (ich hatte mein letztes Semester vor dem Rigorosum in einem Seminar von Roland Barthes verbracht) – die ja alle ebenfalls keine Germanisten waren und sicherlich auch nie gymnasialer Unterrichtsstoff sein würden. In dem Punkt hatten die Studenten recht.

Ich sagte ihnen jedoch, dass der einzige Ort, an dem sie je etwas Neues lernen könnten, etwas Zusätzliches, dieser Ort der Universität sei. Und dass sie deswegen neugierig bleiben sollten. Die Angst der Lehramt-Studenten um Examen und möglichst baldige fixe Anstellung kontrastierte mit ihrem – und auch meinem – Glauben an einen stetigen leichten gesellschaftlichen, kulturellen und emanzipativen Fortschritt. Diese Kombination von persönlicher Ängstlichkeit und generellem Optimismus war wohl ein Irrtum, aber nicht ganz. Einen solchen Optimismus, dass Diktatur und Krieg verschwinden könnten, trieb auch Rudi Dutschke an, und mit ihm viele andere.

II.  68 ohne Folgen?

Die 68er Bewegung brachte m. E. sehr viel mehr hervor als Demonstrationen gegen den Schah und den Vietnamkrieg. Seither hat sich zwar eine „marxistische“ Germanistik ziemlich erledigt (in inhaltlich-methodischen Fragestellungen nicht ganz, wie die frappierenden Arbeiten von Barbara Hahn und Sigrid Damm zeigen). Aber umso mehr wurden und werden immer weiter Arbeiten zur Erforschung der Verbrechen der zwei Weltkriege, den Holocaust eingeschlossen, getrieben, schon längst nicht mehr von 68ern und oft nicht einmal Deutschen, wohl aber war der Verdacht meiner Generation, ganz generell, was da noch alles verborgen sei an Ungeheuerlichkeiten, sehr wohl begründet. Ebenso unglaublich wie die Tabus, die Sprüche des Niedermachens und der Ausgrenzung.

Weder die Berufsverbote ab Anfang der 70er-Jahre noch die bleiernen Jahre Helmut Kohls konnten die ernsthafte Aufbauarbeit und Rückbesinnung der Bundesrepublik ersticken. Die Forschung begann ja parallel mit der 68er-Bewegung; und unabhängig davon. Mit solchen Gestalten wie Raul Hilberg und Saul Friedländer. Man kann sogar sagen, dass mit dem äußeren Wiederaufbau der nagelneuen Bundesrepublik ein  i n n e r e r  Wiederaufbau einherging, langsam genug, mit der gleichzeitigen permanenten Dekonstruktion (Analyse) von Nazisprache und Naziverbrechen und der gleichzeitigen Konstruktion und Rekonstruktion der demokratischen und kritischen Kultur Deutschlands. „Wir beugten uns über die Bücher Adornos (und Marcuses und Walter Benjamins) als könnten wir aus diesen ablesen, wie das richtige Leben sei“, äußerte sich (ich zitiere wieder dem Sinn nach) Rüdiger Safranski. Wenn man einen Begriff davon bekommen will, was unser Adorno- und unser Habermas-Studium am Ende alles erreicht hat, dann lese man diesen Autor, so seine Monografien über Die Romantik oder über E.T.A.Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten. (Oder noch besser die Goethe-Monografie.) Wer diesen Prozess der gleichzeitigen Dekonstruktion und Rekonstruktion der deutschen Kultur nach 1945 genauer ansehen will, der findet weit über die Gruppe 47 hinaus reichliches Material hierzu. Rein theoretisch, wenngleich zeitaufwendig und Konzentration erfordernd, könnte man das grandios deutschtümelnde Heideggersche Sein und Zeit und Adornos umfangreichen Verriss Negative Dialektik nebeneinander lesen und zudem die sehr verständliche Darstellung Safranskis Heidegger. Ein Meister und seine Zeit. Oder man lese Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, um nur diese zu nennen, ein wunderbares ebenso konzises wie faktenreiches Buch von hilfreicher Kürze und großer Präzision, das jedem jungen Germanisten als Einführung dringend zu empfehlen ist.

Aber es gibt zweifellos hunderte ernsthafte und ebenso kritische Publikationen, die aufgeräumt haben mit den national-mythischen Verherrlichungen und Ausgrenzungen und Ächtungen. Siehe auch Helmut Lethen. Dies nicht nur in Frankfurt, dem westlichen Berlin, Bremen und Bielefeld.

Götz Ali, zehn Jahre jünger als meine Generation, und obwohl er seine Forschungen und Urteile zweifellos etwas holzschnitthaft vorbringt und auch nicht, wie man ihm vorwirft, in enzyklopädisch ausgewogener Feinsinnigkeit, sagt es aber dafür direkt: Raub bleibt Raub und Raubmord bleibt Mord erst recht (wo bleibt da die Unantastbarkeit der Person und des Eigentums, worauf das liberale Bürgertum doch immer pocht?); und die Nazis haben Deutschland ruiniert. Sind angesichts des Desasters seit 1914 und besonders seit 1933 deshalb die Literatur und die Künste nichts mehr wert? So wie schon vorher Kaiser Wilhelm II. ein Unglück war für Deutschland (Rudolf Augstein). Die deutsche und internationale Forschung ist sich darin einig. Was aber wäre das Positive? Unter anderem doch „Kunst und Wissenschaft“. (So heißt es schon im Faust).

Aber wie roh redeten und dachten denn die CDU- und SPD-Mainstreamgrößen, ganz abgesehen von den höhnischen Springer-Zeitungen, für welche die Unterstellungen und Verleumdungen und das Niedermachen ein großes tägliches Vergnügen waren? „Bürger machen Sie die Strasse frei, damit die Polizei ihre Arbeit tun kann“ entblödete sich SPD-OB Schütz in Berlin nicht, seine Sonntags-Ansprache zu schließen, damit die „liebe[n] Berlinerinnen und Berliner“ nicht am Ku’damm spazieren gingen, wenn die Polizei wieder prügelnd unterwegs war. Und wenn es nach Helmut Schmidt gegangen wäre, hätte ganz 68 niemals stattfinden dürfen. Alles Baader-Meinhof und RAF? Die spätere CDU-Eisenfaust Wolfgang Schäuble forderte jahrelang ein Gesetz, dass die Bundeswehr „auch im Inneren der Bundesrepublik“ eingesetzt werden dürfte. Die Notstandsgesetze, im Mai 1968. Hatte nicht Berlin (das westliche, freie, von den Amerikanern gehaltene Berlin) mit den alliierten Vorbehaltsrechten schon etwas Derartiges? Aber die Berliner Polizei im Westen verprügelte uns Bildungsbürger-Söhnchen und Töchter trotzdem, junge Frauen und junge Männer gleicherweise, solche Jünglinge wie Knut Nevermann, Sohn des Hamburger Bürgermeisters, darunter. Wie harmlos wir waren, gutgläubig demokratisch und auf den Rechtsstaat vertrauend, zeigte auch eine späte Bemerkung der vormaligen Germanistik-Studentin Katharina Rutschky (sie schrieb in der alternative unter ihrem Geburtsnamen Kathrin Vier), dass „68“ dennoch auch ein enormer Spaß gewesen war. Oder Safranskis Bemerkung neulich, dass die 68er wenigstens frech waren und wenigstens eine Vorstellung von Gerechtigkeit hatten, und Moral und Zynismus unterscheiden konnten. Für uns wurde „die Freiheit Berlins“ jedenfalls  n i c h t  „auch in Vietnam verteidigt.

Zur Entwicklung und großen Entfaltung der Geisteswissenschaften seit 1968 gibt es nicht nur die Veröffentlichungen des Suhrkamp-Verlags (wenige im Fach Germanistik, es sei denn man denkt an Heinz Schlaffers Der Bürger als Held), sondern hinzu tritt nach den in vielen Bundesländern erweiterten Bildungschancen (2. Bildungsweg) geradezu eine Explosion der Kunst- und Literaturhäuser. Dies seit dem Ende der Ära Kohl und trotz der Träume mancher Politiker, alles zurückzudrehen auf vor 1968. Aber m. E. geschieht nicht nur die Rekonstruktion Deutschlands als neue Entfaltung der Literatur und der anderen Künste und Wissenschaften letztlich in der Folge der 68er-Aufbruchsjahre seither ansteigend. Es gibt heute kaum eine Stadt mit einigem Stolz ohne Literaturhaus. Die Stadtschreiber, Stipendien und Literaturpreise, die Literaturmuseen und überhaupt Museen und Restaurierungen haben einen erstaunlichen und wunderbaren Umfang erreicht. So entsteht auch Neues, „wer wollte das bestreiten“ (übersetzt Christina Viragh Peter Nádas). Dies im Gegensatz zu England und Amerika, die mit ihrem Abbau öffentlicher Schulen, Bibliotheken und Medien nicht mehr als unser Vorbild erscheinen, sondern eher als Warnung.

Ist es nicht wundervoll, dass der deutsche Sprachbereich und Deutschland einer, eine der größten Übersetzernationen geworden sind? Und suchen nicht viele verfolgte Autoren ausgerechnet im heutigen Deutschland Schutz und Asyl, um hier sicherer leben und in Ruhe arbeiten zu können? So gehören Aharon Appelfeld, Imre Kertész, Primo Levy und Carlo Levy, aber auch Stefano D’Arrigo und Roberto Bolano inzwischen genauso zur – von deutsch Lesenden – diskutierten Literatur wie es vor „68“ Samuel Beckett, Eugene O’Neill und James Joyce waren. Sehr gut.

Von daher kann man vielleicht auch einen unwilligen (und verständnislosen) Verriss wie den von Jochen Hörisch an Heinz Schlaffers Die kurze Geschichte der deutschen Literatur (2002) verstehen, wenngleich nicht billigen, der sich gegen Schlaffers These verwahrte, die deutsche Literatur habe nach der Goethezeit und nach der Zweitblüte um 1900 (Kafka, Hofmannsthal, die Expressionisten, Brecht, Thomas Mann, Musil, Döblin) ihre Weltbedeutung verloren, verbraucht in der Ermordung der deutschen Juden und all jener jüdischen und anderen Osteuropäer, für die Österreich mit Wien und Deutschland die begehrenswerten Kulturländer gewesen seien. (Man lese Isaak Deutscher, Elias Canetti, Stefan Zweig und viele ihrer Zeitgenossen. Oder Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft.) Auch über letzteren hielt ich eine Seminarveranstaltung (zusammen mit Guntram Vogt).

Jochen Hörisch verkörpert den erfreulichen Typus von Germanisten, der vehement die Erweiterung des Faches auch in Richtung Philosophie, Medien, internationale Diskussion betont und genaue Textlektüre betreibt. Alle Achtung. Dennoch ist er sozusagen das erfreuliche Ergebnis eines Weiterlebens des Geistes von 68, aber ohne den Schmerz, den die um ein Jahrzehnt ältere Generation von Heinz Schlaffer (derselbe Jahrgang 1939 wie ich) immer noch (unausgesprochen) empfunden haben mag, der höchst indirekt in manchen Äußerungen von 68ern zum Ausdruck kommt.

Es ist nicht so, als sei nichts gewesen. Es ist nicht so, als seien nicht alle, wie Peter Nádas es kürzlich erneut ausdrückte, Versehrte, verletzt und geschlagen von den monströsen Ereignissen der deutschen und mitteleuropäischen Selbstzerstörung. Egal ob es ihnen bewusst sei oder nicht. (Aufleuchtende Details). Jochen Hörisch stammt aus dem heilen Westfalen ab 1950, einem Land, wo die Welt bereits wieder in Ordnung schien. Heinz Schlaffer, Jahrgang 1939, wurde als Kind aus der CSR vertrieben, jedoch ohne je irgendeinen Groll geäußert zu haben.) Er zitiert einmal Goethes Wort: „Die deutsche Literatur wird eine europäische sein [d.h. eine, die auch international wahrgenommen und gelesen wird], oder sie wird nicht sein“. So ist es dann ja auch gekommen. Es galt für die Goethe-Zeit, für die von vor 1914, für die 20er-Jahre, und es gilt für die Gegenwart und in Zukunft. Wenn man heute amerikanische Literaturzeitschriften liest, fragt man sich fast, ob Thomas Mann, Franz Kafka, Stefan Zweig, Heinrich Heine, sogar Walter Benjamin und Kurt Pinthus, auch Charlotte Salomon und Hannah Arendt, nicht eigentlich Künstler und Denker der angelsächsischen Zivilisation seien, so intensiv wie man sich dort mit diesen Autoren, Wissenschaftlern und Künstlern befasst.

(Heinz Schlaffer, fast augenzwinkernd: er fasse sich kurz, damit der Leser umso schneller an das Eigentliche, die Befassung mit den Texten, zurück könne…)

III.  Die 60er-Jahre und Berlin

Ersparen Sie mir, etwas zu den abstoßenden Gewalttätern der Baader-Meinhof-Bande zu sagen. Ich ekle mich vor Schlägereinen und war schon als 13-jähriger Schüler gegen die Todesstrafe. Ich bin aufgewachsen ganz im Westen, im Rheinland, in einem ganz konservativen und ziemlich behüteten Umfeld, das muss ich betonen. Eigentlich gehörte ich eher nach Bonn oder Tübingen als nach Berlin. Was hat mich dennoch nach Berlin gezogen? War es diese untergründige Stimmung, die ich später auch bei vielen Autoren und Wissenschaftlern meiner Generation wiederfand? Dass da etwas sei, an das zu rühren verboten war, weil es etwas Unwiederbringliches war? (Leipzig, Dresden, Weimar, alles unwiederbringlich? Von Königsberg gar nicht zu sprechen. Wer war dieser Immanuel Kant? Den konnte man doch kaum verstehen, wenn man ihn ernsthaft zu lesen versuchte.)

In Berlin gab es damals ‒ so wie auch jetzt noch ‒ viele andere spannende Ereignisse, es traten die bekannten Dichter der Gruppe 47 auf, es gab die Konzerte von Karajan und es gab viele Ausstellungen der Nach-Bauhauskunst und -architektur. Wurde damals Gustav Mahler von alten Nazis ausgebuht? Ich kann mich nicht daran erinnern, aber ich besuchte das neue Sinfonie-Gebäude, gebaut von Scharoun. Das Oberhausener Theater kam mit den Stücken von Peter Handke und vorher holte Walter Höllerer viele im Ausland bekannte Schriftsteller nach Berlin zu großen Lesungen in die Kongress-Halle, darunter Ionesco und Doderer. Peter Weiss wurde mit seinem Stück Marat (langer Titel) uraufgeführt.

Ich saß oft im Amerika-Haus und las dort deutsche Zeitschriften oder auch Ralf Dahrendorf und andere nicht gerade germanistische Autoren. Einmal war eine Ausstellung mit Fotos in DIN-A5-Größe zu sehen. Gezeigt wurden strohgedeckte Hütten in Dörfern in Vietnam, die lichterloh brannten. Ich war zu Tode erschrocken. Wohlgemerkt, dies war im Amerika-Haus, und die Aussteller waren westliche (wohl auch amerikanische) Journalisten. Es gab kaum Kommentare dazu. Aber es war klar, was dort geschah. Im Krieg wird nicht unterschieden zwischen Erwachsenen und Kindern, bombardiert werden alle. Es wird nicht unterschieden zwischen Bauern und Kommunisten, geschossen wird auf alles, was sich bewegt. Es muss 1964 oder 1965 gewesen sein. Mir wäre aber nie in den Sinn gekommen, auf diese kleine freundliche Bibliothek jemals Steine zu werfen.

Ich wurde also Vietnamkriegsgegner, weil ich  p r o amerikanisch,  p r o westlich,  f  ü  r  mein Land die „Bundesrepublik Deutschland“ war (der letzte Rest, der von einer großen Zivilisation geblieben war, wie ich es empfand). Ich war  f  ü  r  den Westen,  f  ü  r  Berlin,  f ü r  die Wiedervereinigung (ohne sie irgendwie zu sehen),  f  ü  r  die Demokratie mit Gewaltenteilung und als Rechtsstaat,  f  ü  r  die Zivilisation und gegen das Opfern von Menschen, gegen die Barbarei der Gewalt. Ich war  f  ü  r  Amerika. Ich wurde auch nicht antiamerikanisch. Aber ich war entsetzt und empört. Was ich nicht verstand, aber in meinem naiven Idealismus besser hätte verstehen müssen, war der Zynismus, mit dem nicht die in Berlin freundlichen und harmlosen wenigen Amerikaner und Franzosen (Briten sah man nie) agierten, sondern die Berliner (eigentlich Bonner) Politiker, indem sie die Prügelperser mit einer Art von Dachlatten auf unbewaffnete Berliner Demonstranten einschlagen und dabei gewähren ließen. Aus Unterwürfigkeit? Aus Diplomatie? Es schien so.

Ich hörte davon im SFB und im RIAS, also unseren westlichen Sendern. Ich dachte, dass dies doch nicht sein dürfe, in einer Demokratie. So wie ich dachten sicherlich viele Studenten. Deshalb ging ich am Abend zur Demonstration am 2. Juni, wo erneut die Prügelperser angekarrt wurden, vor dem Opernhaus.

Inzwischen ist man klüger. Auf der ganzen Welt gibt es diesen Pakt der sogenannten Elite (aber ist sie immer eine? derer, die gerade oben sind oder das Geld haben) mit dem Mob. Hannah Arendts politische Werke hatte ich damals noch nicht gelesen, lediglich ihr Buch über Rahel Varnhagen.

Wäre ich besser am 2. Juni 1967 nicht hingegangen zur angesagten Demonstration? Gewiss, besser nicht. Aber kann man über sich sagen, man wäre lieber nicht geboren oder man wäre lieber tot? Das kann man nicht, wenn man einigermaßen bei Verstand ist. Ich traf auf dem Weg zur Demo am 2. Juni 1967 eine Reihe später so genannter 68er, die ich flüchtig kannte, so unter anderen Gunnar Heinsohn (späterer Ethnographie- und Völkermord-Forscher, Soziologe und Ökonom) und auch Bernhard Blanke (Politologe), keine Germanisten. Ich konnte mir in keiner Weise vorstellen, dass mich dort am Ende jemand erschießen wollte, nicht mich speziell, sondern überhaupt einen von den Demonstranten. Dass „ein Polizist“ nur nicht dazu kam, mich zu erschießen, sondern einen anderen erschoss, nämlich Benno Ohnesorg. In einer Seitenstraße wurden wir zurückgedrängt, immer wieder lief ein Greiftrupp (Polizisten in Zivil) in die Menge und verhaftete jemanden. Als diese in die Richtung liefen, wo ich stand, flüchtete ich unklugerweise in ein offenes Parterre-Grundstück, das nach hinten keine Ausgänge hatte. Nach wenigen Schritten wurde ich gewaltsam niedergestoßen und sofort weggetragen. Vielleicht wollte Benno Ohnesorg mir helfen oder sehen, was da los war, oder selbst flüchten, jedenfalls gibt es ein Foto, wo er neben mir steht und ich am Boden liege. Etwa 30 Sekunden später, als die Polizisten mich auf dem Mittelstreifen der großen Bismarckstraße hinstellten, hörte ich den Schuss, der Benno Ohnesorg das Leben nahm.

All dies ist genau beschrieben worden, man mag es ungern erneut noch einmal hören. Uwe Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg? Der 2. Juni 1967. Es ist mir voll bewusst, jedes Mal, wenn ich mich daran erinnere. Aber wenn man psychisch überleben will, verdrängt man es auch, ausserdem hatte ich am nächsten Tag überall blaue Flecken, und so ging ich in die Akademie der Künste, um an etwas anderes zu denken. Dort traf ich Wolfgang Virmond und Ginka Steinwachs, andere Germanisten. Wir sahen amerikanische Kurzfilme an. Die Polizei und die Behörden verheimlichten zunächst den Tod Benno Ohnesorgs, ich erfuhr davon erst am Montag. Nicht nur das, sie manipulierten sogar seine Leiche und ließen bald danach sämtliche Polizeiakten zu dieser Demonstration verschwinden. Die ganze entsetzliche Geschichte ist elend, weder fair noch heroisch.

Ich war gar kein Linker. Ich war ein Langzeitstudent, wie manche andere auch. Auch darüber, über die deutsche Universität und insbesondere die philosophischen Fakultäten ist viel Kritisches geschrieben worden. Einmal stand Bernd Rabehl, ein anderer Langzeitstudent, neben mir an der Buchausgabe der Universitätsbibliothek, er hatte ein Dutzend Bücher weit überzogen. Soso dachte ich, auch der kommt zu keinem Ende. Aber so ein Marx-Terminologe wie der bin ich nicht. Was für eine ratternde kalte Begriffssprache. Ich hatte freilich meine eigene kühle Begriffssprache, in der Terminologie der idealistischen deutschen Philosophie. Und die der Neukantianer.

IV.  Germanistik plus

Inwiefern hat Germanistik etwas mit Philosophie zu tun? Nun, man werfe nur einen Blick in einen Essay von Theodor W. Adorno oder man lese Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit oder auch nur irgendeinen anspruchsvolleren Aufsatz über deutsche Dichter. Es wimmelt von philosophischer Terminologie. Die Sprache ist gleichsam nach oben hin offen.

Der Neukantianismus? Man sehe das, was einigermaßen realitätsfern Georg Lukács (Geschichte und Klassenbewusstsein, 1923) oder deutsch-magisch (durchaus faszinierend zu lesen in seiner langsam hoch kreisenden ausgedehnten Engführung) Heidegger daraus gemacht hatten. Letzterer verdankt diesen seinen unmittelbaren Vorgängern viel. Auch mit denen wurde man im Studium zeitlich kaum fertig. Nein, die Neukantianer – sie haben wirklich nichts mit den 68ern zu tun. Und dennoch, sogar Hans Blumenberg lebt noch von ihnen, obwohl er es nur verdeckt zugibt. Diesen holte Dieter Henrich 1965 einmal in sein Seminar, die Studenten, idealistisch und oft noch klassisch belesen, brachten Hans Blumenberg (Metaphorologie; ‘‘alles ist eine einzige große Erzählung“ und Metapher, gemessen am ‘‘Absolutismus der Wirklichkeit“; siehe seine spätere Arbeit am Mythos; ein mit Jacques Derrida vergleichbarer Denker, freilich von mehr deutsch-sperriger Sprache) derart auf, dass er sagte, er denke nicht daran, sich für sein Buch Die Legitimität der Neuzeit zu entschuldigen.

Aber, wegen Vietnam und überhaupt, es brodelte schon. Peter Gäng (Vietnam, Genesis eines Konflikts) war einer der Wortführer. Kurz danach kam Dutschke ins Philosophische Seminar, 1966. Er machte den Mund auf, kompetent, mit erstaunlicher Textkenntnis, drängend energisch, lieferte sogar nicht mehr erreichbare Texte im Nachdruck (unsere ersten Raubdrucke mussten erst noch von Hand abgetippt werden). Ich übersetzte einen Text von Karl Korsch, der im Partisan Review erschienen war, aus dem Englischen. Wir lasen auch die Frühschriften von Karl Marx, bei Hans-Joachim Lieber.

Weniger die Germanistenprofessoren, mehr die Philosophen beeindruckten uns. Es gab auch noch Walter Höllerer an der TU, unter anderen promovierte FC Delius bei ihm. Und ebenfalls dort einen vielversprechenden freundlich-sachlich-kühlen Philosophie-Dozenten namens Hans Lenk, einen Wittgensteinianer, sehr anspruchsvoll, letzterer hatte wenig oder nichts mit den 68ern zu tun, war aber jung und fordernd.

Der Brillanteste, der Großartigste, den ich je in der akademischen Lehre erlebt habe, war der damals junge, kraftvolle, strahlende, hoch gewachsene, sehr ernste und dennoch heitere, bestimmt und dennoch fest und klar und druckreif redende Dieter Henrich. Er kannte ganze Passagen von Plato, aber auch der Schriften von Immanuel Kant und G. W. F. Hegel auswendig, der Argumentation nach, nicht als Rezitation. Wie etwas zu denken sei und das im weiteren Zusammenhang, war seine Forderung, die er beispielhaft selbst ausführte. In seinen Vorlesungen über Hegel und Kant saßen sogar die Assistenten und Junior-Professoren. Er las auch über die Philosophiegeschichte von 1850 bis 1910, darunter die Neukantianer. Einmal, recht früh, stand auch Derrida in demselben Hörsaal.

Paul Feyerabend kam aus Kalifornien, im Grunde ein Positivist und Technik-Philosoph, aber umwerfend liberal. Oder Anarchist. Die vier Assistenten, sprich Gehälter, die ihm zustanden für seine Gastprofessur, verwandelte er in viermal so viele Doktoranden-Stipendien, die er „Hilfswissenschaftler“ nannte.

Über mich ist nur zu sagen, dass ich studierte und nicht demonstrierte oder agitierte; ich hatte einen hohen, vielleicht sogar zu ehrfürchtigen Blick auf das Lernen und das Wissen. Außerdem hatte ich nichts Draufgängerisches an mir.

V.  Marburg nach 68

In Marburg ging aus den heftigen Diskussionen über eine angemessene germanistische Hochschuldidaktik (welche Inhalte wünschten die Studenten von den Dozierenden!!?) das Kommentierte Vorlesungsverzeichnis hervor, allein zur genaueren Information und mit Lese-Angaben (Literatur) zur Hilfe für Studenten bei der Auswahl von und Vorbereitung zu Lehrveranstaltungen gedacht. Ein Extra-Service, den sich die Studenten ertrotzt hatten, von einem ab 1968 zunehmend linken (eigentlich nur linksliberalen, offenen, keineswegs in Gänze marxistischen) Lehrkörper.

Aber vielleicht wurden auch zunächst die Erwartungen von Marie Luise Gansberg an eine offenere und mehr feministische Germanistik enttäuscht. An einzelne Titel von Lehrveranstaltungen von Frau Gansberg vermag ich mich nicht mehr zu erinnern. Generell kann man sicher sagen, dass sie mit frauenthematischen Seminaren sicher einen nicht ganz leichten Stand hatte. Von den trockenen Fachbereichssitzungen (es ging oft nur um Zuteilung von Schreibkraft-Zeit und Hiwi-Geldern) war sie meist entschuldigt. Im letzten Drittel der 70er-Jahre wurden jedoch die weiblichen Studierenden viel aktiver bzw. meldeten sich deutlicher und heftiger zu Wort als die immer noch sich marxistisch verstehenden männlichen Studenten.

Mit der Gastprofessur von Marianne Schuller im letzten Drittel der 70er-Jahre änderte sich die Situation dramatisch. Zum Erstaunen der am Fachbereich Lehrenden ergriffen auf einmal vor allem die Student i n n e n  das Wort, und so wurden vor allem Bewerber i n n e n  auf frei werdende oder neue Stellen (es gab nur noch wenige) von einer Mehrzahl von Studentinnen unterstützt, natürlich auch begrüßt von Marie Luise Gansberg. Zu Vorträgen kamen Silvia Bovenschen, Gisela von Wysocki und andere mehr.

Das von Marie Luise Gansberg und mir gut vorbereitete Seminar „Hexenwahn und seine Kritiker“, veranstaltet im Wintersemester 1979/80, hatte guten Zulauf, es entstanden gehaltvolle Seminararbeiten. Jedoch zog sich Frau Gansberg zurück, bevor es durchgeführt war. (Darüber, ob es sich um gesundheitliche oder persönliche Gründe handelte, maße ich mir kein Urteil an. Persönlich hatte ich immer eine gute Beziehung zu Frau Gansberg.) Obwohl wir auch Jules Michelets La Sorcière als historischen Text oder Hans Peter Duerrs kulturhistorisch-spekulative Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation zugrunde legten, richtete sich unser Lehrinteresse vor allem auf Mitteleuropa, mein persönliches besonders auf Friedrich Spee als Beichtvater von zum Tode verurteilten Frauen, der sehr schnell heraus fand, dass sie völlig unschuldig waren und Verleumdungen unterlagen. Er forderte, wenn schon nicht ein völliger Prozess-Stopp möglich war, so doch ein Moratorium und eine Aussetzung von Hinrichtungen und die Möglichkeit der Revision der Urteile in seiner berühmten Cautio Criminalis. Der Autor gehört zudem zu den Barockdichtern und schrieb die Gedicht- und Liedersammlung Trutznachtigall, mit vielen frommen Preisliedern und nicht wenigen Marienliedern.

Am schon einige Semester vorher angebotenen Seminar über die Akteurinnen der Berliner Salons, also Rahel Varnhagen und Henriette Herz, dokumentiert in ihren Briefen und denen ihrer Briefpartnerinnen und Partner nahmen fast nur Studentinnen teil. Jedoch veranstaltete ich dieses Thema weniger aus einem feministischen Impuls heraus, sondern weil ich nicht einverstanden war mit der engen Auffassung von Literatur oder Themen oder Quellen einiger Großgermanisten (so Wilhelm Emrich, aber auch Gordon Craig, Historiker) dahingehend, dass der  B r i e f  als Gattung keine Literatur sei. So als sei einem Goethe-Forscher wie Wilhelm Emrich nicht bewusst, woraus Goethes Werther besteht (nicht aus lauter Briefen?) oder welche literarische Bedeutung inhaltlich, moralisch und ästhetisch Walter Benjamins Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen haben, 1936 zusammengestellt, neu herausgegeben von Adorno.

Für Hannah Arendt waren vor allem Rahels Briefe Grundlage der Biographie über diese. Hannah Arendt ist zu meiner Zeit in Marburg von allen Seiten immer als  A n a t h e m a  bezeichnet worden, weil sie es gewagt hatte, ein politologisches Grundlagenwerk wie das über den Totalitarismus zu schreiben (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, dt. 1955). Diese große Forscherin wurde reduziert auf das platte Etikett, sie setze Rot und Braun gleich. Sie drückt es sehr viel differenzierter aus. Das Interessante dabei ist, dass die Geschichte ihr Recht gegeben hat. So, wie wir es heute wissen, man lese die russische Literatur seit Solschenitzyn bis hin zu Warlam Schalamow, Ludmilla Ulizkaja und Swetlana Alexijewitsch und deren Zeitgenossen.

Die Assistenten und Junior-Professoren im Fachbereich Abendroths betrachteten die Parallelen im Ergebnis, den Massenmord, die in Diktaturen umgebrachten Menschen, als Affront; nach meiner Meinung war dies ein Tabu, ein Lese- und Sprechverbot von großer Engstirnigkeit und obendrein Wunschdenken. (Als ob die DDR die bessere oder gar humanere Gesellschaft gewesen wäre!!) Überdies verdient Hannah Arendt allein schon wegen ihrer profunden Kenntnis der Kritik der Urteilskraft zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Laufbahn hohe Achtung.

VI.  Plus Feminismus

Mehr noch. Unter dem einen Dutzend besonders umtriebiger feministischer Studentinnen befand sich eine namens Sylvia Lichtenberg, sie studierte Anglistik und Germanistik. Sie war eine Art weiblicher Joschka Fischer, redete und redete – mit allen. Sie kontaktierte, animierte und pushte: Frauen. (Auch lebte sie in einer WG zusammen mit anderen Studentinnen, in einem angemieteten Eigenheim in einem nahen Dorf.) Sie kannte jeden und jede. Sie organisierte und schrieb mögliche Bewerberinnen an. Ihre Stärke war nicht Dominanz und Herrschsucht, sondern eine Art totale (feminine) Kommunikation. Aufgrund ihrer Neugier und Reiselust kontaktierte sie Frauen und Frauengruppen auch in anderen Städten wie Frankfurt, Hamburg und schließlich, Ende der 70er-Jahre, Berlin, wo die feministische Szene größer war. Ganz wesentlich trug sie als persönliche Bestärkerin (eine Art Coach) zur Berufung von Marianne Schuller auf einen Lehrstuhl mit feministischer Forschungsrichtung an der Universität Hamburg bei. Nach einer Magisterarbeit über Gertrude Stein bot ihr Anglistikprofessor in Marburg ihr an, zu promovieren, sei es über Gertrude Stein oder über Susan Sontag. Sie flog nach New York, um mehr Literatur zu sammeln, und fand überreichen Stoff. Warum sie die Dissertation aufgab und von Berlin aus zunächst ins Filmgeschäft (Filmfinanzierung) ging und später nach Neuseeland auswanderte, weiß ich nicht. Sie heiratete einen Regisseur aus einer Maori-Familie, ihr Name ist seither Sylvia Kaa. Sie kannte auch Barbara Hahn.

Indem ich Frau Lichtenberg in New York eine Woche begleiten konnte, erinnere ich mich daran, eines Nachmittags in der Lower East Side in Manhattan in einem dieser damals noch vorhandenen, zum Verkaufslager umfunktionierten Sweatshops achtlos in Bergen von Jeans herumgesucht und abseits in einer Ecke fünf bis sechs junge Männer miteinander reden gesehen zu haben. Stöbernd näher kommend, hörte ich Worte und Satzfetzen, die sich zuerst wie Mittelhochdeutsch anhörten, die aber dann klares Jiddisch waren. Mir klopfte das Herz, dass es – angesichts des Völkermords in Europa – diese Sprache noch gab. Sie muss in Osteuropa (gemäß den Meldebüchern von Polen, Litauen und Ukraine) von vier bis fünf Millionen Menschen gesprochen worden sein.

Die Stärke der deutsch schreibenden Autorinnen seit 1968 scheint mir im Beschreiben der mentalen, seelischen und körperlichen Befindlichkeit zu bestehen, aber auch im Protest gegen männliche Dominanz allenthalben. Marie Luise Gansberg hat zuweilen von Anette von Droste-Hülshoff gesprochen. Ich erinnere mich aber nicht mehr ihrer genauen Worte, auch nicht, ob oder wo diese Autorin in ihren Forschungen vorkam. Seither hat die feministische Bewegung enormen Aufschwung genommen, und ist sicherlich – auch weltweit – noch lange nicht vollendet. Autorinnen wie Judith Butler belegen dies und viele, sehr viele Autorinnen, die in Sachbuch und Roman massive und konkrete Menschenrechtsverletzungen an Frauen aus Gründen der Herrschsucht, sexualisierter Gewalt oder einfach nur ungehemmter Ausbeutung darstellen.

Wie sich nach den Examina und dem Fortgehen all der Studentinnen ins Berufsleben die Marburger Szene in den 80er-Jahren weiter entwickelte, kann ich nicht sagen, da ich selbst Marburg 1981 verließ.

Hannah Arendt spricht in ihrer Monografie über Rahel Varnhagen davon, kritisch gegenüber dem Goethe-Kult Varnhagen von Enses und offen für die tatsächlichen Lebensinteressen ihrer Protagonistin im fortgeschrittenen Alter zu sein, als diese alle Anstrengungen einer brillanten und geschliffenen Hochsprache – der Goetheschen – fallen ließ und mit ihrem Bruder einfach nur noch auf Jiddisch korrespondierte.

Jiddisch, auch dies ein Thema der Germanistik, wenngleich vernachlässigt, und nicht zur Vorbereitung auf irgendeinen Gymnasialunterricht verwendbar. Diese Sprache ist überhaupt nicht mehr verwendbar, außer in einigen Sekten. (Siehe Deborah Feldmann: Unorthodox.) Zudem umfasst das Jiddische dieses dunkle Gebiet des  U n w i e d e r b r i n g l i c h e n   und es gemahnt an die Tragödie, dass das europäische Volk mit der westgermanischen Sprache Jiddisch, Sprache und Volk der (letztlich und kulturell  d e u t s c h e n) Aschkenasim, im zweiten Weltkrieg in Europa ausgerechnet von Deutschland und Deutschen vernichtet wurde.

Wenn jetzige Autoren deutscher Sprache Namen wie Feridun Zaimoglu, Navid Kermani und Saša Stanišić haben oder Schriftstellerinnen nicht nur Cornelia Funke, Marianne Fritz, Silke Scheuermann, Juli Zeh, Nora Gomringer und Sibylle Berg heißen, sondern auch Christina Viragh, Olga Grjasnowa, Nino Haratischwili und Ilma Rakusa, dann kann es um die deutsche Literatur und Sprache nicht ganz schlecht bestellt sein. (Um nur einige wenige zu nennen, Auswahl willkürlich.) Und wie es jetzt unzählige Autorinnen gibt, auf Deutsch, so auch eine Vielzahl Professorinnen.

Die jetzige Literaturszene im Deutschland des 21. Jahrhunderts ist so vielfältig wie etwa der Germanist und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch sie sieht und sich wünscht. Freie Rede ist möglich und wird nirgends in Deutschland verfolgt.

Jedoch sind Rechtsstaat und Demokratie nicht selbstverständlich. Verteidigen wir sie!

Ich wünsche Ihnen viel Glück und Erfolg für Ihr Projekt

1968 in der Literaturwissenschaft!

Freundliche Grüße

Ihr

Hartmut Rosshoff