Die Vorkommnisse in Deutschland wurden in Großbritannien mit einer Mischung aus Faszination, Besorgnis und Schrecken verfolgt

Von Roger PaulinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roger Paulin

 

1968 hinterlässt bei mir einen zwiespältigen Eindruck. Die studentische Revolte, von der hier hauptsächlich die Rede sein soll, war von vornherein eine West-Berliner und westdeutsche Angelegenheit. Die Situation in der DDR, wo ein Totalitarismus den anderen ablöste, und wo akademische Freiheit kaum oder nicht existierte (mit entsprechendem Karrierismus), hat die Akteur/innen der Revolte, soweit ich sehe, eher randständig beschäftigt oder sie kam überhaupt nicht zur Sprache.

Die Diskussionen, Protestaktionen und Demonstrationen gingen in einer relativ offenen, pluralistischen Gesellschaft vor sich, mit Grundgesetz, was es bis heute in Großbritannien nicht gibt, und einer freien Presse ‒ soweit es eine solche überhaupt gibt (die deutschen Boulevardblätter sind relativ harmlos verglichen mit der Londoner Yellow Press). Damit will ich die Ziele der Studentenbewegung nicht relativieren oder verharmlosen. Aber kein deutscher Student wurde, wie anderswo, in die Kriege in Vietnam oder Algerien eingezogen (ich selbst habe 1971/72 in Kanada Vietnam vets und draft dodgers, amerikanische Kriegsdienstverweigerer, unterrichtet), kein deutscher Student musste in die damalige Tschechoslowakei einmarschieren, kein übergroßer Leidensdruck nötigte dazu, in den amerikanischen Südstaaten gegen den Rassismus zu demonstrieren. Kiesinger und die große Koalition waren nicht de Gaulle, Johnson oder Breschnew/Honecker.

Wurden die BRD-Universitäten[1] von der politischen Linken häufig als Horte reaktionären Denkens angeprangert, so ist andererseits zu bedenken, dass Hochschulen weltweit eher autoritär strukturiert waren, und dass studentischen „Ausschreitungen“ oft mit harten Maßnahmen begegnet wurde, ich erwähne nur das Kent-State-Massaker und die Gefängnisstrafen bei den Cambridger Prostestlern (und Brandstiftern) gegen die griechischen Obristen.

Dass Rudi Dutschke, „Kopf und Stimme der Revolte von 1968“, nach dem Attentat auf ihn am 11. April 1968 eine Zufluchtsstätte in Cambridge fand und hier genesen konnte, zeugt weniger vom Liberalismus der britischen Gesellschaft als von der Überlegung, dass er als Rekonvaleszenter für die öffentliche Ordnung keine Gefahr darstellte.[2] Ende 1968 waren er und seine Familie aus Sicherheitsgründen von einem linken Verleger in Italien, Anfang 1971 von einem dänischen pazifistischen Dozenten aufgenommen worden (in Dänemark hatten die Dutschkes lediglich ein Jahr Aufenthaltserlaubnis).

Die Vorkommnisse in Deutschland wurden in Großbritannien mit einer Mischung aus Faszination, Besorgnis und Schrecken verfolgt. Für viele etablierte Germanist/innen hatte es den Anschein, als ob das Fach, das wir ja immerhin im Ausland zu vertreten hatten, von innen her einem Prozess der Auflösung ausgesetzt wäre. Mit der Promotion angelsächsischer Studierender der Germanistik an deutschen Universitäten ‒ in der Hauptsache Mediävist/innen ‒, die eine gewisse Bildungselite darstellten, war es plötzlich vorbei. Man kann sogar sagen, dass die Germanistik hierzulande mit 1968 erst richtig selbstständig wurde. Die im Zeichen von mehr „Öffnung nach links“[3] stehende bundesrepublikanische studentische Protestbewegung war aber nicht ganz folgenlos: Das germanistische Institut in Birmingham wurde über die Volkswagen-Stiftung von Marxisten aus der BRD unterwandert und war für mehrere Jahre ein ideologischer Kampfplatz. Zwei ehemalige Marxisten (Abkehr vom Marxismus 1956), darunter der bekannte Germanist Roy Pascal, wurden damit nicht fertig: Sie räumten das Feld bzw. ließen sich frühzeitig pensionieren. Für einen dritten (nicht-marxistischen) Beteiligten hatte das Ganze gesundheitliche Folgen.

Wir beobachteten nach 1968 mit Skepsis einige neue Lehrstuhlinhaber an den BRD-Universitäten, sahen dort zwar Studienreformen,[4] aber keine Systemreform, die ja eine gut begründete Forderung der Studenten- und Assistentenbewegung war, höchstens eine Wachablösung ‒ „der Kaiser ging, die Generäle blieben“, um es in den Worten eines Romantitels aus den 1920er-Jahren zu sagen.

Dies sind lediglich ein paar Vorbemerkungen zu einem Thema, zu dem es sehr viel mehr zu sagen gäbe. Ich war insofern persönlich betroffen, als ich 1965 bei Friedrich Sengle in Heidelberg promovierte und zugleich zwei seiner Assistent/innen, Marie-Luise Gansberg und Rolf Schröder, persönlich kennen und schätzen lernte. Sengle behandelte mich immer wohlwollend, doch entging mir ‒ aus der Distanz des Auslandes ‒ nicht, dass er sich über die Systemkritik, die auch ihn betraf, maßlos aufregte. Seine Gegenattacke war die Literaturgeschichtsschreibung ohne Schulungsauftrag, ein Buch, das ich als teilweise sehr unerfreuliche Lektüre empfinde.[5]

Mir war 1968/69 auch sehr wohl bewusst, dass die junge Generation von Dozent/innen und Assistent/innen hochberechtigte, auf mehr Unabhängigkeit, Beteiligung, Gleichberechtigung, Transparenz, Toleranz und Wahrhaftigkeit zielende Forderungen stellte. Einige dieser Forderungen sind bis heute nicht eingelöst worden. Warum nicht? Hinzu kommt, dass die Diskussion um die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit namhafter Germanistikprofessoren, die nach 1945 an den Schalthebeln der Macht saßen, nicht mit der nötigen Seriosität geführt wurde ‒ immer wieder ersetzten und ersetzen Halbwahrheiten, Häme und Schuldzuweisungen Archivgänge, das Studium von Einzel- und Kollektivbiografien und ursachenanalytische Forschung.

Die Hörsaalbesetzungen und Vorlesungsstörungen, die 1968 stattfanden,[6] und über die Albrecht Schöne unter anderem in der FAZ aus der Perspektive von „50 Jahre 1968“ berichtet,[7] beanspruchen die Schlagzeilen, lenken aber eher von den an die Substanz gehenden Fragen und den wirklich wichtigen und belastenden Problemen ab. Denn immer noch hat es den Anschein, als siegten politische Ranküne, Anmaßung, Ignoranz und Sturheit allzu oft über evidenzbasierte Qualitätskriterien, über die Grundsätze der Chancengleichheit und Gleichbehandlung und über das Gemeinwohl und Wohlbefinden, wozu auch ein fairer, konstruktiver und respektvoller Umgang miteinander gehören.

Anmerkungen

[1] Vgl. Deutsches Universitäts-Handbuch (BRD + DDR), Ausgabe 1‒2, München 1967‒1970. Fortsetzung: Handbuch der Universitäten und Fachhochschulen Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Schweiz, Ausgabe 3‒6, München 1985‒1993.

[2] Sophia Schirmer: Als die Briten Rudi Dutschke rauswarfen / Ausweisung 1971, in: Der Spiegel Online (11.4.2018), URL: http://www.spiegel.de/einestages/rudi-dutschke-nach-attentat-kein-platz-an-der-universitaet-cambridge-a-1201059.html.

[3] Peter Schütt: Für die Öffnung nach links, in: Die Welt 21, 1966, Nr. 259, 5.11.1966, S. 2. Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967‒1977, Köln 2001.

[4] Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen. Verabschiedet in der Vollversammlung des Wissenschaftsrates am 14. Mai 1966, Bonn 1966, darin: „Germanistik“ (S. 55‒59). Empfehlungen zur Struktur und zum Ausbau des Bildungswesens im Hochschulbereich nach 1970. Vorgelegt im Oktober 1970, Bd. 2: Anlagen, Bonn 1970, darin: „Ausbildung im Fach Germanistik“ (S. 103-141).

[5] Friedrich Sengle: Literaturgeschichtsschreibung ohne Schulungsauftrag. Werkstattberichte, Methodenlehre, Kritik, Tübingen 1980.

[6] Wir hatten in Großbritannien 1968 auch ein paar Institutsbesetzungen, aber meistens gutmütiger Art.

[7] Kampf um 1968: Albrecht Schöne erinnert sich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online (12.11.2017), URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kampf-um-1968-albrecht-schoene-erinnert-sich-15289145.html. Ulrich Schubert: „Die finstere Seite der 68er-Revolte“ in Göttingen, in: Göttinger Tagblatt Online (14.11.2017), URL: http://www.goettinger-tageblatt.de/Campus/Goettingen/Die-finstere-Seite-der-68er-Revolte-in-Goettingen. ‒ Siehe auch: Hans-Joachim Dahms u. Klaus P. Sommer: 1968 in Göttingen. Wie es kam und was es war. In unbekannten Pressefotos, Göttingen 2008.