Psychiatrie im erzählten Text

Zur Problematik von Diagnosen in Literatur und Literaturwissenschaft

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Der Arzt, der es den Tag über mit kranken Menschen zu tun hat, so kann man gelegentlich hören, will am Abend anderes lesen als Krankengeschichten in literarischer Form. Was heißen soll: er hat Anspruch auf schöne Literatur, diese im althergebrachten Sinne verstanden. Ansprüche wie diese sind ganz unbestreitbar. Nur muß man wissen, daß man sich mit einem solchen Literaturverständnis den Zugang zur modernen Literatur weithin verstellt, in der zunehmend auch wissenschaftlich relevante Sachverhalte zur Sprache gebracht werden. Denn wo Krankengeschichten erzählt werden, geht es stets auch um medizinische Wissenschaft und um den Beruf derjenigen, die ihn ausüben. Aber Krankheiten können sehr Unterschiedliches bedeuten. Es gibt solche mit einem Anflug von Feudalität wie die Tuberkulose von einst, deren Verläufe Thomas Mann in seinem Roman Der Zauberberg eindringlich schildert; und es gibt weniger angesehene, zu denen die meisten psychischen Krankheiten gehören. Sie haben es am schwersten gehabt, in die Literatur Eingang zu finden. Selbst ein für neue Denkweisen so aufgeschlossener Arzt wie Sigmund Freud war hier nur zögernd zum Umdenken bereit. Er sehe seine Patienten lieber in der Sprechstunde als auf der Bühne, hat er gelegentlich bemerkt; und wenn Kurt Schneider noch 1922 in seinem Vortrag Der Dichter und die Psychopathologie die Darstellung psychotischer Gestalten in der Literatur bestreitet, so ist dies aus der Zeit heraus durchaus zu verstehen. Sein germanistischer Kollege rich Gundolf dachte in diesem Punkt nicht grundsätzlich anders: Er verdachte Kleist die Hysterien, die er in einer Tragödie wie der Penthesilea dargestellt habe – wie der marxistische Denker Georg Lukács auch, der solche Auffassungen bereitwillig übernahm und zum Literaturdogma erhob, indem er der Moderne im ganzen Dekadenz unterstellte. Daß solche Auffassungen heute kaum noch Geltung beanspruchen, ist nicht zuletzt den wissenschaftlich gebildeten Schriftstellern zu danken. Unter ihnen sind im deutschen Sprachbereich drei Ärzte vor anderen zu nennen, die in ihren Anfängen auch als Nervenärzte tätig gewesen sind, ehe sie sich mit psychiatrischen Themen in ihrem literarischen Werk befaßten: Es sind dies Arthur Schnitzler, Alfred Döblin und Gottfried Benn. Damit sind Annäherungen zwischen Gebieten in mehrfacher Weise gegeben. „Man lerne von der Psychiatrie, der einzigen Wissenschaft, die sich mit dem seelischen ganzen Menschen befaßt“, schreibt Döblin 1913 in der expressionistischen Zeitschrift Sturm; und wenigstens seit dieser Zeit ist es berechtigt, von Psychiatrie im literarischen Text zu sprechen. Ich beschränke mich hier auf erzählte Texte und auf solche medizinisch gebildeter Autoren von Büchner bis Kipphardt in erster Linie.

Aber so sehr die moderne Literatur allen Grund hat, von den Wissenschaften Kenntnis zu nehmen, von denen sie sich umgeben sieht – es kommt ihr gleichwohl nicht zu, in ihnen aufzugehen oder zu verschwinden. Sie hat ihre eigene Funktion und ihren eigenen Sinn, und ein bekanntes Wort Goethes – „Das Gedichtete behauptet sein Recht wie das Geschehene …“ – gilt für klassische wie für moderne Literatur gleichermaßen. Die Krankengeschichte in literarischer Form, von der wir behelfsweise gesprochen haben, ist in ihrer Funktion wie in ihrer Struktur etwas qualitativ völlig anderes als die ärztliche Anamnese, die sich in Krankenblättern oder Krankenberichten niederschlägt. Anamnese und Diagnose sind in der ärztlichen Praxis eng aufeinander bezogen. Im literarischen Text kommt der Diagnose eine nur untergeordnete Bedeutung zu. Aber das wird in meiner eigenen Wissenschaft nicht überall so gesehen. Das Wort Diagnose gebraucht man auffällig gern. Das hängt möglicherweise mit dem Hang zu strenger Rationalität und zu Analysen jeder Art zusammen; und daß der Literatur wie der Kunst überhaupt auch therapieartige Funktionen zukommen, gerät womöglich in Vergessenheit. Untersuchungen über Schnitzler werden mit Begriffen wie Diagnose und Dichtung bezeichnet, als hätte man es mit Synonyma zu tun. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siecle ist ein Buch (von R. P. Janz und K. Laermann) überschrieben, das sich mit demselben Schriftsteller befaßt. Kafkas Diagnose des 20. Jahrhunderts lautet der Titel eines Vortrags, der demnächst, anläßlich des Kafka-Jahres (von Wilhelm Emrich) gehalten wird. Von Diagnose der Zeit wird in einer Schrift zur Theorie des modernen Dramas (von P. Szondi) gesprochen. Hier wie andernorts versteht sich Diagnose als Gesellschaftsdiagnose. Aber kann es eine solche eigentlich geben? Folgt man den Erörterungen Wolfgang Wielands, so hat man es wenigstens mit einer begrifflichen Ungenauigkeit zu tun: „Die Diagnose hat vielmehr immer den Einzelfall, nämlich den individuellen Patienten, vor Augen“, führt er in seiner Schrift Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie aus. Nicht weniger ausgeprägt ist die Neigung zum Gebrauch bestimmter diagnostischer Begriffe, die man in der Praxis der Psychiatrie eher umgeht, als daß man sie plakativ verwendet. Literatur und Schizophrenie heißt eine Sammlung mit Aufsätzen verschiedener Autoren, die fragen läßt, weshalb man nicht das Verhältnis der Literatur zur Psychiatrie im ganzen erörtert, einschließlich der affektiven Psychosen und anderer psychischer Krankheiten, die es ja auch noch gibt. Eine in diesem Grenzgebiet angesiedelte Studie über das Werk des frühen Hofmannsthal (von G. Wunberg) trägt den in meinem Sprachverständnis unbefugten Titel Schizophrenie als dichterische Struktur. Sodann aber die literarhistorischen Diagnostiker mit dem ausgeprägten Erkenntnisinteresse, das erzählte Krankheitsgeschehen möglichst eindeutig auf den Begriff zu bringen, damit man den exakten Naturwissenschaften zeigen kann, wer man ist. Alfred Döblins Erzählung Die Ermordung einer Butterblume, 1910 erschienen, wird zum Beispielfall. Gewisse Symptome schizophrenen Charakters sind kaum zu bestreiten, und natürlich wußte Döblin, wovon er sprach. Er hatte 1905 bei Alfred Erich Hoche in Freiburg über Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose promoviert. Aber die Diagnostiker unter den Interpreten wollen es genau wissen. Man habe es mit der exakten Beschreibung einer Psychose zu tun, lesen wir im Nachwort zur Ausgabe (von Walter Muschg); und wir lesen über denselben Text (in einer alten Schrift von Leo Kreutzer): ,,Die Erzählung ,Die Ermordung einer Butterblume‘ ist also allem Anschein nach ohne direkte literarische Einübung unmittelbar aus psychiatrischer Anschauung entsprungen … Die Erzählung ist eine regelrechte Schizophrenie-Studie.“ Daß dieselbe Erzählung auch als Spießersatire aufgefaßt wird, als Satire auf einen Spießer, den andere als einen Krankheitsfall verstanden sehen wollen, sei vorerst nur am Rande vermerkt. Aber als bevorzugtes Versuchsfeld zur Ermittlung von Diagnosen im literarischen Text scheint sich das erzählerische Werk Arthur Schnitzlers immer erneut anzubieten. An dem armen Fräulein Else hat man nahezu alles ausprobiert, was an ihrem Fall auszuprobieren war: Opfer eines Ödipuskomplexes, Exhibitionismus und natürlich vor allem: Hysterie. Aber die gesellschaftskritischen Aspekte wurden über solch einseitigen Erkenntnisinteressen zumeist übersehen. Sie beruhen darin, daß die in Geldnot geratenen Eltern den Körper der eigenen Tochter verkaufen, was die psychische Verwirrung verständlich macht. Schnitzlers letzter Erzählung Flucht in die Finsternis (1931) sucht man gar mit Differentialdiagnosen beizukommen. Diese Erzählung vor anderen wird zur Fallstudie degradiert, als käme es auf den Text als literarisches Kunstwerk gar nicht mehr an. Es sind vorwiegend die an der Lehre Sigmund Freuds orientierten Literaturbetrachter, die Interpretation mit Diagnose verwechseln und das, was an solchen Texten noch immer Dichtung ist, entsprechend verfehlen. Das gibt zu denken; denn es bleibt eines der unbestreitbaren Verdienste Freuds, gegenüber dem, was man um 1900 als therapeutischen Nihilismus bezeichnete, auf Therapie gedrängt zu haben, um das vielfach einseitige Interesse an Diagnosen zu reduzieren. „Präzise Diagnosen, die ja immer nur wenige Jahre galten, bis irgend ein Kraepelin erstand, die waren jetzt ganz unwichtig geworden“, heißt es 1912 in einem Beitrag aus der Schule Freuds (von Isidor Sadger). Aber die Praxis der späteren Freud-Schüler, wenn sie Literatur betrachten, sieht anders aus, vor allem in Amerika. Dort macht man an literarischen Texten immer erneut die Krankheitsbilder fest, die man aus der Lehre Freuds bereits kennt. Personen im Text werden wie Personen in der Wirklichkeit behandelt. Literatur wird zum Demonstrationsmaterial psychoanalytischer Lehren.




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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)