Carossas ärztliche Welt

im Wandel der literarischen Moderne

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

In Carossas Buch „Das Jahr der schönen Täuschungen“ gibt es ein Kapitel, dem eine zentrale Stellung nicht nur in diesem Buch, sondern im Ganzen seines Werkes zukommt. „Leidende Welt“ ist es überschrieben. Eingeleitet wird es mit einem Bericht über den verfrühten Besuch einer Vorlesung in der Klinik für innere Krankheiten. Ein Kranker wird vorgeführt, der Phosphor zu sich genommen hat, um freiwillig aus dem Leben zu gehen. Aber auch die Erzählung vom Wiedersehen mit einem Jugendfreund, der sich der Sozialdemokratischen Partei angeschlossen hat, findet hier ihren Ort. Das vermeintlich zusammenhanglose Erzählen erweist sich rasch als eine durchdachte Komposition, in der verschiedenartige Erzählteile in eine Reflexion über das Erzählte eingehen. Die erzählten Begebenheiten gehen über in die Beschreibung der geistigen Situation am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, in der eine neue Literatur entsteht. Sie wird verstanden als Antwort auf Entwicklungen, die vorausgegangen sind: auf den einzigartigen Aufstieg der Medizin, der Naturwissenschaften und der Technik in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Dies alles und anderes wird in dieser Situationsbeschreibung in Erinnerung gerufen: ,,Ein Jahrhundert ging zu Ende, und was hatte alles in ihm Raum gefunden! Ein zittriges Männlein trippelt vorüber, während wir die schöne Ludwigstraße hinabschlendern; Leute drehen sich nach ihm um, und jemand sagt: ,Den müßt ihr euch anschauen; der hat noch den alten Goethe gesehen.‘“ Die Reihe der großen Künstler, an die erinnert wird, geht über in eine Würdigung dessen, was alles im Gebiet der Wissenschaften geschehen und geleistet worden ist: „die Erfindung des Lichtbildes, die riesige Erweiterung der Naturerkenntnis, die Umspannung der Erde mit Eisenbahnen, die Zähmung elektrischer Kräfte und deren Verwandlungen, die Gründung des Deutschen Reiches, die Stiftung der Genfer Konvention, der Aufstieg der ärztlichen Kunst und der Chemie, die Entdeckung alldurchdringender Strahlen, dieses alles gehörte mit einer Fülle anderer, ebenbürtiger Erscheinungen dem einzigen Säkulum an.“[1] Solche Errungenschaften haben die Schriftsteller des deutschen Naturalismus mit kritikloser Bewunderung kommentiert, wie etwa Julius Hart in einem Aufsatz über die moderne Lyrik. Er schreibt: „Die alte Ackerbaukultur verwandelt sich mehr und mehr in eine Industriekultur, das Land entleert sich und die Städte werden übervölkert […]. An Stelle der ehemaligen Kleinstaaterei ist ein grosser, der zur Zeit mächtigste Einheitsstaat getreten, und Berlin schiebt in kurzer Spanne Zeit seine Grenzen stundenweit hinaus. Die Poesie kann aber gar nicht anders, als solche Bewegungen mitmachen; sie treibt stets im Strome der allgemeinen Kultur-Entwickelungen.“[2]

Solche Folgerungen zieht Carossa nicht. Zutreffend erkennt er, daß der Glanz des Säkulums nicht nur eine Seite hat, sondern daß es auch eine Rückseite gibt. „Der Erdgeist aber hat zwei Angesichte“, lesen wir im Fortgang dieser rückblickenden Betrachtung, ,,und schon standen diesem glänzenden Jahrhundert seine Ankläger und Entlarver auf. Es waren keineswegs die Schwachen oder die Feigen, in denen Furcht erwachte; gerade die kühnen, adleräugigen begannen zu reden wie Kassandra. Sie sahen, wie unter den ungeheuren Ergebnissen technischen Fleißes und unter der Entfaltung der Machtdämonie die tieferen Anlagen des menschlichen Geschlechts verkümmerten“.[3] Der dies rückblickend so darstellt, hat erkannt, daß der glanzvollen Entwicklung nicht kritiklos zu folgen war und daß dennoch eine Umkehr nicht in Frage kommen konnte. Im Erkennen dieser Situation wird sich Carossa in diesem 1941 veröffentlichten Buch seines Ausgangspunktes und seiner schriftstellerischen Herkunft bewußt, seiner Zugehörigkeit zur Literatur der Moderne. Daß es eine Umkehr der Entwicklung nicht geben könne, wird ausdrücklich gesagt; doch heißt es einschränkend auch: „Die Entfernungen zwischen den Wohnstätten wurden wohl täglich geringer; aber die Seelen kamen sich nicht näher. Es war, als wiche der Himmel von den Völkern zurück; ein dunkler Geist spiegelte jedem Götterzukunft vor und streute schwarze Saat. Eine sonderbare Angst beschlich die Menschen; sie begannen einander als Zerrbilder zu sehen.“ Angesichts solcher Entwicklungen ist die Literatur aufgerufen, ihre eigenen Rechte geltend zu machen, und eben darauf zielt der folgende Satz: ,,Darum begrüßten wir dankbar jede urständige Phantasie, jeden Dichter, der mit einem eigenen Ton unsere Seele zum Beben brachte, jeden Maler, der uns neue Schatten zeigte und neues Licht“.[4] Wer so kundig und kenntnisreich die Entstehung der modernen Literatur beschreibt, kann ihr nicht fern und fremd gegenübergestanden haben. Anzunehmen ist weit mehr, daß da einer zu uns spricht, der von innen her kennt, was er beschreibt – in Kürze gesagt: der als Schriftsteller seinerseits dieser Literaturepoche zugehört, in der er vom ,Doktor Bürger‘ bis zum ,Tag des jungen Arztes‘ viereinhalb Jahrzehnte als Schriftsteller gewirkt hat. Seinen Ort innerhalb der literarischen Moderne gilt es zu bestimmen; und dabei hat man auf Unterschiede der Phasen innerhalb dieses Zeitraums zu achten, auf die zahlreichen Wandlungen der Stile und Sehweisen; denn was wir Moderne nennen, ist kein Zustand, sondern ein überaus dynamisches Geschehen. Doch versteht sich das Vorhaben einer solchen Zuordnung oder Einordnung keineswegs von selbst. Die Zugehörigkeit Carossas zur literarischen Moderne ist umstritten. Vielfach wird unter Literarhistorikern und Kritikern so getan, als habe er mit Moderne nichts zu tun; als habe er nicht hier seinen Ort, sondern in einem zeitlosen Irgendwo, in das er geflüchtet sei, um sich aller Zeitbezüge zu entledigen.




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Der Beitrag gehört zu
Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (2018)