Marie Luise Gansberg: die Erfolgreiche, die Tabubrecherin, die Traumatisierte

Biografische Annäherungen an eine Achtundsechzigerin und Pionierin der „Feministischen Literaturwissenschaft“

Von Sabine KolochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Koloch

Inhalt

Dem Vergessen überliefert oder: Wer war Marie Luise Gansberg?
1. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, mit einem Seitenblick auf Fritz Gansberg
2. 1948, das Jahr der persönlichen Katastrophe
3. Beginn des Hochschulstudiums 1954 in Göttingen, Promotion 1962 in Heidelberg
4. Wissenschaftliche Assistentin bei Friedrich Sengle und Lehrbeauftragte 1962 bis 1965 in Heidelberg
5. Fortsetzung der Assistenzzeit in München, Sonderurlaub zur Wahrnehmung eines Habilitationsstipendiums 1968 bis 1970
6. Ernennung zur Professorin in Marburg 1972, Zwangsemeritierung 1993

Dem Vergessen überliefert oder: Wer war Marie Luise Gansberg?

Die Literaturwissenschaftlerin Marie Luise Gansberg (1933‒2003) wäre im Jahr 2021 88 Jahre alt geworden. Sie war die erste Professorin am Institut für Neuere deutsche Literatur der Universität Marburg. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre gehörte sie neben Silvia Bovenschen und Renate Möhrmann zu den Begründerinnen der Forschungsrichtung Feministische Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum.

Vor ihrer Aufnahme in den Lehrkörper der Universität Marburg im Jahr 1970 trat die gebürtige Bremerin als Akteurin der 68er-Bewegung in Erscheinung: Im Wintersemester 1964/65 beteiligte sie sich an einer Diskussionsrunde des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Heidelberg und 1966 an einer Vortragsreihe des SDS in München (es referierten sieben Männer und eine Frau). Im selben Jahr wurde eine auf Interviews mit Universitätsangehörigen aus zwei Ländern beruhende Kultursendung des NDR über das Studium der Germanistik am Beispiel der „deutsche[n] Dichter als Objekt der Forschung“ ausgestrahlt, in der allein Gansberg dafür plädierte, die Studierenden „zur Kritik an den Autoritäten, also an der Sekundär-Literatur, zu erziehen“. 1967 trat sie mit der Bitte an Werner Heisenberg heran, die von ihr und Paul-Gerhard Völker entworfene „Münchener Erklärung“ zu unterschreiben. Ausgangspunkt war die „Berliner Erklärung“, mit der unter anderem das Germanische Seminar der Freien Universität auf die beispiellosen Vorgänge um den Schahbesuch in Berlin am 2. Juni 1967 und den tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg reagierte. Um die Jahreswende 1968/69 arbeitete sie in einer Vierergruppe mit, die das „Assistenten-Flugblatt Wi.-Sem. 1968/69“ ausformulierte und veröffentlichte. Mit der Flugblattaktion und ihrem 1969 gehaltenen Vortrag über populäre Vorurteile gegen materialistische Literaturwissenschaft ging sie bewusst das Wagnis ein, den Vorstand des Seminars für Deutsche Philologie II der Universität München gegen sich aufzubringen.

Wer war diese aus der Fachhistorie herausgeschriebene Nonkonformistin und Pionierin mit dem verschmitzten Lächeln? Was können wir von ihr lernen und wie würde sie den Zustand des Faches heute beurteilen?

Die vorliegende biografische Spurensuche stützt sich über weite Teile auf schriftliche und mündliche Erinnerungen von nahen Vertrauten und Bekannten der Verstorbenen, seien es Schulkameradinnen, Mitstudierende, Kollegen, Seminarteilnehmende oder Personen aus anderen Zusammenhängen.[1] In ihren eigenen Worten lebendig gemacht wird die Ausnahmeerscheinung im wissenschaftlichen Bereich auf der Basis sowohl ihrer Veröffentlichungen als auch der verfügbaren schriftlichen Mitteilungen von ihrer Hand zuzüglich des oben angedeuteten Rundfunkskriptes, das eine anschauliche Vorstellung von ihr im Interview gibt. Die Vielschichtigkeit der herangezogenen Quellen erlaubt es, die dramatischen Wendeereignisse im Leben dieser starken Persönlichkeit, die auch etwas Zerbrechlichen hatte, in den Blick zu nehmen, zusammen mit tagesaktuellen Begebenheiten, festgelegten Anforderungen, prägenden Lektüren, fachlichen Richtungsentscheidungen und den zwiespältigen Erfahrungen, die diese in Beziehung zu ihrem wichtigsten akademischen Lehrer machte: Friedrich Sengle.[2]

Abb. 1: Marie Luise Gansberg als 27-Jährige auf dem Funkturm Berlin-Charlottenburg, Foto: Eva D. Becker

1. Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, mit einem Seitenblick auf Fritz Gansberg

Die Oberschülerin Marie-Luise[3] hatte eine Klassenkameradin namens Eva Dorothea, die für den vorliegenden Beitrag von herausragender Bedeutung ist, war sie doch eine langjährige Wegbegleiterin der studierenden wie auch noch der berufstätigen Gansberg und zugleich eine begabte und leidenschaftliche Briefschreiberin. Während die Hauptperson unserer Betrachtungen am 4. Mai 1933 in der Freien Hansestadt Bremen (abgekürzt: HB) geboren wurde, kam die knapp ein Jahr jüngere Eva D. Becker in einer Stadt an der Havel zur Welt, in der die SA kurz zuvor ein Konzentrationslager errichtet hatte.[4] Dort, im KZ Oranienburg, waren im August 1933 Rundfunkmitarbeiter und SPD-Mitglieder inhaftiert worden.

Gleich am Anfang unseres Austausches schickte Becker mir eine handschriftliche Notiz, aus der faktengesättigt und detailgenau hervorgeht, dass und wie die Familien Becker und Gansberg die Schrecken des Zweiten Weltkrieges miterlebten und überlebten:

Noch was zu Bremen im Krieg: 60% der Gebäude wurden zerstört, aber es kamen „nur“ etwa 4000 Menschen um, dank der früh errichteten Hochbunker. Sie waren praktisch unzerstörbar, anders als die Tiefbunker (Todesfallen). Nach dem großen Bombenangriff von 1942 wurden alle Bremer Schulkinder evakuiert, privat oder mit den Klassen und Lehrer/innen.[5] In Bremen fing die Schule behelfsmäßig für uns Ende 1945 wieder an.
Der Krieg endete (da waren wir dann auch in HB) am 27.4.1945. Schon im Mai 1945 übernahmen die Amerikaner die Besatzung in Bremen, im Tausch gegen Hamburg, eingenommen von den Briten. Offiziell wurde das erst am 1.1.1947. Die Soldaten beschenkten Kinder; an einigen Häusern stand „Off Limits“[6]. Dies wird Marie Luise auch erlebt haben, sie war wohl von vornherein in meiner Klasse.[7]

Abb. 2: Bremer Weststadt, Aufnahme im März 1946, Weser-Kurier Bremen, Foto: Karl Stockhaus

Gansbergs Lebenslauf im Fakultätsexemplar ihrer Dissertation wartet mit drei kreativen bis illegitimen Regelverstößen auf. Zum einen trennte die Kandidatin ihren amtlich verbürgten zweiteiligen Vornamen „Marie-Luise“ in zwei Vornamen auf. Die Schreibung ohne Bindestrich erschien ihr wohl moderner. Zum andern machte sie sich zwei Jahre jünger als sie war. Ein Mitarbeiter der elektronischen Ressource The World Who‘s Who or Europa Biographical Reference konnte mir bestätigten, dass dergleichen Falschangaben, also um wenige Jahre verschobene Geburtsjahre, keine Seltenheit darstellen. Darüber hinaus verwendete die Lebenslaufschreiberin die elterlichen Rufnamen „Hans“ und „Friedel“, amtlich abgesegnet wären die Namensformen „Johannes“ und „Frieda“ gewesen:

Ich, Marie Luise Gansberg, wurde am 4. Mai 1935 in Bremen als Tochter des Kaufmanns Hans Gansberg und seiner Ehefrau Friedel, geborene Bierdemann geboren.
Nach den Grundschuljahren besuchte ich acht Jahre lang die Oberschule für Mädchen an der Karlstraße in Bremen, wo ich im Februar 1953 die Reifeprüfung ablegte. Anschließend folgte eine einjährige Handelsschulausbildung, gleichfalls in Bremen.[8]

Auf der Meldekarte von Johannes Friedrich Gansberg (1900‒1968)[9] und seiner Frau im Staatsarchiv Bremen ist minutiös vermerkt worden, von wann bis wann das Ehepaar Gansberg und später die aus drei Personen bestehende Familie in welcher Straße der Stadt Bremen zur Miete lebte. Noch ohne Nachwuchs wohnten die Eheleute Osterdeich 199, mit der Tochter in der Manteuffelstraße 29 im feinen Stadtteil Östliche Vorstadt, danach, ab 1935, in der nahe gelegenen Graf-Moltke-Straße 7.

Das Wohnviertel, in dem die kleine Familie die Kriegsjahre 1939 bis 1945 überstand, blieb von den alliierten Luftangriffen weitgehend verschont.

Marie-Luise war die Großnichte[10] des Reformpädagogen Fritz Gansberg (1871‒1950).[11] Dieser war seit 1936 Ruheständler und wohnte in der Zeit von 1. Juli 1941 bis 1943 in der Graf-Moltke-Straße 7 und damit im gleichen Haus wie sein Neffe Johannes Gansberg mit seiner Familie. Am 19. Dezember 1949, also wenige Wochen vor seinem Tod, zog es den alten Herrn an eben diesen Hort verwandtschaftlichen Zusammenhalts zurück.[12] In der Frage, ob Fritz Gansberg einen Einfluss auf seine kindlich verträumte Großnichte Marie-Luise ausgeübt haben könnte, sind Eva D. Becker und ich geteilter Meinung. Becker glaubt nicht an irgendeine Form von Einwirkung:

Noch mal zu Fritz Gansberg: auch wenn ihm der düstere Klinkerbau in der Graf-Moltke-Straße gehörte[13] und er erst 1950 starb, kann ich mir keinen Einfluß von ihm auf Marie-Luise G. vorstellen. Er war allerdings wohl der einzige Intellektuelle in der Familie, aber eben ein Schulmann, und mit der Schule hatte es G. nun mal gar nicht.[14] Zitat aus einem Gedicht zu unserem Abitur (von einem Referendar):
„R. Ubbelohde entledigt sich dann immer ihrer Mappe, reißt von dem Kopf die schöne blaue Kappe ‒ das alles scheint selbst Frl. Gansberg als Manie, sie schrickt kurz auf und fällt bald wieder in die alte Lethargie.“ (Wobei sie sicher mit anderen Dingen beschäftigt war.) Auch an ein Studium hatte sie gar nicht gedacht, ehe ich sie bei einer zufälligen Begegnung dazu überredete. Vaterorientiert, ging sie erstmal zur Handelsschule, das fand ich seltsam.[15]

Für mich ist eine mehr unbewusste als bewusste Prägung sehr wohl denkbar. Im Jahr der Reichsgründung 1871 geboren, machte der im Berufsleben stehende Fritz Gansberg aus seinem demokratischen Standpunkt nie einen Hehl. Als Volksschullehrer, zu dem er sich berufen fühlte, hatte er in jener Zeit alle Fächer zu unterrichten. Er und sein Freund Heinrich Scharrelmann (1871‒1940) vertraten eine „erlebnis- und heimatbetonte ‚Pädagogik vom Kinde aus‘“.[16] In Zusammenarbeit mit Wilhelm Holzmeier und Emil Sonnemann redigierten die beiden Freunde von 1905 bis 1908 die in Hamburg verlegte Zeitschrift Roland. Monatsschrift für freiheitliche Erziehung in Haus und SchuleHerausgegeben von einer Vereinigung bremischer Lehrer, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 eingestellt werden musste. Herzensangelegenheiten waren für Fritz Gansberg ein Klassenzimmer mit Wohnzimmeratmosphäre, die Aneignung der Sprache und der Sachunterricht (Vorstufen der Naturwissenschaften).[17] Vor dem Krieg waren seine Reformideen in Bremen rege diskutiert worden.[18] Folgt man Hinrich Wulff, Leiter der Pädagogischen Hochschule Bremen von 1950 bis 1960, so war dessen pädagogische Wirkung weitreichend: „Durch seine Fibel Bei uns zu Haus, eine Fibel für kleine Stadtleute (1905) hat G. die moderne Fibelliteratur eingeleitet. Die Titel seiner zahlreichen Bücher veranschaulichen seine schulreformerischen Ideen, die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts einen starken Widerhall in der Schulwelt des deutschsprachigen Europa erfahren haben“.[19] Ein mit handschriftlicher Widmung versehenes Exemplar des illustrierten Lesebuches Bei uns zu Haus ließ Fritz Gansberg Rainer Maria Rilke zukommen, der sich mit den Worten bedankte, er und seine Frau hätten die wunderschöne Fibel tagelang gelesen; sie sei ihm so lieb, dass sie zu den wenigen Büchern gehöre, die er überall hin mitnehme.[20]

Wenn ich mir Fritz Gansbergs Sprachkompetenz, seine Liebe zur Literatur sowie sein lebenslanges engagiertes Eintreten für Demokratie, Minderheitenrechte ‒ in seinem Fall für die Rechte von ärmeren Kindern ‒ und Reformen im Bildungsbereich vergegenwärtige und diese seine hervorstechenden Eigenschaften mit denen seiner Großnichte Marie-Luise und deren mutigem „Flagge zeigen“ über 1968 hinaus vergleiche, dann scheint mir, dass sich die These, dieser habe auf jene eingewirkt, nicht ganz von der Hand weisen lässt.

2. 1948, das Jahr der persönlichen Katastrophe

Frieda Emilie Gansberg wurde am 23. November 1897 in die Familie Bierdemann in Bremerhaven hineingeboren und hatte eine Zwillingsschwester, Erna, die 1975 starb. Auf der Meldekarte des Ehepaares Gansberg muss der Eintrag „Vom 18.5.48 ‒ 17.6.48 i. d Nervenklinik“ unterhalb des Namens der Ehefrau aufhorchen lassen.[21] In der Zeile darunter das Sterbedatum: „Gestorben am 6.7.48 in Bremen“. Zur Todesursache werden keine Angaben gemacht. Den Tatsachen entspricht: Frieda Gansberg beging Selbstmord.[22] Sie war zum damaligen Zeitpunkt fünfzig Jahre alt. Eva D. Becker kann zur Krankengeschichte der Suizidentin einige aufschlussreiche Informationen beisteuern:

Über den Selbstmord ihrer Mutter, als sie 15 war, hat sie nie gesprochen. Darin lag wohl die Wurzel ihres Unglücks. Einmal, nach dem Tod von Regine Hildebrand[23] 2001, schrieb sie, diese habe sie an ihre Mutter erinnert, die 1948 gestorben sei. Später hörte ich, daß die Mutter depressiv war, bei Besuchen teilnahmslos. Sie gehörte wohl der Sekte „Christian Science“ an und las viel in der Bibel.[24]

Die hinterlassende Tochter war durch das Schockerlebnis mit Sicherheit traumatisiert.[25] Nicht etwa unmittelbar nach dem jähen Verlust, sondern erst während des Studiums wurde Gerda Becker, die Mutter von Eva D. Becker, für Gansberg zu einer wichtigen Bezugsperson. Der Kontakt zwischen den zwei Frauen riss bis zum Tod der mütterlichen Vertrauensperson ‒ die Jüngere überlebte die Ältere um nur zehn Monate ‒ nie ab:

Die Freundschaft mit meiner Mutter […] hielt an bis zu einer letzten Karte vom April 2002 (meine Mutter starb im Mai, worauf M.-L. nicht reagierte). Marie Luise war öfter Weihnachten bei uns, zuletzt 1976. Ihr fehlte die Nähe eines Menschen, die sie dann doch wieder mied. Eine Wohngruppe wäre ihr lieb gewesen, sie schätzte auch die therapeutischen Gruppen in der Gießener Psychiatrie.[26]

Gerda Becker war eine Vollblutpädagogin, deren Engagement im Alter nicht nachließ.[27] Bis 1971 leitete sie das von ihr 1948 gegründete heilpädagogische Kinderheim in der alten Schwachhauser Villa Metzerstraße 30, welches Platz für dreißig Kinder bot. Die Psychotherapeuten der ebenfalls in der Metzerstraße 30 untergebrachten Erziehungsberatungsstelle hielten engen Kontakt zum Kinderheim. Das heißt Psychotherapie war für Gerda Becker kein Fremdwort und für Gansberg insbesondere dann, wenn sie Höhe-, Tief- und Wendepunkte durchlief, vielleicht ein Grund mehr, sich bei dieser großherzigen Frau bis zu einem gewissen Grade aufgehoben zu fühlen.

Wie die Mitschülerinnen das Drama im Hause Gansberg aufnahmen, beschreibt Marie-Luises beste Schulfreundin Renate Ubbelohde:

Dass diese coolness, warum auch immer, gewährt wurde, habe ich doch auch gelegentlich als befremdend empfunden. Am stärksten, als ich hörte, dass ML ihre Mutter als ca. 13-14jährige verloren hatte. Ich sehe sie noch heute, wie sie in die Klasse kam, sich voller Verlegenheit durch die Bankreihen wand, sich ihr die Hände entgegenstreckten und auch ich, die sogenannte beste Freundin, hatte nicht mehr auf Lager! Nur keine Gefühle zeigen! Warum? Ihre Mutter habe ich wenig gekannt, eine Frau, die mit ihrer Sekte stark beschäftigt war, zurückgezogen, mir rätselhaft. Wir haben nie darüber geredet. Ihr Vater, von ihr „Töne“ genannt, war ein ganz lieber, ihr sehr ähnlicher kleiner Mann, still, humorvoll, verwöhnte seine Tochter. Er heiratete bald wieder, ML bekam eine große, schöne, fast erwachsene Schwester, die auch bald berufstätig wurde und die MLGs Idol war.
Ihr Vater handelte mit „Honig und Heringen“, ein nicht zu unterschätzendes Handelsgut in der Fresswelleära. ML konnte in diesen Schuljahren ohne materielle Sorgen leben und ihren Neigungen ohne Probleme nachgehen. Sie hatte nette Kleider, schicke Sonnenbrillen, schminkte sich früher als andere, hübsch sah sie aus. Fips wurde sie genannt, das klingt ja sehr lustig. Sie besaß ein eigenes Radio, Plattenspieler und viele Platten. Ihre Vorliebe war Jazz. Amerika war ihr Ideal.[28]

Johannes Gansberg heiratete am 8. Oktober 1949 ein zweites Mal, und zwar Lilly Rathjen, geboren als Burchard am 20. April 1907 in Riga. Mit sechszehn Jahren erhielt Marie Luise Gansberg somit nicht nur eine Stiefmutter, sondern auch eine zwei Jahre ältere Stiefschwester, Grace Rathjen.[29]

4. Beginn des Hochschulstudiums 1954 in Göttingen, Promotion 1962 in Heidelberg

Gemeinsam mit Renate Ubbelohde besuchte Gansberg nach dem Abitur die Bremer Handelsschule.[30] Als Eva D. Becker letztere in jenen Tagen wiedersah, appellierte sie an sie, doch zu studieren, natürlich Literaturwissenschaft. Des Weiteren führt Becker aus: „Sie begann damit in Göttingen 1954 ‒ im Gegensatz zu mir hatte sie genug Geld (und lieh mir oft welches, bis 1969!). Zum WS 1954/55 kam sie nach Marburg, wo ich schon ein Semester war“.[31] Von der Anziehungskraft, die Friedrich Sengle auf die zwei Studentinnen ausübte, zeugen deren Dissertationslebensläufe. Nachstehend die restlichen Zeilen des Lebenslaufs von Gansberg:

Im Sommersemester 1954 begann ich an der Universität Göttingen das Studium der Germanistik, Anglistik und der Sozialwissenschaften. An Göttingen schloß sich der Besuch der Universitäten Marburg, Hamburg und Heidelberg .[32]
Ich nahm teil an den Vorlesungen und Seminaren der Herren Professoren Beck, Kayser, Klein, Pyritz, L.E. Schmitt, Sengle, Wapnewski, Wolffheim, Ziegler (Germanistik); Kleinstück, Oppel, Sehrt (Anglistik); Abendroth, Friedrich, Jantke, Schelsky, Sternberger (politische Wissenschaft und Soziologie).
Ihnen allen bin ich dankbar verpflichtet. Vor allem gilt mein Dank jedoch Herrn Professor Friedrich Sengle, dem ich im wesentlichen meine wissenschaftliche Erziehung verdanke, der diese Dissertation auch anregte und ihr Entstehen mit stetig fördernder Teilnahme begleitete.

Ihre Dissertation Der Prosa-Wortschatz des deutschen Realismus. Unter besonderer Berücksichtigung des vorausgehenden Sprachwandels 1835–1855 widmete die frisch Promovierte ihrem Vater („MEINEM VATER“).[33] Das Literaturverzeichnis enthält vier Schriften ihres Doktorvaters: Voraussetzungen und Erscheinungsformen der deutschen Restaurationsliteratur[34], Mörike Probleme. Auseinandersetzung mit der neuesten Mörike-Literatur (1945‒50)[35], Zum Wandel des Gotthelf-Bildes,[36] Der Romanbegriff in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts[37]. Die Inhaltsübersicht auf den Seiten VII-VIII erschließt eine in vier Kapitel untergliederte Arbeit:

INHALT

Einleitung   IX

Kapitel   I

Abbau der übertreibenden Stiltendenz   1

                 Vorbemerkungen   1

                 1.) Extrem-Wortschatz   5

                 2.) empfindsam-enthusiastischer Wortschatz   32

                 3. gebildet-geistreicher Wortschatz   59

Kapitel   II

Streben zum sachlich-konkreten Wort und zur Detailschärfe   73

                 1.) Zuwachs an sachlich-konkretem Wortmaterial   73

                             a) Allgemeines   73

                             b) Fachwortschatz   79

                             c) Dialekt-Verwendung   95

                 2.) Zuwachs an Detailschärfe   109

Kapitel   III

Die Verklärungstendenz   125

                             Gottfried Keller   131

                             Theodor Storm   146

                             Wilhelm Raabe  156

                             Gustav Freytag   163

                             Hermann Kurz   169

                             Berthold Auerbach   179

                             Paul Heyse   181

                             Melchior Meyr   183

                             Otto Ludwig   187

                             Friedrich Spielhagen   190

                             Adalbert Stifter   192

Kapitel   IV

Einige Kernwörter der Realismus-Prosa    197

„Sonne“    201

„Lachen“   218

„Arbeit“   231

„Gesund“   243

„Kraft“   252

„Poetisch“   257

Ausblick   266

Zusammenfassung   267

Anhang

Fassungsvergleiche (Exkurs zu Kapitel   I)   276

                             Eduard Mörike   276

                             Adalbert Stifter   281

                             Hermann Kurz   290

                             Theodor Storm   293

Literaturverzeichnis   303

Die Seiten XVII-XIX der Einleitung[38] sind den methodischen Präferenzen der Untersuchung gewidmet. Zum Ausgangspunkt wird der Stand der Stilforschung genommen: „Wie sehr sich die Stilforschung gegenwärtig noch im Experimentierstadium befindet, zeigt sich am deutlichsten in der weitgehend unerprobten Methodik, im Fehlen bzw. in der Einseitigkeit und Schwerfälligkeit der Analysierpraktiken“.[39] Als Beispiel dient Gansberg die „Stilmonographienkette“, mit anderen Worten „die genaue Analyse jedes einzelnen Individualstils“.[40] Vertreter dieser Methode, so Gansberg, reihten nur die verschiedenen Individualstile aneinander. Das Epochal-Gemeinsame, das Dominanz-Phänomen, gerate über der Zerstückelung aus dem Blick. Um von einem so komplex-komplizierten, höchst mannigfaltigen, quecksilbrigen Gegenstand wie einem Epochenstil wesentliche Züge erfassen zu können, sei eine große methodische Beweglichkeit und Vielfalt unerlässlich. Das Modell der Zukunft sah die Autorin darin, verschiedene Methoden zu kombinieren: „Diese Arbeit beschränkt sich daher nicht auf eine Methode, sondern sucht Wesen und Wandel des Prosawortschatzes zwischen 1835-55 mittels statistischer Überblickstafeln, systematischer Darstellungen, Fassungen-Vergleiche, Repräsentativ-Interpretationen und Stilmonographien-Ketten anschaulich und wissenschaftlich beweisbar zu machen.“[41]

Beim Durchsehen der Fußnoten zur Einleitung fielen mir Akzentuierungen, Namen und Literaturangaben ins Auge, in denen sich Forschungsarbeiten ankündigen, die Gansberg in den folgenden Jahren realisieren konnte. Im Kontext der Deutschen Revolution 1848/49 wird in Fußnote 12 der Soziologe und Volkswirt Werner Sombart zitiert[42] und in der anschließenden Fußnote Ernst Kohn-Bramsted als Literatursoziologe kenntlich gemacht. Gleich danach richtet sich der Fokus auf den Philosophen, Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker Georg Lukács: „Als vorwiegend negative Phase wird die Zeit nach 1848 von der marxistischen Literaturwissenschaft beurteilt. So etwa Lukács: ‚Der Zusammenbruch der Revolution von 1848/49 bedeutet für Deutschland nicht nur den Zusammenbruch der klassischen Überlieferungen in Philosophie und Literatur, sondern zugleich das Absterben jener gesunden Keime einer neuen Blüte, die sich in der Vorbereitungszeit der Revolution, trotz ihrer damaligen Problematik, auf allen Gebieten gezeigt hat.‘ (Keller-Essay, 1939). In: Georg Lukács, Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Bern 1951, S. 150 f.“. In Fußnote 18 folgen weitere Buchveröffentlichungen Lukács‘[43] und Fußnote 22 dient der Erläuterung: „Ich folge mit der im Unterschied zu ‚Materialismus‘ noch kaum pejorativ verwendeten Bezeichnung ‚Immanentismus‘ dem Sprachgebrauch meines Lehrers Friedrich Sengle.“ Der Inhalt von Fußnote 15 ist im Hinblick auf Gansbergs Jean-Paul-Aufsatz aus dem Jahr 1968 nennenswert: „Berthold Emrich, Jean Pauls Wirkung im Biedermeier. Masch.-Diss. Tübingen 1949.“ Vom Interesse an der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zeugt allein das Literaturverzeichnis der Dissertation: „Benjamin, Walter: Schriften. Hrsg. v. Th. W. Adorno, 2 Bde, Frankfurt/M. 1955.“

Eva D. Becker erzielte mit ihrer Dissertation zum deutschen Roman um 1780 einen respektablen Erfolg ‒ die Zahl der Rezensionen belief sich auf circa zwanzig ‒, wobei eine Rolle gespielt haben dürfte, dass die Arbeit in der Reihe „Germanistische Abhandlungen“ des J. B. Metzler Verlages erschienen war.[44] Aber auch Gansbergs Prosa-Wortschatz brachte den Namen der Verfasserin zum Leuchten, nicht nur, weil ihr Doktorvater ihr (nicht ganz freiwillig) eine Assistenzstelle anbot, sondern auch, weil die Untersuchung 1964 in die angesehene Reihe „Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft“ des Bouvier Verlages Bonn[45] aufgenommen wurde und bereits 1966 eine unveränderte zweite Auflage erfuhr.[46]

In dem von Sengle erstellten Verzeichnis der von ihm betreuten Dissertationen, abgedruckt in seiner kulturgeschichtlich weit ausgreifenden dreibändigen Epochendarstellung Biedermeierzeit (1971‒1980), folgen die Namen Becker und Gansberg hintereinander.[47] Die Liste registriert für den Zeitraum 1952 bis 1979 48 Promotionsvorhaben, davon 45 abgeschlossene. Wichtig erscheint mir im Kontext der Sengle-Schule der Hinweis, dass zwei der vier rebellischen Köpfe, welche die einleitend erwähnte Flugblattaktion realisierten und damit Geschichte schrieben, Eingang in Sengles Dissertationsverzeichnis fanden, neben Gansberg war auch der Sengle-Schüler Werner Weiland Subjekt und Objekt der brisanten Unternehmung.[48] Wie Gansberg, so zog auch Weiland seinem „verehrten Lehrer“[49] 1959 nach Heidelberg und 1965 nach München nach.

Die Jahre des Studierens in Marburg und des Promovierens in Heidelberg beschreibt Eva D. Becker als die wohl glücklichsten im Leben Gansbergs. Ins Detail gehende Ausführungen zu dieser Lebensphase enthält deren autobiografisch angehauchter Nachruf auf Gansberg. Weitere Einzelheiten vermittelt ein an mich adressierter Brief Beckers vom 30. August 2017, den ich vollständig wiedergebe:

                                                                                                                 30.8.2017

Liebe Frau Koloch,

Dies soll erstmal meine letzte Mitteilung sein, ich mag mich auf Dauer nicht mit den alten Geschichten befassen, am wenigsten, wenn sie so betrüblich sind wie M.-L. Gansbergs Geschichte. Umso besser, daß Sie ihre Verdienste posthum würdigen.
Nur noch dies also: G. hatte einen bewundernswerten scharfen Intellekt, sie dachte deduktiv, ging von Thesen aus, nicht vom Material. Sengles Theorie vom Dualismus, der die deutsche Literatur vom Barock bis zum Realismus des 19. Jh.s geprägt habe, paßte zu ihr. In ihrer Dissertation belegte sie die sprachlichen Übergänge in der Literatur um 1848 (noch ganz ohne Sprachwissenschaft, die P. von Polenz[50] gerade erst in Marburg begründete).
Ich lege noch einen studentischen Kabarett-Text von 1958 bei[51], auch ein paar Sätze über Blochmann[52]. Nein, wir suchten damals keine weiblichen Vorbilder und die beiden Marburger Professorinnen (Dame und Original)[53] taugten auch nicht dazu. Man muß bedenken, daß wir im Krieg und danach kaum Männer erlebt haben und in ein Mädchengymnasium gingen. M.-L. Gansberg hatte zwar einen Vater, an dem sie wohl hing, der mir aber ‒ bei ein oder zwei Begegnungen ‒ schwach vorkam. Männer mußten her, von Sengle bis Völker[54] oder Marx. Die Frauen-Orientierung kam für sie erst in Marburg Anfang der 70er Jahre, für mich erst in den 80ern mit den Saarbrücker Kämpfen[55].
In einem Brief von Freia Meyer[56] von 2004 fand ich den Hinweis, daß Madeleine Marti[57] in der Festschrift für Luise Pusch zum 60. Geburtstag (Centaurus) einen Beitrag publiziert hat, den sie M.-L. G. gewidmet hat.[58] Wovon er aber handelt, weiß ich nicht.
So, das war’s und soll erstmal genügen. Weiterhin viel Erfolg mit Ihrer Arbeit!
                                                     Eva D. Becker

Die Gansberg-Schülerin Madeleine Marti vermutet wohl nicht zu Unrecht, dass die intensive geistige Nähe, die Gansberg in der Promotionszeit zu Sengle aufbaute, diesen für sie auch emotional zu einer sehr wichtigen Person werden ließ.

4. Wissenschaftliche Assistentin bei Friedrich Sengle und Lehrbeauftragte 1962 bis 1965 in Heidelberg

Für den 1961 zum Doktorandenkolloquium von Sengle zugelassenen gebürtigen Neuseeländer Roger Paulin steht fest, dass Gansberg die interessanteste und intellektuell begabteste von Sengles Schülern und Schülerinnen war.[59] Am 26. Juni 1962 legte die 29-jährige die mündlichen Prüfungen ab.[60] Schon im Monat davor hatte Sengle ihr eine wissenschaftliche Assistentenstelle (Beamtin auf Widerruf)[61] angeboten ‒ die Freude hierüber war groß: „Liebe Eva, Du wirst in den nächsten Sekunden entweder ‚ach‘ oder ‚diese Gansberg‘ ausrufen, denn es hat sich das Unwahrscheinliche begeben, daß Herr Sengle mir heute Windfuhrs Nachfolge angeboten hat! Resp. die Stelle, nicht etwa die Habilitation. […] Ab WS dann ein Proseminar, im Juli wohl noch ein Lektürekurs. Mit Erholen ist nicht viel! Vor allem wird es wohl zunächst Verwaltungsarbeit geben. Mir ist völlig klar, daß S. mich lieber nicht genommen hätte (da Dame!), aber zZ ist buchstäblich niemand sonst da, er steckt sozusagen im Zwang der Umstände.“[62] Ihr erstes Seminar betitelte sie „Einführung in die Erzählprosa um 1800“. Unter den weiteren von ihr angebotenen Lehrveranstaltungen entsprachen einige der Richtlinie, Grundkenntnisse in Bücherkunde, Methodik und Textinterpretation zu vermitteln. Am 14. Mai 1964 stellte Sengle einen Antrag auf Verlängerung:

Der Unterzeichnete stellt den Antrag, die Assistentenstelle von Fräulein Dr. Gansberg um ein weiteres Jahr zu verlängern.
Fräulein Dr. Gansberg hat sich im Proseminar und als Mitarbeiterin bei meinen Seminaren bewährt. Dies ist bei den Vorurteilen, mit denen Frauen im Universitätslehrkörper bei uns zu rechnen haben, nicht selbstverständlich.
Diese Assistentin hat sich auch als selbständige Forscherin betätigt. Ein Aufsatz über Hebbels Sprache liegt gedruckt vor. Gegenwärtig betreibt sie Studien über Heinrich Mann.
Sie gehört zu denjenigen meiner Schüler, die für eine Habilitation in Frage kommen. Entscheiden möchte ich über die Zulassung oder Ablehnung als Habilitandin erst dann, wenn Rezensionen über ihre Dissertation vorliegen. Auch befreundete Kollegen pflege ich vor einer solchen Entscheidung zu hören. Die Dissertation von Fräulein Dr. Gansberg beschreitet in der Sache und Methode neue Wege; sie ist im Druck und wird voraussichtlich im Herbst erscheinen.
                                                     F. Sengle[63]

Wie der erwähnte Hebbel-Aufsatz[64] zustande kam, erzählte Gansberg ihrer Vertrauten Becker brühwarm am 15. Mai 1962. Sie müsse bis Februar einen zwanzig Druckseiten starken Aufsatz über Hebbels Sprache schreiben, der im Hebbeljahr (150. Geburtstag im Jahr 1963) in einem Sammelwerk von Hebbel-Aufsätzen bei Kohlhammer erscheinen solle. Dazu aufgefordert habe sie Fritz Martinis Assistent Helmut Kreuzer, der die „Bescherung“ herausgeben werde. Sie befinde sich, teilte Sengle ihr am gleichen Tag mit, in erlauchter Gesellschaft, wobei er durchblicken ließ, sie an Kreuzer empfohlen zu haben. Der Bericht endet mit dem Seufzer: „Wenn das man gut geht. Von Hebbel weiß ich fast nichts.“[65]

Da Gansberg kein Staatsexamen machte und daher Philosophie nicht zu studieren brauchte, hatte sie nach der Promotion in dieser Hinsicht großen Nachholbedarf. Sie las intensiv Hegel, dann Habermas.[66] Aber auch Kant und Marx: „Ich habe die 2. Kant-Kritik nun auch fast durch, fehlt noch die Kritik der Urteilskraft. In Berlin werde ich Hegels Rechts-Philosophie lesen. Dann Marx. Nun hat es mich.“[67] Der entscheidende Schritt zur eigenen Politisierung war getan, wobei die Lektüre von politischer Philosophie stark dazu beitrug. Der alte Philosophiebegriff, schrieb sie Eva D. Becker am 26. Oktober 1964, sei hinfällig geworden, wie natürlich schon bei Marx. Philosophie werde Kritik. Horkheimer, Adorno und Habermas, alle drei würden in Frankfurt Philosophie und Soziologie lehren (Habermas folgte 1964 Max Horkheimer auf dessen Lehrstuhl nach). Ein Zitat aus der Löwith-Kritik von Habermas sollte Briefempfängerin Becker die von ihm eingeforderte Neubestimmung der Philosophie anschaulich machen: „…daß sich Philosophie den praktischen Aufgaben der objektiven Folgen einer gesellschaftlich effektiv gewordenen verwissenschaftlichten Technik stellen oder als Philosophie sich verabschieden muß (S. 369).“[68] Im Anschluss holte Gansberg weit aus, um schließlich den Bogen zu ihrer Dissertation zu schlagen:

Dies nicht-mehr-Philosophie-sein, bzw. mehr als sie haben sie mit der anderen heute wohl wichtigsten Strömung der Gegenwartsphilosophie gemein, in die ich gerade etwas hineingelesen habe: der sog. analytischen Philosophie, dem logistischen Positivismus, die sich am liebsten Grundlagenforschung nennen (Stegmüller). Es sind die Erben des Wiener Kreises um Carnap und Wittgenstein, die wichtigsten Leute sitzen heute in Amerika, auf unseren Hochschulen vor allem vertreten durch den Münchner Ordinarius Stegmüller […]. Hier waltet nun, im Gegensatz zu unseren Hegelianern, ein radikaler Erkenntniszweifel, man erkennt nur noch mathematische Formeln als wahr und beweisbar an (am extremsten in Wittgensteins Tractatus), immerhin auch hier engste Berührung mit den empirischen Wissenschaften, sie wollen theoretische Grundlagen für diese Einzelwiss. feststellen. Habermas setzt sich oft mit ihnen auseinander.
Diese Lektüren haben mich aus meinem liberalen Schlendrian gerissen, ich sehe nun so ziemlich alles anders als früher. Einstweilen hat es vor allem Konsequenzen für meine Arbeit, das Verhältnis Sein-Bewußtsein muß ich in einer anderen Weise ernstnehmen, will sagen, die gesellschaftlich-politischen Grundlagen (meine Diss. ist in dieser Beziehung ein gänzlich naives Buch).[69]

Im Wintersemester 1964/65 hielt Gansberg ein Seminar über Dekadenzliteratur. „Das Seminar macht Spaß, ich glaube auch den Studenten“, ließ sie ihre Weggefährtin Becker wissen, der sie auch die Seminargröße und ein die Sonderstellung von (marxistisch orientierten) Frauen im Wissenschaftsbetrieb augenfällig machendes Detail übermittelte: „Es sind zwar immer nur 50, aber manchmal werden ‚Gäste‘ mitgebracht, die mich ‚studieren‘.“[70] Brieflich beantwortete sie Becker die Frage, wie sie Dekadenz abgrenze. Diese, schrieb sie, sei neben Neoromantik und Neoklassizismus eine der Hauptströmungen in der Literatur des Zweiten Kaiserreichs (Wilhelm II.). Hier seien die stärksten Leistungen (Gebrüder Mann, Rilke, der frühe George, Hofmannsthal usw.) entstanden. Die Strömung umfasse aber auch große Teile des sogenannten Expressionismus, die Verfallspoesie der Heym, Trakl usw. Das Problem der deutschen Dekadenzliteratur charakterisierte sie dahingehend:

Ich sehe die Dekadenz ähnlich wie Empfindsamkeit und Romantik ‒ die großen irrationalen europäischen Bewegungen ‒ die sich nur bei uns, aus Mangel an einer starken Aufklärungstradition, verheerend auswirken und die rationalen Elemente überspülen. Darum hat der deutsche Naturalismus, der bei anderen gesellschaftlich-politischen Verhältnissen auf der Basis des Realismus der 50er Jahre hätte aufbauen können und zu ähnlichen Leistungen wie in Frankreich hätte führen können, bei uns keine Chance gehabt, er schlug praktisch bereits in genau dem Moment, wo er sich theoretisch konstituierte und Hauptmanns 1. Stücke erschienen (1889) wieder um in Dekadenz, Ästhetizismus, usw. Über den verderblichen Einfluß Nietzsches, den die Jugend für den progressiven Revolutionär nahm, obgleich er vornehmlich die Macht der Reaktion verkörperte, hat Lukács wichtiges gesagt.[71]

Ebenfalls im Wintersemester 1964/65 standen Diskussionen mit Mitgliedern des Heidelberger SDS sowie Vorträge bekannter Wissenschaftler und Praktiker auf ihrem Programm. Im Rahmen der Diskussionsrunde des SDS, zu der man sie gebeten hatte, wurden Georg Lukács’ Aufsätze zu Thomas Mann diskutiert. Sie wolle sich mit einem Vortrag zum Thema „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“[72] revanchieren, teilte sie Becker mit. Man lerne allerhand dabei.[73] Offenbar spreche sich ihre politische Richtung herum und überall fänden sich Leute, die „etwas machen wollen“; nur wolle eben jeder etwas anderes. Sie berichtete von einem SDS-Bildungsprojekt, geleitet von einem Doktoranden des Heidelberger Romanisten Erich Köhler, der im zweiten Hauptfach Germanistik studiert hatte,[74] und sie ließ ihre Freundin wissen: „Diese Woche sind allerhand Vorträge, morgen Mitscherlich[75] über Tabu, Ressentiment etc., eingeladen von der eben gegründeten Humanistischen Studenten Union“.[76] Die HSU sei eine akademische Gruppe der Szesny’schen Vereinigung und bereits vom SDS unterwandert. Mittwoch spreche Jens[77] um 17 Uhr und Holthusen[78] um 20 Uhr. Im Februar komme auch noch Konrad Lorenz[79].[80] Ihr Missmut nach den Vortragsveranstaltungen war groß: „Die Vorträge waren alle kalter Kaffee, vorerst höre ich mir keinen mehr an“. Jens sei dünn gewesen, er proklamiere in der Gruppe 47 einen neuen „Klassizismus“. Mitscherlich hätte hinlänglich Bekanntes referiert und über Holthusen habe sie sich geradezu aufgeregt und ihn ausgezischt. Kritische Töne auch gegenüber Friedrich Sengle: „Hatte hinterher mit Sengle eine lebhafte Unterhaltung, der merkt ja allmählich offenbar auch nicht mehr alles oder tut zumindest so. Meinen ideologiekritisch geschulten Ohren dagegen entging wenig“.[81]

In ihren Heidelberger Jahren klagte Gansberg gegenüber ihrer Vertrauensperson Becker über Schlaflosigkeit. Die süchtig machende Wirkung des Schlaf- und Beruhigungsmittels aus der Gruppe der Barbiturate, das ihr verschrieben wurde, steht außer Frage.[82]

Sengle folgte zum Wintersemester 1965/66 einem Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, zu jener Zeit die größte Universität im Bundesgebiet. Seine Heidelberger Assistentin nahm er mit. Noch in Heidelberg sprach diese Sengle auf die Habilitationsschrift an. Beinahe verwundert habe er bloß gesagt, er würde nicht glauben, dass sie mit der Münchener Fakultät Schwierigkeiten bekäme; Walter Müller-Seidel[83] sei ja etwas befremdlich (Böckmann-Schüler), aber Historiker, und Hugo Kuhn[84], das wäre sowieso klar.[85]

Der Umzug in die bayerische Hauptstadt stand kurz bevor, da schrieb Gansberg an Becker, aus dem Gedicht Der Radwechsel von Brecht zitierend: „Und überhaupt: ich bin nicht gern, wo ich herkomme, ich bin nicht gern, wo ich hingehe…“.[86]

5. Fortsetzung der Assistenzzeit in München, Sonderurlaub zur Wahrnehmung eines Habilitationsstipendiums 1968 bis 1970

Die enge Verbindung zwischen Gansberg und Becker blieb bis 1967 bestehen. Denn wie es der Zufall wollte, trafen die promovierten Literaturwissenschaftlerinnen 1965 in München wieder zusammen. Über das Forschungsprojekt am Institut für Zeitungswissenschaft der LMU München, zu dem Eva D. Becker hinzugezogen wurde,[87] informiert das Nachwort zu ihren gesammelten Aufsätzen zum „literarischen Leben:

In München stieg ich 1965 in ein von Wolfgang Langenbucher und Peter Glotz[88] initiiertes Projekt ein, die „Geschichte des literarischen Lebens“ (in Deutschland, im 19. Jahrhundert); nach zwei Jahren wurde es abgebrochen, weil der mitplanende Verlag einging.[89] Es war noch zu früh für eine Literaturgeschichte mit sozialen Aspekten in der Bundesrepublik. „Marginal“ nannte ich das, als ich 1967 zu Helmut Kreuzer an die Universität des Saarlandes kam. Wenige Jahre später projektierte eine ganze Reihe renommierter westdeutscher Verlage „Sozialgeschichten der Literatur“ (und sie heißen jetzt immer noch so, auch wenn Soziales in manchen Bänden nicht mehr vorkommt).[90]

1965 standen die Professoren Hans Fromm (1919–2008), Hugo Kuhn (1909‒1978), Walter Müller-Seidel (1918–2010) und Friedrich Sengle (1909‒1994)[91] dem Seminar für Deutsche Philologie II vor.[92] Gansberg nahm ihre Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin am 29. Juli 1965 auf.[93] Ihr erstes Seminar an der Universität München betitelte sie Einführung in die Textinterpretation (Modernes deutsches Drama). Vom 1. März 1968 bis 1. Juli 1970 wurde sie zur Wahrnehmung eines Habilitationsstipendiums offiziell beurlaubt.[94] Nach ablehnender Reaktion von Sengle auf ihren anfänglichen Vorschlag, über Exilliteratur zu habilitieren,[95] fiel ihre Wahl auf das von ihm favorisierte Thema „Studien zu Stefan George und seinem Kreis. Ein Beitrag zum revolutionären Konservativismus in Deutschland“.[96] Der Erstantrag bei der DFG wurde am 27. März 1968 bewilligt, der Verlängerungsantrag am 20. Oktober 1969. Gesichert ist, dass ihr Vater am 4. Juli 1968 verstarb und sie um 1969/70 krank wurde.[97]

1966 wirkte Gansberg an einer Rundfunkveranstaltung des NDR mit, die sich unter dem Haupttitel „Der deutsche Dichter als Objekt der Forschung“ dem Studium der Germanistik widmete und am 8. Mai 1966 zwischen 21.30 und 23.00 Uhr gesendet wurde.[98] Vorab waren Gespräche mit „Professoren, Assistenten und Studenten“ geführt worden. Der Einbezug von, wie es an anderer Stelle heißt, „Studentinnen und Studenden“ (das sprachliche Sichtbarmachen von studierenden Frauen, das damals noch unüblich war, werte ich in diesem Zusammenhang nicht als Aufbruchsignal in Richtung geschlechtergerechte Sprache, sondern als Höflichkeitsgeste) war damals neu und weist auf die Assistentenbewegung und die Studentenrevolte voraus. Treibende Kraft hinter den Kulissen könnte Christian Gneuss, Jahrgang 1924, gewesen sein, der 1948 über den späten Tieck als Zeitkritiker an der Universität Würzburg zum Doktor phil. promoviert worden war, wo im gleichen Jahr auch Klaus Günther Just (1923‒1977) seinen Doktortitel erhalten hatte, der in der betreffenden Rundfunksendung ebenso wie Hermann Kunisch, Walter Müller-Seidel und Werner Vortriede (München), Benno von Wiese und Hugo Moser (Bonn) sowie Herbert Seidler (Wien) die Professorenschaft repräsentierte und zu dessen Schwerpunkten in Lehre und Forschung Gegenwartsliteratur gehörte. Auf die schriftlich festgehaltenen Redebeiträge von Gansberg kann hier nur sehr eingeschränkt eingegangen werden. Dem eingangs zitierten Satzbruchstück ging die redaktionelle Rahmenbemerkung voraus, auch die Münchener Assistentin Marie Luise Gansberg beklage die mangelnde eigene Beteiligung der Studenten an den immer noch überfüllten Seminaren; die Ursachen hierfür sehe sie allerdings nicht nur in der oft behaupteten geistigen Indolenz des sogenannten Durchschnitts-Studenten.[99] In einer weiteren auf Gansberg Bezug nehmenden Rahmenbemerkung wird herausgestellt, diese sei fast die einzige, die in den geführten Gesprächen präzise Vorstellungen über eine möglicherweise notwendige Neuakzentuierung der Methodik und der germanistischen Forschung entwickelt habe. Darüber hinaus betonte Gansberg laut Rahmenbemerkung „das Problem der Lehr-Inhalte“. In der darauf folgenden wörtlich wiedergegebenen Redesequenz stellte sie die den Lehrenden an Gymnasien ebenso wie den Lehrenden an Hochschulen zufallende Verantwortung für die Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins heraus, betonte also eindeutig das Moment der gesellschaftlichen Verantwortung:

Ich glaube, dass noch nicht genügend berücksichtigt ist, dass der Deutsch-Unterricht, und wir bilden ja doch in erster Linie Deutsch-Lehrer aus, ein wichtiger Faktor in der Erziehung zur Demokratie ist. Und in diesem Zusammenhang scheint mir wichtig, dass unsere demokratischen Traditionen, wie die Aufklärungstradition, und sich da besonders in gesellschaftskritischer Prosa oder auch Dramatik im 19./20. Jahrhundert manifestiert, dass diese Traditionen eben stärker beachtet werden. Etwa Georg Forster hat bis heute ‒ der ein sehr bedeutender Schriftsteller, wie ich glaube, gewesen ist und ein Freund der Französischen Revolution ‒ er hat bis heute keine kritische Ausgabe. Es wird eine in Ostdeutschland gemacht, bisher sind zwei Bände erschienen. Satirische Prosa im 18. Jahrhundert von Rebmann, von Knigge, von Weckherlin, von Merck muss sicher eine neue Beachtung finden. Dann Heinrich Heine. Auch da ist es zunächst eine Frage der Ausgaben, bis jetzt ist die historisch-kritische Ausgabe nicht da; zur Zeit sind in Arbeit eine in Ostdeutschland, eine in Westdeutschland, und auch da wird die Forschung sich verändern, wenn diese Ausgaben vorliegen. Dann schliesslich ist es noch die Emigranten-Literatur im 20. Jahrhundert, die, wie ich glaube, zu wenig beachtet ist, vor allen Dingen auch in Übungen. Also es ist relativ ungewöhnlich, dass man über Heinrich Mann ein Seminar macht; über Tucholsky, ich glaube, das ist überhaupt noch nicht vorgekommen; Anna Seghers „Das siebte Kreuz“, ich glaube, auch dies ist selten in einer Seminarübung aufgenommen worden, und auch die Dissertationsthemen sind infolgedessen wohl selten darüber.

Ferner erklärte Gansberg sich bereit, im Rahmen der „Sozialwissenschaftlichen Reihe des SDS WS 66/67“ einen Vortrag über „Deutsche Exilliteratur ‒ ein tabuisierter Tatbestand“ zu halten. Im gleichen Semester bot sie ein Proseminar zu „Emigranten-Literatur (1933‒45)“ an.[100] Wolfgang Abendroth, bei dem sie laut Auskunft ihres Dissertationslebenslaufes studiert hatte, galt der SDS als die „einzige intakte und legale Opposition“[101] in der Bundesrepublik (Abendroths 1965 erstveröffentlichte Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung erlebte 1966 bereits die dritte Auflage).[102] Als weiterer Vertreter der Germanistik referierte auf der SDS-Veranstaltung Paul-Gerhard Völker. Sein Vortragstitel war eine kalkulierte Provokation: „Wie reaktionär ist die Germanistik?“

Abb. 3: SDS-Flugblatt, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung: 37.2.3 Archiv 451 SDS München, Foto: Günther Gerstenberg

Paul-Gerhard Völker und seine Frau pflegten bis Anfang der 1970er-Jahre ein freundschaftliches Verhältnis zu Gansberg. Erika Völker suchte Gansberg für die Weltorganisation der Mütter aller Nationen (W.O.M.A.N.) zu gewinnen, doch diese sympathisierte mehr mit den Zielen der soeben in München entstehenden neuen Frauenbewegung.[103] Das Ehepaar Völker, nicht aber Gansberg, engagierte sich darüber hinaus in der Friedensbewegung. Laut APO-Press wurde Paul-Gerhard Völker 1968 als Sprecher des Regionalausschusses Bayern Süd der Kampagne für Demokratie und Abrüstung bestätigt.[104]

1967 gab Gansberg die im Original zweibändige Anthologie Erzählungen für junge Damen und Dichter gesammelt und mit Anmerkungen begleitet (1774) mit einem kurzen Nachwort als Reprint heraus.[105] Der Anthologie-Herausgeber Wilhelm Heinse (1746‒1803) verkehrte mit Jean Paul (1763‒1825),[106] zu dessen Flegeljahren Gansberg 1968 einen Aufsatz veröffentlichte,[107] in dem in Fußnote 22 darauf hingewiesen wird, der Versuch verdanke dem Werk von Ernst Bloch (1885‒1977) insgesamt wesentliche Impulse.

Am 12. Juni 1967 trat Gansberg brieflich mit der Bitte an Werner Heisenberg heran, die von ihr und Paul-Gerhard Völker konzipierte „Münchener Erklärung“ zu unterschreiben, um ein Zeichen zu setzen angesichts der Vorgänge um den Schahbesuch in Berlin am 2. Juni 1967 und des tödlichen Schusses auf Benno Ohnesorg am gleichen Tag. Die Erklärung besteht aus dem nachstehend wiedergegebenen Kurztext, gefolgt von der aus dem Tagesspiegel ausgeschnittenen „Berliner Erklärung“, in der in Fettdruck verkündet wurde: „Angesichts der prekären Situation in der Stadt und an der Universität entschließen wir uns, uns bewußt und öffentlich an die Seite der Studenten und ihrer Repräsentanten zu stellen. Wir werden in den nächsten Wochen die uns gegebenen Möglichkeiten nutzen, um die noch nicht informierten Studenten, Dozenten und Bürger unserer Stadt über die Ereignisse der letzten Woche und ihre politisch-gesellschaftlichen Hintergründe und Folgen aufzuklären.“

Wir, Professoren und Assistenten der Universität München [,], schließen uns der Erklärung an, die von rund 400 Professoren, Assistenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern der FU, TH [= TU], PH Berlin und dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung unterschrieben und durch die Presse in einer Anzeige veröffentlicht wurde (Tagesspiegel vom 7.6.67).
Im Demokratisierungsprozeß westdeutscher Hochschulen scheint uns das Berliner Modell der FU beispielhaft zu sein, sein Status als Grundlage weiterer Reformen darf nicht angetastet werden. Die Erklärung hat folgenden Wortlaut: […].[108]

Am 1. Januar 1968 sprach sich Gansberg in einer Briefkarte an Friedrich Sengle für die Studentenbewegung aus, indem sie die Meinung von Roger Paulin für sich sprechen ließ:

Was die dilettantische Studentenrevolution betrifft (Anfänge sind gewöhnlich dilettantisch), so schreibt mir soeben zum Jahreswechsel Herr Paulin ‒ ich denke, ich bin nicht indiskret, wenn ich wörtlich zitiere: Was macht bei Ihnen in München die kritische Universität? Es scheint, daß sich die deutschen Studenten gegen die unzumutbaren Verhältnisse endlich auflehnen[109]… Mich wundert, daß der Protest so lange auf sich hat warten lassen! ‒ Soweit die Stimme aus England, die bei Ihnen wohl eine gewisse Geltung hat…[110]

Am 2. Januar 1968 erhielt Paulin eine Postkarte von ihr. Daraus geht beiläufig hervor, dass sie in Erwägung zog, den Gundolf-Nachlass[111] in London auszuwerten. Im Übrigen ist von einem kritischen germanistischen Arbeitskreis die Rede, von Flugblättern und von einem Teach-in, bei dem es im rhetorischen Sinne zwischen Studenten und Professoren bzw. Assistenten etwas tumultuarisch zuging.[112] Dieses Teach-in hatte sich am 20. Dezember 1967 ereignet.

In den Nachrichten für Germanisten an der Universität München, einer Flugblattserie, erschien zu der Veranstaltung folgender Kommentar: „Das erste teach-in des Arbeitskreises Germanistik, zu dem die Fachschaft eingeladen hatte, zeigte deutlich die Schwierigkeiten eines ‚Dialogs zwischen Lernenden und Lehrenden‘, so wie es das Flugblatt provokatorisch angekündigt hatte. Zwar nahmen etwa 20 Assistenten an der Diskussion teil, doch von den Ordinarien war lediglich Professor Kuhn erschienen ‒ ein Grund dafür könnte in den verspätet ausgesprochenen Einladungen liegen. Wir danken Professor Kuhn für seine Aufgeschlossenheit.“[113] Anstelle der vorgesehenen Diskussion habe eine Art Prüfungsgespräch zwischen Hugo Kuhn und dem Arbeitskreis Germanistik stattgefunden. Weder hätten die Studenten an das Arbeitskreiskollektiv Fragen stellen können noch sei es dazu gekommen, negative Erfahrungen im Studium anzusprechen. Wenn ich den Bericht richtig interpretiere, so war der Versuch, eine nach demokratischen Prinzipien ablaufende, problemorientierte Kommunikation zu erstreiten, gescheitert.

In einem Brief an Sengle ‒ sein 70. Geburtstag stand vor der Tür ‒ erinnerte Gansberg 1979 an dessen 50. Geburtstag, um dann anspielungsreich anzufügen: „Zehn Jahre später ‒ 1969 ‒ die Szene dann weniger rührend und idyllisch schon gar nicht.“[114] Was hier schemenhaft angedeutet wird, sind die Konflikte 1968/69, über die es 1969 zum Bruch zwischen Gansberg und Sengle kam.

Das betont sachlich formulierte „Assistenten-Flugblatt Wi-Sem. 1968/69“ ist heute weitgehend unbekannt.[115] Es füllt drei Schreibmaschinenseiten und wurde frühestens nach dem 22. Januar 1969 an den Seminaren für Deutsche Philologie verteilt. Seiner fach-, protest- und frauengeschichtlichen Relevanz sowie seiner partiellen hochschulpolitischen Aktualität wegen wurde es von mir in den Wikipedia-Artikel zu Paul-Gerhard Völker hochgeladen.[116] Maschinenschriftlich unterzeichnet haben das sich passagenweise wie ein Memorandum präsentierende Textdokument Marie Luise Gansberg (1933‒2003), Hans-Wolf Jäger (geboren 1936 in Saarbrücken),[117] Werner Weiland (1936‒2010) und Paul-Gerhard Völker (1937‒2011)[118]. Die treibende Kraft, vor allem wohl auch im Verschriftlichungsprozess, scheint Völker gewesen zu sein. Die vier Unterzeichnenden nannten sich „Assistenten“, auch wenn Völker immer nur Lehrbeauftragter war und Gansberg eine Frau.

Die Vierergruppe war sich bewusst, dass ihre in Zivilcourage wurzelnde, an die Vernunft appellierende, Recht, Gerechtigkeit und Kommunikation auf Augenhöhe zum Maßstab nehmende Flugblattaktion alles andere als opportunistisch war. Im Wissen um die Abwehrhaltungen, die eine Aktion wie die ihrige hervorrufen konnte, wurden Abwehrmechanismen gezielt zur Sprache gebracht. Es sei nicht auszuschließen, heißt es im Flugblatt, dass man künftig mit formalrechtlichen Mitteln versuchen könnte, die ein unorthodoxes wissenschaftliches Konzept verfolgende „Gruppe von Assistenten“ weiter einzuschüchtern, in ihrer Arbeit zu behindern oder sogar aus der Hochschullaufbahn zu entfernen. Damit wäre die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Forschung und Lehre (Art. 5, Abs. 3 GG) verletzt.

Zum Fall Gansberg: Die Zwischenprüfung der Neueren Abteilung des Seminars für Deutsche Philologie fand im November 1968 statt. Laut Assistenten-Flugblatt war Sengle von Walter Müller-Seidel dazu aufgefordert worden, die von Gansberg korrigierten Zwischenprüfungsklausuren daraufhin zu prüfen, ob die Arbeiten nach politischen, statt nach gegenstandsbezogenen Kriterien zensiert wurden. Müller-Seidels Vermutung erwies sich als unbegründet. Von der Kontrollmaßnahme war allein Gansberg betroffen. Die anderen dreizehn Assistenten, die ebenfalls mit der Benotung von Zwischenprüfungsklausuren beauftragt worden waren, blieben unkontrolliert. Ein Willkürakt liegt dann vor, wenn die Rechtsanwendung auf sachfremden Erwägungen beruht. Der Eindruck drängt sich auf, dass Müller-Seidel ein anderweitiges Problem mit Gansberg hatte. Wohl weil er seine Kontrollmaßnahme vor sich selbst so rechtfertigte, als gäbe es nichts zu entschuldigen,[119] wurde er für die Sonderbehandelte zum Problem und zum Schatten, der sich schwer auf sie legte, im anderen Fall hätte sie die Begebenheit nicht in Flugblattform auf die Tagesordnung gesetzt.

Zum Fall Weiland: Nicht ohne Grund steht der Fall Werner Weiland im Assistenten-Flugblatt an erster Stelle. Weiland wollte sich zur Rechtsstaatsthematik in Kleists Novellen habilitieren; ein Aktualitätsbezug ergab sich aus dem Protest der Außerparlamentarischen Opposition gegen das am 30. Mai 1968 verabschiedete Notstandsgesetz. Der Verweis auf eines der im Grundgesetz verbürgten Freiheitsrechte gegen Ende des Flugblatttextes sollte in erster Linie ihm, dem nicht zum Habilitationsverfahren Zugelassenen,[120] Schützenhilfe geben, denn Paul-Gerhard Völkers Aufstieg zum ordentlichen Professor wurde erst in den 1970er-Jahren ‒ verfügt vom Bremer Senator für Wissenschaft und Kunst ‒ abgeblockt, wodurch seine Hochschullaufbahn für ihn und seine Familie gänzlich unerwartet abbrach (Völker, so mein Eindruck, war zutiefst davon überzeugt, zum Hochschullehrer und Wissenschaftler geboren zu sein).[121] Auf die Verteidigung von Weiland via Flugblatt reagierte der Kleist- und Rechtsexperte Walter Müller-Seidel mit einem Gegenflugblatt („Zum Fall Dr. Weiland“) und einem ablehnenden Gutachten mit dem Titel „Über das Manuskript ‚Der bürgerliche Rechtsstaat in Kleists Novellen‘ von Dr. Werner Weiland“.[122] Wurde Weiland für seine politischen Überzeugungen und sein daraus erwachsendes Engagement abgestraft oder warum sonst wurde sein Fall öffentlich ausgefochten? Welche besondere Rolle spielte Müller-Seidel in diesem undurchsichtigen Spiel? Bekanntlich sind die Taten das Bekenntnis, nicht die Worte.

Der nicht als habilitationswürdig anerkannte Werner Weiland sowie die verprellte Gansberg wechselten zum Wintersemester 1970/71 mit einem Gefühl des Aufatmens an die Universität Marburg. Der mit vergleichsweise wenigen Blessuren davongekommene Hans-Wolf-Jäger folgte, ohne habilitiert zu sein, 1972 einem Ruf an die 1971 gegründete Universität Bremen. Die Mitteilung zum Wintersemester 1969/70, Völkers Lehrauftrag an der LMU werde nicht erneuert, konnte dem in Ungnade Gefallenen nichts anhaben.[123] Auf ihn warteten an der Freien Universität Berlin neue, interessante Aufgaben und vielversprechende Kontaktmöglichkeiten.

Aufatmen konnte auch das „Münchener Professoren-Netzwerk“, das sich in wechselnden Besetzungen „erfolgreich“ in die heutige Zeit hinüberrettete.[124] Die „Unorthodoxen Vier“ waren in alle Winde zerstreut. Ihre Kernbotschaft, dass Willkür Unrecht darstellt und dass Persönlichkeitsentfaltung und Förderung des Entwicklungspotenzials nur in einem Klima der grundsätzlichen Offenheit für Neues und auf der Grundlage von allseitiger Kritikfähigkeit gedeihen können, verhallte schnell und auffällig spurlos. Die Umsetzung dieses Kommunikationsideals wäre nämlich nur um den Preis der hohen Kunst des Zuhörens,[125] gepaart mit Wahrhaftigkeit und der Bereitschaft aller Kommunikationsteilnehmenden zu langfristigen individuellen und institutionellen Lernprozessen[126] zu realisieren gewesen. Ein so beschaffener Wertekonsensus ist an zwei konstituierende Bedingungen geknüpft: Die Ranghöheren und hier vor allem die Dienstälteren sind, was das Elementarziel „grundrechtebasierte Kommunikation“ anbetrifft, gefordert, mit gutem Vorbild voranzugehen. Und sie dürfen nicht der Steigerung des eigenen Selbstwertes, am Ende noch auf Kosten anderer, ihre Reverenz erweisen, sondern der von Demut, Verantwortungsbewusstsein und Weitblick geprägten Überzeugung und Haltung, einer über die eigene Person hinausweisenden Sache zu dienen ‒ der Wissenschaft, der Ausbildung des Nachwuchses, der Allgemeinheit, den nachfolgenden Generationen. Machtgeschichtlich betrachtet, spiegelt sich in den Vorgängen am Seminar für Deutsche Philologie II der Jahre 1968/69 die Unterdrückungs- und Ausgrenzungsmentalität wider, die das Schreckgespenst der Berufsverbote 1972 zur bitteren Realität in der Bundesrepublik werden ließ.[127] Eine Neubewertung der skizzierten „Machtkämpfe unter ungleichen Voraussetzungen“ erscheint mir dringend erforderlich.[128]

Am 22. Januar 1969 hielt Gansberg auf Einladung der Fachschaft Germanistik im Seminargebäude in der Schellingstraße 3 vor Studierenden ein Referat, das nicht mehr und nicht weniger im Sinn hatte als eine grundlegende Neuausrichtung der Germanistik. Manuskript- und Drucktitel sind identisch: „Zu einigen populären Vorurteilen gegen materialistische Literaturwissenschaft“. Nebenbei bemerkt entstammt die Wendung „populäre Vorurteile“ Marx’ Deutscher Ideologie[129].[130] Die Veranstaltung wurde von Jörg Drews für die Süddeutsche Zeitung besprochen. Daraus zwei Auszüge:

Angesichts der oft durch wenig Kenntnis getrübten Vorbehalte, die dagegen [gegen materialistische Literaturwissenschaft, SK] auch unter Studenten virulent sind, mußte es ihr vor allem darum gehen, „einige populäre Vorurteile“ über diese Art der Annäherung an die Literatur auszuräumen, als deren berühmteste und methodisch avancierteste Vertreter Walter Benjamin, Th. W. Adorno und Georg Lukács zu gelten haben. Sehr genau nannte sie zunächst diese Vorurteile gegen eine dialektisch-soziologische Literaturwissenschaft beim Namen […].
Es war auch der Vortragenden klar, daß sie einen „Zukunftsentwurf“ vortrug, daß dieser Entwurf viele Probleme und Gefahren enthält und es noch einige Zeit dauern wird, bis eine durchdachte, im Teamwork erprobte materialistische Literaturwissenschaft darangehen kann, eine „dialektisch-kritische Literaturgeschichte in emanzipativer Absicht“ zu schreiben und das Kunstwerk als ein durch seine gesellschaftlichen Bezüge sich konstituierendes Objekt zu entfalten.
Das Referat übrigens zeigte deutlich das Dilemma, vor dem die Germanisten stehen, die Kunst und Wissenschaft nicht mehr als das elitäre Privileg einer kleinen Schicht haben wollen: Nur die Gewitztesten, auch gesellschaftstheoretisch Orientiertesten unter den Studenten konnten den Darlegungen folgen ‒ doch zu denen gehörten ja wohl die Anwesenden, wie die Diskussion zeigte. Das, wofür Frau Gansberg plädierte, verspricht fruchtbarer zu werden als ahistorisch-ästhetizistische Interpretationen oder ein sich abzeichnender neuer, recht ratloser Historismus.[131]

Ende Januar 1969 setzte sich Siegfried Unseld, Leiter des Suhrkamp Verlages, brieflich mit Gansberg in Verbindung (sie wird zunächst irrtümlich mit „Ganzberg“ angeredet). Durch einen Bericht in der Süddeutschen Zeitung habe er von ihrem Vortrag gehört, der auf die Situation der Germanistik eingehe. Ob es möglich wäre, dass sie ihm den Text zuschicke. Als Begründung wird angeführt: „Wir überlegen uns hier eine größere Dokumentation zur Lage dieser Wissenschaft und planen einen zweiten oder gar dritten Band mit germanistischen Problemen in der edition suhrkamp.“[132] Am 19. August 1969 wandte sich Unseld erneut an Gansberg. Er habe in den Lektoratskopien den freundlichen Brief Gansbergs vom 12. August gefunden und bedauere, dass seine Sekretärin sie gebeten habe, sie möge sich Mitte September noch einmal an den Verlag wenden. Der Vorgang sei ja klar und der Verlag müsse von sich aus reagieren. Im Zweifel darüber, ob sein Brief vom 29. Januar 1969 wirklich bei Gansberg angekommen ist, erkundigte er sich: „Ich hatte Anfang des Jahres durch eine Erwähnung in der Süddeutschen Zeitung von Ihrem Vortrag gehört und Ihnen danach gleich geschrieben. Hat Sie mein Brief nicht erreicht? Jedenfalls möchte ich Ihnen sagen, daß wir an den vier genannten Texten für die edition suhrkamp sehr interessiert sind. Wäre es möglich, daß sie sie uns zuschickten?“[133]

Dass Gansbergs Vortragsmanuskript letztlich von J. B. Metzler verlegt wurde, erklärt sich vermutlich damit, dass die von ihr bei Metzler und Suhrkamp eingereichten Texte inhaltlich zu wenig aufeinander abgestimmt und zudem von ungleicher Qualität sind. Vor allem Paul-Gerhard Völkers „Skizze einer marxistischen Literaturwissenschaft“ verspricht im Titel erheblich mehr, als der Verfasser, wohl getrieben von Zeitnot, einlösen konnte.[134] Trotzdem war der Methodenkritik der Germanistik. Materialistische Literaturtheorie und bürgerliche Praxis (1970, 4., teilw. überarb. Aufl. 1973)[135] ein für damalige Verhältnisse beachtlicher Erfolg beschieden. Das schmale gelbe Taschenbuch stand am Anfang einer von Verlagen wie Suhrkamp und Metzler proaktiv betriebenen Entwicklung, die es darauf abgesehen hatte, Theorie aufzuwerten und bedingungslos mit Intellektualität, Aufgeklärtheit, Innovation, Fortschrittlichkeit und Weltoffenheit gleichzusetzen, nicht selten unter Preisgabe der Basics von Wissenschaftlichkeit (Logik, Methodik, Stichhaltigkeit)[136] bei gleichzeitigem Ignorieren oder Bagatellisieren von vorausgegangenen Forschungsleistungen und von beschwerlicher, strapaziöser und oft sehr zeitraubender Grundlagenforschung,[137] die einen unerlässlichen Gegenpol zu kurzatmigen Moden und kommerziellem Profitdenken bildet bzw. bilden sollte.[138]

In ihrer Zeit in München lernte Gansberg den Autor und Satiriker Karl Hoche kennen, mit dem sie kurzzeitig ein Verhältnis einging. Hoche kann sich gut erinnern, dass seine Freundin infolge ihrer Medikamentenabhängigkeit Termine verschlief. Sie brauchte keine Brille, trug aber eine ‒ aus Imagegründen. Kam das Gespräch auf Paul-Gerhard Völker, witzelte er: „Völker hört die Signale!“[139] Hoches Erstling Schreibmaschinentypen und andere Parodien (1971, 2. Aufl. 1972) ist „Helmut Heißenbüttels Frau gewidmet*“. Das Sternchen hinter dem Wort „gewidmet“ weist den Weg zu einer Fußnote, deren Inhalt der Clou des Ganzen ist: „Helmut Heißenbüttel: ‚Ach wissen Sie, Kritiken und Parodien liest immer meine Frau‘.“ Über den blitzgescheiten Humor von Hoche lachten Gansberg und Becker sich schief.

Zum 60. Geburtstag am 14. November 1969 erhielt Friedrich Sengle von seinen Schülern und Schülerinnen eine Festschrift. Hans-Wolf Jäger trug bei,[140] ebenso Eva D. Becker. Gansberg und Weiland wurden nicht gefragt oder verweigerten sich. Der kurz zuvor erfolgte Bruch mit Gansberg muss Sengle sehr verletzt haben. Nochmals Roger Paulin: „Die Feier zu seinem 60. Geburtstag, bei der ich anwesend war (damals wohnte er bei Starnberg), war in vieler Hinsicht unerfreulich, der streitbare Schwabe kam zum Vorschein. Frau Gansberg fehlte.“[141]

Ein emotionaler Riss war zwischen Gansberg und Sengle wohl erst entstanden, als dieser es abgelehnt hatte, deren selbstgewähltes Habilitationsthema zu unterstützen. Auf der politischen und wissenschaftlichen Ebene trieben die Konflikte und Unruhen der Jahre 1967 bis 1969 die beiden auseinander: Er, ehedem der „rote Friedrich“ genannt, wetterte gegen die 68er-Bewegung im Hochschulbereich,[142] sie, die sich gegen Repression, Willkür und Duckmäuserei auflehnte, was ihr den Status einer Ausnahmefrau im männerdominierten Universitätsbetrieb verlieh, übernahm einen aktiven Part in dieser Bewegung.[143] Er vollzog aufgrund der sich zuspitzenden Ereignisse eine Rechtswendung, sie eine deutliche Linkswendung. Die Bemerkung von Sengle, dass Frauen entweder wissenschaftlich tätig oder Ehefrauen sein sollten,[144] muss sie, wie Madeleine Marti mir gegenüber zum Ausdruck brachte, tief getroffen haben. Er hatte ja beide „Sorten“ Frauen um sich herum. Durch ihr Einstehen für die Ideale Emanzipation und Parteilichkeit in und außerhalb der Wissenschaft und ihr Rebellischsein während der Zeit der globalen Revolte kam es zwischen Gansberg und Sengle zwar nicht dauerhaft zum Bruch, die Spannungen und Differenzen waren aber zum Hindernis geworden.

6. Ernennung zur Professorin in Marburg 1972, Zwangsemeritierung 1993

Folgerichtig nutzte Gansberg, als sie am 1. Juli 1970 für drei Monate auf ihre Assistentinnenstelle an der LMU zurückkehrte, die Möglichkeit, sich zum 1. Oktober 1970 an das Institut für Neuere deutsche Literatur der Universität Marburg versetzen zu lassen.[145] Was sie nach Meinung des Institutsdirektors Erich Ruprecht (1906‒1997) für die Anstellung empfahl, waren ihre große Lehrerfahrung, ihre interessante Publikationsliste und die für das Marburger Institut besonders interessanten Spezialgebiete „Literatur des Realismus“ und „Literatur des 20. Jahrhunderts“. Auf die Versetzte warteten „Seminare, Kolloquien. Studienberatung, Dokumentation. Wissenschaftliche Beratung Tutoren, Studenten“.[146]

Ihren raschen beruflichen Aufstieg am Marburger Institut verdankte Gansberg einer von der SPD ins Werk gesetzten umfassenden Personalstrukturreform in Hessen.[147] Diese beinhaltete die Option, im Wege der Überleitung zur Professorin/zum Professor ernannt zu werden.[148] Gansbergs Karrierestationen dokumentiert der Catalogus professorum Academiae Marburgensis (Bd. 2, 1979), in dem deren Wechsel an die LMU München zum Wintersemester 1965/66, was mehr als seltsam anmuten muss, ungenannt bleibt:

Marie Luise Gansberg

Geb. 1933 in Bremen.
Studium: ab SS 1954 Germanistik, Geschichte, Politik und Anglistik; 1962 Promotion in Heidelberg; ab WS 1962/63 Wiss. Assistentin in Heidelberg; 1968/69 Forschungsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft; ab WS 1970/71 Wissenschaftliche Assistentin.
Akademische Rätin am Institut für Neuere Deutsche Literatur der Universität
Marburg ab 1971; 1972 Professorin.
      Kürschner 1976; Vorlesungsverzeichnis SS 1971.[149]

Ihr Habilitationsprojekt schloss Gansberg nie ab, soll heißen: Sie wurde Professorin, ohne habilitiert zu sein. Die Gutachten für die Professur verfassten Gerhard Bauer von der FU Berlin und Jost Hermand von der Universität Wisconsin.[150] Der zuständige Dekan, Martin Warnke, reichte beim Hessischen Kultusministerium und beim Präsidenten der Philipps-Universität den Antrag zur Überleitung ein.

Dagegen geriet Werner Weilands Karriere in Marburg mehr und mehr ins Stocken. Dieser reichte 1985 am dortigen Fachbereich 09 eine zweite Habilitationsschrift ein, die wie seine erste unveröffentlicht blieb.[151] Von 1989 bis 1997 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Marburger „Forschungsstelle Georg Büchner ‒ Literatur und Geschichte des Vormärz“.[152] Im Gegensatz zu seinen Kollegen Günter Giesenfeld, Alfons Glück, Hanno Möbius, Hartmut Rosshoff und Guntram Vogt hielt Weiland nie in Teamarbeit mit Gansberg Seminare ab.

Gansberg war die erste und bis zu ihrer Emeritierung fast die ganze Zeit über die einzige Professorin am Fachbereich 09 (Neuere deutsche Literatur und Kunstwissenschaften). Die erste Professorin an der Philipps-Universität überhaupt, die Sprachwissenschaftlerin Luise Berthold (1891–1983), übte ihr Amt lediglich in der kurzen Zeitspanne 1952 bis 1957 aus.[153] Als 1992 am Fachbereich 09 mit der Literaturwissenschaftlerin Barbara Bauer endlich wieder einmal eine Frau berufen wurde, war Gansberg nur noch selten am Institut.[154] Um ihre Vereinzelung zu überwinden, hatte letztere in den 1980er-Jahren zusammen mit der Privatdozentin Liselotte Voss (Literaturwissenschaft)[155] und den Professorinnen Ingrid Langer (Politikwissenschaft) und Ingeborg Weber-Kellermann (Volkskunde) einen Frauenarbeitskreis gegründet.[156]

Bereits in den 1970er-Jahren ging Gansberg aus dem wachsenden Unmut über die Marginalisierung von Schriftstellerinnen in der Hochschul- und der Schulgermanistik dazu über, sich auf Frauenliteratur (eingeengt auf Belletristik) sowie auf Frauenthemen und feministische Theorien zu spezialisieren.[157] 1974/75 führte sie ein Seminar zu Anna Seghers durch, 1975/76 bot sie ihr erstes Seminar zum Thema „Literatur und Frauenemanzipation“ an. Die Freiheit, die sie bei der Themenwahl hatte, gibt es so im heutigen Universitätsbetrieb nicht mehr. Bis in die 1990er-Jahre hinein war der Einsatz für feministische Inhalte ‒ gleichgültig in welcher Disziplin ‒ oft das Ergebnis freiwilliger Entscheidung bzw. Ergebnis der politischen (Frauen-)Bewegungen.[158]

Abb. 4: Tabelle zum Anteil der Professorinnen an der Philipps-Universität Marburg, erstellt für die Fotoausstellung „Die halbe Uni den Frauen“ im Foyer der Universitätsbibliothek Marburg (Abbildungsnachweis: http://www.das-marburger.de/2011/10/fotoausstellung-in-universitatsbibliothek-die-halbe-uni-den-frauen/), zur Verfügung gestellt von der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten der Philipps-Universität, Nina Schumacher

Gansbergs besonderes Interesse galt DDR-Literatur[159]; zeitweilig lud sie Schriftstellerinnen aus der DDR in die BRD ein. Das Thema Lesben wurde für sie Anfang der 1980er-Jahre virulent.[160] Der feministischen Literaturwissenschaft[161] erschloss sie neue, zum Teil bis heute tabuisierte Themen, was paradoxerweise mit ein Grund war, sie der Vergessenheit anheimzustellen, obwohl ihr hierfür und für ihren vielfältigen und teilweise kühnen Einsatz zur Weiterentwicklung des Faches als Ganzem und von Teilgebieten sehr viel Respekt und Anerkennung gebührt.[162] Als einzige Professorin nahm sie im Oktober 1990 am „3. Siegener Kolloquium Homosexualität und Literatur“ mit einem Referat zum Thema „Erotische Liebe und mütterliche Fürsorge. Charlotte Wolffs Konzeption lesbischer Liebe/Sexualität“ teil und hielt am 3. April 1990 an der Paulus-Akademie Zürich einen Vortrag über „Unnütze Frauen? ‚Alte Jungfer‘, ‚Alte Frau‘, ‚Lesbe‘ in der Literatur. Und was aus ihnen noch werden kann“.[163]

Gansberg verkörperte als Professorin einen neuen Typus von Literaturwissenschaftlerin: Sie war mit einem bewundernswerten Pioniergeist und einem feinen Humor ausgestattet, sehr sensibel und zugleich innerlich stark und doch auch zerbrechlich, außerdem kritisch, kompromisslos und unangepasst, dabei als Hochschullehrerin ein Klima erzeugend, das die Entstehung von Frauenkulturen begünstigte.[164] Ihre Schülerin Elke zur Nieden[165] erinnert sich:

Das erste Mal hörte ich von Marie-Luise Gansberg, da war ich noch jung, verheiratet, hatte mein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg erworben. „Gansberg“, sagte der Badenser Studienfreund meines Mannes, „wegen der und Hans-Heinz Holz[166] bin ich von Tübingen nach Marburg gewechselt. […] Marie-Luise schuf ein Forum, in dem kreative, farbige Frauenforschung entstand. Später kamen auch Marianne Schuller und Sigrid Weigel auf den Lehrplan. Bei Marie-Luise entstanden Frauenfreundschaften fürs Leben […]. […]
Anna Rheinsberg, Barbara Seifert, Doris Pfeifer, Heike Wagner, Sabine Glathe und Claudia George ‒ Marie-Luise hat unser Denken und Studium bereichert. Auch wenn keine von uns an einer Hochschule lehrt, sind wir Schriftstellerinnen geworden, haben Doktortitel erworben, Kurse geleitet, quer gedacht und laut gelacht.[167]

Fotis Jannidis markiert in seinem für das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft verfassten Artikel „Marxistischen Literaturwissenschaft“ jenen Übergang von der marxistischen zur feministischen Literaturwissenschaft, für den Gansberg prototypisch steht:

Erstmals erlangt somit eine Form marxistischer Literaturwissenschaft im bürgerlichen Deutschland Zugang zur Institution Germanistik (z. B. Helga Gallas[168], Gert Mattenklott, Klaus Scherpe[169]), um nur wenige Jahre später ‒ trotz personaler Kontinuität ‒ aus dem Angebot des praktizierten Methodenpluralismus zu verschwinden. Allerdings haben einige Komponenten der marxistischen Literaturwissenschaft, z. B. Parteilichkeit, Eingang in neuere Ansätze wie Feministische Literaturwissenschaft oder Poststrukturalismus gefunden.[170]

Die große Zeit, als sich Feministinnen in Gansbergs Seminaren trafen, erlebten Mechthild Beerlage, Anna Rheinsberg und Barbara Seifert. Seifert schrieb ihre Magisterarbeit über Christa Wolf.[171] Seitdem arbeitet sie als freiberufliche Literaturwissenschaftlerin und Poesiepädagogin in der Erwachsenenbildung. In der von ihr verfassten Übersichtsdarstellung „Kind. Weib. Geliebte. Mutter. Poet dazu.“ Autorinnen in Marburg (2015) porträtiert sie eine Vielzahl schreibender Frauen:

Caroline Böhmer-Schlegel-Schelling (1763‒1809)
Sophie Mereau-Brentano (1770‒1806)
Bettina von Arnim (1785‒1859)
Agnes Günther (1863‒1911)
Gertrud von le Fort (1876‒1971)
Ina Seidel (1885‒1974)
Lisa de Boor (1894‒1957)
Marie Luise Kaschnitz (1901‒1974)
Hannah Arendt (1906‒1974)
Mascha Kaléko (1907‒1975)
Christine Brückner (1921‒1996)
Ulrike Marie Meinhof (1934‒1976)[172]

Auch Anna Rheinsberg schloss ihr Germanistikstudium mit dem Magistergrad ab.[173] Ihre Erfahrungen mit einer ihrer wichtigen akademischen Lehrerinnen verarbeitete sie in der Romanfigur „Clär Vogel“ (die Schriftstellerin „Claire“ Goll war wohl die Vornamenspatronin). Diese Clär will, ihrem Ende entgegenblickend, mit ihren Schülerinnen Bachmanns Todesarten-Zyklus lesen. Ihr Nachname wird zu ihrem Schicksal. Verrückt und einsam stirbt der weibliche Sonderling, im Hospiz, mit Blick auf ein Stück Brache. Die Urne wird an einem düsteren, bitterkalten Februartag versenkt.[174] Auf diese unterkühlte Darstellung reagierte die Gansberg-Schülerin Mechthild Beerlage in ihrer jüngst erschienenen Biografie mit einem Kontrastprogramm: „Bis heute danke ich Marie-Luise Gansberg…“.[175] Sie dankt der Seminarleiterin Gansberg posthum für die Geduld mit Männern, die Lehrveranstaltungen regelmäßig totquatschten: „Ich traute meinen Augen und Ohren nicht, als ich zum ersten Mal erlebte, wie sich in einem dieser Seminare ein Typ erhob, tief Luft holte und einen endlos langen Vortrag hielt, der zum überwiegenden Teil aus der Neukombination dessen bestand, was bereits von den Frauen gesagt worden war.“ Gansberg habe solche „Typen“ schwafeln lassen, um sie dann ruhig und kompetent zu zerpflücken, bis sie auf Nimmerwiedersehen verschwanden.[176]

Heinrich Brinkmann, der in der APO-Zeit dem SDS beitrat[177] und über Geld und Moral habilitierte, unterzog sich der Mühe, den Kommunikationsstil seiner Nachbarin ‒ Gansberg verlegte 1976 ihren Wohnsitz von Marburg nach Gießen[178] ‒ in Worte zu fassen:

Ich lernte sie kennen als äußerst schlagfertig, spontan sehr witzig, mit einer großen Portion Ironie, auch mit Blick auf sich selbst, begabt; sie verfügte über eine vorzügliche Lästerkompetenz, wenn es um Politik ging, und sie war hochbegabt darin, mit nadelspitzen Bemerkungen aus aufgeblasenen pathetischen Luftballons die Luft abzulassen oder sie gar zum Platzen zu bringen. Es empfahl sich, in Gesprächen sorgfältig mit der Sprache umzugehen, zumal sie es ja auch tat.[179]

 

Abb. 5: Erkennen, was die Rettung ist. Christa Reinig im Gespräch mit Marie Luise Gansberg und Mechthild Beerlage, München: Verlag Frauenoffensive 1986, Titelblatt und bedrucktes Vorsatzblatt, Foto: Sabine Koloch

Ihre im September 1985 unter Mitwirkung von Mechthild Beerlage[180] auf Tonband aufgezeichneten Interviews mit Christa Reinig veröffentlichte Gansberg 1986 im unter den damaligen Frontfrauen des Feminismus angesagten Verlag Frauenoffensive,[181] nachdem sie vergeblich versucht hatte, Heinz Ludwig Arnold für ein Heft der Zeitschrift Text + Kritik zu gewinnen.[182] Der Band veränderte das Bild von Reinig in der Forschung von Grund auf. Hier ein Ausschnitt aus dem Vorwort:

Die Gespräche mit Christa Reinig erwiesen sich als Dokument zur Literatur- und Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, als Werkstattbericht, als Kommentar zur eigenen Produktion und zu den Werken anderer Schriftsteller/innen. Und sie geben zugleich Blicke frei auf das Leben einer Person, die weiblich ist, aus dem Proletariat stammt, eine bedeutende Schriftstellerin ist, die sich herausnimmt, Frauen statt Männer zu lieben, und schließlich auch noch dem radikalen Flügel der Frauenbewegung angehört. Fünf Gründe, um vom Patriarchat in die Pflicht genommen, bestraft zu werden. „Wir Frauen sind die Daneben“, formulierte sie einmal.
Handelt es sich bei diesen Gesprächen immer um authentisches Material für die Literaturgeschichte? Wie steht es um die Dialektik von Dichtung und Wahrheit?
Unmerklich wird die Schriftstellerin Reinig, die reale Person zur literarischen Figur, zum „Pseudonym Reinig“, wie es Helmut Salzinger genannt hat. Spielerisch tauscht eine Person mit der anderen Stimme und Identität. Mechthild und ich saßen abends im Hotel, tranken Rotwein und resümierten die Gespräche des Nachmittags. „Aber da“, sagte eine von uns, „da hat sie uns doch geleimt! Das ist ja ‚fiction‘, Reinig-Legende.“
Was hatten wir erwartet?[183]

Sichtbares Zeichen von Gansbergs seelischem Leiden waren auf der einen Seite die vielen Krankschreibungen, zum andern die stockende Publikationstätigkeit, insbesondere in den 1970er-Jahren. Ihre Gesundheit wurde für sie und für andere phasenweise zum quälenden Problem. In Einzelfällen warteten Schülerinnen monatelang auf die Rückgabe von Seminar-, Staatsexamens- oder Magisterarbeiten. Immer dann, wenn Gansberg ihren Aufgaben und Verpflichtungen nicht nachkommen konnte, mussten ihre Kollegen aushelfen. Rückendeckung erhielt sie namentlich von Günter Giesenfeld, Alfons Glück und Guntram Vogt. Andererseits berichteten ehemalige Studentinnen von gruppendynamischen Prozessen im Kollegium, die Gansberg wohl auf Dauer und in der Summe belasteten und ihre Tendenz zum Rückzug verstärkten: Kollegen führten in Sitzungen Seitengespräche oder belustigten sich, wenn sie sprach, als habe eine kluge und kompetente Frau es verdient, durch kränkendes, ausgrenzendes Benehmen gedemütigt zu werden. Madeleine Marti erlebte im Beisein von Gansberg eine Direktoriumssitzung, bei der „versehentlich“ von „Herr Gansberg“ gesprochen wurde. Außerhalb der Sitzungen schickten die gleichen Kollegen Studentinnen, die sich bei ihnen über ein Thema aus dem rasant wachsenden und folglich immer unüberschaubarer werdenden Feld der Frauenforschung prüfen lassen wollten, gerne zur kompetenten Kollegin, die dementsprechend in Arbeit erstickte.

Für Eva D. Becker steht fest, dass Gansbergs Zustand sich in der Zeit der psychoanalytischen Behandlung in unverantwortlicher Weise verschlechterte. Plötzlich weinte sie viel, unternahm Selbstmordversuche. Über Behandlungsfehler und Missbrauchserfahrungen in der Psychoanalyse gab es Anfang der 1970er-Jahre kaum ein Bewusstsein, weder in der Fach- noch in der breiten Öffentlichkeit.[184] Der Kulturwissenschaftler und Schriftsteller Hanns-Stefan Finke problematisierte 2016 in einem Leserbrief an die Zeit die dunkle Seite von ausgeübter Psychotherapie, die darin besteht, unter dem Deckmantel der Professionalität das Vertrauen der Schutzbefohlenen zu missbrauchen und ihre Rechte sowie ihre Würde zu verletzen[185]:

Die Psychotherapie, welche in der ZEIT immer einmal wieder so idealisiert wird (und erst recht ihre Königsform, die Psychoanalyse), ist ein scharfes Schwert, das in der Hand des Könners im besten Fall ein scharfes Skalpell ist – in der Hand des Mittelmaßes aber (und das gibt es in diesem Bereich nicht weniger als überall sonst auch) ein Folter- und Richtwerkzeug.
Die ungeheure Intensität, mit der ein Leben umgekrempelt wird, kann Biografien, Ehen, Berufslaufbahnen und das individuelle Glück zerstören. Niemand, der das nicht zum Überleben braucht, dränge sich dorthin. Warnungen sind vonnöten, so sollten Patienten der Psychoanalyse zuvor informiert werden, was die jahrelange Unterwerfung unter Therapeuten mit ihnen anstellt.
Statt Werbung für die Branche der Therapeuten zu machen, sollte sich die ZEIT also auf die Suche nach deren Opfern machen und von den Schattenseiten der Therapie erzählen. Da gibt es selbstherrliche Gurus, körperliche Übergriffe und seelische Vergewaltigungen, verweigerte Hilfeleistungen, finanzielle Ausbeutung und Patienten, die jahrelang seelisch hospitalisiert werden, weil der Therapeut sich nicht trennen kann, sadistische Rücksichtslosigkeit, psychiatrische Behandlungen durch ungeschultes Personal, therapeutisch erzeugte psychosomatische Erkrankungen, Patienten-Suizide, stumpfe Fehlbehandlungen und krude Misshandlung.
Eines jedenfalls ist die Welt der Therapie nicht: ein Allheilmittel zur freien Entfaltung der Persönlichkeit.[186]

Gansberg muss als Kind eine ganz Reihe von Belastungen bis hin zu Schocks erlitten haben: die bedrohlichen Kriegsereignisse, die Ängste im Hochbunker, das Bangen um ihren Onkel Fritz Wilhelm, Teilhaber der Firma Gebrüder Gansberg, der 1945 als vermisst gemeldet werden musste.[187] Die sich wahrscheinlich viele Jahre hinziehende psychische Erkrankung der Mutter und deren tragischer Tod drei Wochen nach einem 30-tägigen Nervenklinikaufenthalt 1948 hinterließen bei dem geschwisterlos heranwachsenden Kind zweifellos tiefe seelische Narben. Ein weiterer dunkler Punkt: Um den Zeitpunkt der Konfirmation 1947 herum trat das evangelisch getaufte Mädchen auf Betreiben der Mutter aus der Kirche aus und der Sekte Christian Science bei.[188]  Hinzu trat der plötzliche Herztod des im gleichen Haus wohnenden Großonkels Fritz Gansberg am 12. Februar 1950.

Ende Juli 1993 wurde Gansberg im Alter von 60 Jahren aufgrund der hohen Zahl der krankheitsbedingten Fehltage zwangsemeritiert.[189] 2003 erlag sie einer Krebserkrankung.[190] Dass die Verwaltungsrichtlinie „Zwangspensionierung“ schon in den 1970er-Jahren wie ein Damoklesschwert über ihr hing, geht aus einem Brief an Sengle vom 10. November 1979 hervor. Gleichsam im Nachsatz stieß Gansberg ihren Berufsstand unsanft vom Sockel:

Die vergangenen zehn Jahre waren für mich in ihrer ersten Hälfte kritische Jahre. Ich war längere Zeit drogenabhängig, hatte zur Entziehung mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Krankenhäusern, es gab die Drohung der Zwangsemeritierung. In den letzten drei Jahren bin ich dann allmählich wieder gesund geworden. Dennoch gehören die Erfahrungen in den „geschlossenen Abteilungen“ zu meinen wirklich wichtigen Erfahrungen. Die intensive Begegnung mit Menschen, die jenseits von Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft stehen, lassen die Hochschullehrer-Existenz, die Existenz derer, die immer recht haben, doch ziemlich sonderbar werden…[191]

Die Antwort Sengles ließ nicht lange auf sich warten:

Liebe Frau Gansberg!
Fast muss ich sagen, es hat mich nichts so gefreut wie Ihr Brief zum 70. Geburtstag. Die aufrichtige Erzählung aus Ihren Geschicken imponierte mir. Ich hielt Sie stets für wahrheitsliebend.
Ja rufen Sie einmal an, wenn Sie in München sind (Anschrift und Telefon s.o.). Wir wohnen nahe bei der Station Seefeld-Hechendorf, S 5 Richtung Herrsching, eine Station vor Herrsching am Ammersee, eine nach Steinebach am Wörthsee. Doch ein schönes Land, nicht wahr? Ich hole Sie ab.
Mit vielen Wünschen für Körper, Geist und Seele in diesem Winter grüßt herzlich
                                                     Ihr[192]

Anmerkungen

[1] Um Spekulationen entgegenzuwirken: Ich selbst bin Gansberg nie persönlich begegnet.

[2] Siehe auch meinen Projektbeitrag: Briefliche Begegnungen. Marie Luise Gansberg und Friedrich Sengle.

[3] Im Erwachsenenalter schrieb Marie Luise Gansberg ihren zweigeteilten Vornamen ohne Bindestrich, amtlich ist die Schreibung „Marie-Luise“. Im Folgenden verwende ich die Schreibweise mit Bindestrich nur für Gansberg im Kindesalter.

[4] Eva D. Becker: Der deutsche Roman um 1780, Heidelberg, Philosophische Fakultät, Dissertation vom 25. Juli 1963, ungezählte Seite nach S. 231 (Lebenslauf). Nationalbibliothek Leipzig: Di 1965 A 1794.

[5] Lebenslauf der Marie Luise Gansberg, Bremen, 1.12.1952: „Während der Evakuierung der Bremer Schulen besuchte ich die Sammelschule in der Lessingstr<aße>“. Staatsarchiv Bremen: 4,39/42-56.

[6] „Off limits“-Schilder forderten amerikanische Soldaten auf, das Haus nicht zu betreten.

[7] Brief von Eva D. Becker an die Verf., St. Ingbert, 27.8.2017.

[8] Marie Luise Gansberg: Der Prosa-Wortschatz des deutschen Realismus. Unter besonderer Berücksichtigung des vorausgehenden Sprachwandels 1835–1855, Heidelberg, Philosophische Fakultät, Dissertation vom 22. Juni 1962, ungezählte Seite nach S. 313 (Lebenslauf). Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main: U 64.6186.

[9] Der Genannte ließ 1947 in das Bremer Handelsregister die Firma Gebrüder Gansberg (Großhandel mit Marmelade, Zucker und Salzheringen) neu eintragen. Der Mitinhaber, sein Bruder Fritz Wilhelm (1904‒1945), wurde als vermisst gemeldet und lange Zeit bestand die Hoffnung, er könne noch am Leben sein.

[10] Es ist das Verdienst des Stadtteil- und Häuserhistorikers Peter Strotmann (Schwachhausen Archiv Bremen), das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Fritz Gansberg und Marie Luise Gansberg abschließend geklärt zu haben. Für sein Feingefühl, die großzügige Übermittlung von Rechercheergebnissen und das anhaltende Engagement schulde ich Herrn Strotmann großen Dank.

[11] Theo Dietrich: Die pädagogische Bewegung „Vom Kinde aus“, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1963 (2. Aufl. 1967). Rainer Jansing, Lothar Müller: Motive der Bildungskritik in der Anfangsphase der Reformpädagogik um 1900. Dargestellt an den kulturkritischen und reformpädagogischen Schriften von Fritz Gansberg, Ludwig Gurlitt, Ellen Key, Paul de Lagarde, Julius Langbein und Heinrich Scharrelmann, Hamburg, Hochschule der Bundeswehr, Diplomarbeit von 1979. Renate Bienzeisler: Der Bremer Reformpädagoge Fritz Gansberg. Ein Beitrag zur Historiographie der Reformpädagogik, Bochum: Schallwig 1986.

[12] Für das großzügige Angebot, den zwischen Johanna Berner und Friedrich Wilhelm Gansberg geschlossenen Mietvertrag einsehen zu können, haben Peter Strotmann und ich Gisela Bastian sehr zu danken.

[13] Haus Nummer 7 in der Graf-Moltke-Straße war zu keinem Zeitpunkt im Besitz von Fritz oder Johannes Gansberg. Das Haus gehörte Johanna Berner, die es ihrem Sohn Fritz Berner weitervererbte.

[14] Am Schulunterricht zeigte sich Marie-Luise desinteressiert. Becker kann sich keinen Reim daraus machen, wie sie durchs Abitur kam, jedenfalls bestand sie (Note 2 in Englisch, Geschichte und Kunsterziehung, Note 3 in Deutsch, Französisch, Latein und Musik, Note 4 in Erdkunde, Mathematik, Physik und Chemie; vom Sportunterricht war sie durch Attest befreit). Staatsarchiv Bremen: 4,39/42-56. Kurioserweise war Gansberg mit der besten Schülerin Renate Ubbelohde eng befreundet. Ihre Interessenschwerpunkte lagen außerhalb der Schule: amerikanische Literatur, Film, Jazz.

[15] Brief von Eva D. Becker an die Verf., St. Ingbert, 12.12.2017.

[16] Anonym: Scharrelmann, 1) Heinrich, in: Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden, 17., völlig neu bearb. Aufl. des Großen Brockhaus, Bd. 16, Wiesbaden: Brockhaus 1973, S. 580.

[17] Renate Bienzeisler beantwortete die Vielzahl meiner Fragen zu Fritz Gansberg geduldig und kenntnisreich, wofür ihr mein nachdrücklicher Dank gilt.

[18] K.: Schöpfer der Bremer Schulfibel. Fritz Gansberg, ein bedeutender Bremer Pädagoge, in: Weser-Kurier 6, 1950, Nr. 39, 16.2.1950, S. 3.

[19] Hinrich Wulff: Gansberg, Fritz, in: Neue Deutsche Biographie 6, 1964, S. 66‒67.

[20] Brief von Rainer Maria Rilke an Fritz Gansberg, Prag, 25.10.1905. Literaturarchiv Marbach: A:Rilke.

[21] Die städtische Nervenklinik Osterholz-Ellen lag in dem zur Gemeinde Osterholz gehörenden Ellen.

[22] Im Sterberegister Frieda Gansberg 1897‒1948 wird als Todesursache „Suicidverdacht, Lungenödem“ angegeben. Staatsarchiv Bremen 4,60/5 Br.-Mitte Reg.-Nr. 2015/1948. Grace Schierenbeck, geb. Rathjen, gab mir am 1.9.2021 die Auskunft, Marie-Luises Mutter sei schizophren gewesen und habe sich mit Rattengift getötet.

[23] Eine deutsche SPD-Politikerin (1941‒2001), die in der DDR lebte.

[24] Brief von Eva D. Becker an die Verf., St. Ingbert, 20.8.2017.

[25] Was es für ein Kind bedeutet, unter solchen Umständen seine Mutter zu verlieren, wird in der Autobiografie Der Junge muss mal in die frische Luft. Meine Kindheit und ich (2014) sehr anschaulich beschrieben: Die schwer depressive Margret Kerkeling nahm sich, als ihr Sohn Hanspeter neun Jahre alt war, mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben.

[26] Brief von Eva D. Becker an die Verf., St. Ingbert, 20.8.2017. In den 1970er-Jahren veröffentlichte Horst-Eberhard Richter, Direktor des Zentrums für Psychosomatische Medizin an der Universität Gießen, im Rowohlt Verlag (Reinbek bei Hamburg) eine beispiellose Serie von Bestsellern: Die Gruppe: Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien. Psychoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen (1972). Lernziel Solidarität (1974). Flüchten oder standhalten (1976). Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen (1979).

[27] Eva D. Becker: Gerda Becker ‒ 94 Jahre Erziehung. Die Person, die Institutionen und das „Geheimnis“. Mit einem Nachwort von Anne Fischer-Buck, Norderstedt: Fischer 2003.

[28] Der Nachruf von Renate Felter-Ubbelohde, aus dem ich zitiere, wurde bei der Trauerfeier für Marie Luise Gansberg in Marburg am 16.2.2003 verlesen und zusammen mit anderen Texten zu einem späteren Zeitpunkt von Freia Meyer zu einer Gedenkschrift zusammengestellt. Die nicht für den Druck bestimmte Textsammlung (keine Seitenzählung!) trägt den Titel „Marie Luise Gansberg 4. Mai 1933 ‒ 4. Februar 2003“ und enthält ‒ in der genannten Reihenfolge ‒ die posthumen Würdigungen von Freia Meyer, Eva D. Becker, Renate Felter-Ubbelohde, Guntram Vogt, Madeleine Marti, Elke zur Nieden und Heinrich Brinkmann sowie Gedichte bzw. Gedichtauszüge von Pedro Calderón de la Barca, Heiner Müller, Marie Luise Kaschnitz, Anna Rheinsberg, Friedrich Hölderlin, Christa Reinig, Rose Ausländer und Helga Unger.

[29] Zu Grace Rathjen vgl. Alexander Burchard, Gabriele von Mickwitz: „… alle Deine Wunder“. Der letzte deutsche Propst in Riga erinnert sich (1872‒1955) (Schriftenreihe der Carl-Schirren-Gesellschaft; 10), Norderstedt: Books von Demand 2009, S. 423.

[30] „Darum halte ich es jetzt für das Beste, zuerst meine sprachlichen Kenntnisse zu verbessern und Stenographie und Schreibmaschine zu lernen, damit ich als Fremdsprachenkorrespondentin arbeiten kann, wenn aus dem Plan, bei der Presse zu arbeiten, nichts werden sollte“. Lebenslauf der Marie Luise Gansberg, Bremen, 1.12.1952. Staatsarchiv Bremen: 4,39/42-56.

[31] Marie Luise Gansberg 4. Mai 1933 ‒ 4. Februar 2003 (unveröffentlichte Gedenkschrift), Nachruf Eva D. Becker.

[32] Universität Göttingen SS 1954 bis WS 1954/55, Universität Marburg SS 1955 bis SS 1956, Universität Hamburg WS 1956/57, Universität Marburg SS 1957 bis SS 1959, Universität Heidelberg WS 1959/60 bis WS 1961/62.

[33] Marie Luise Gansberg: Der Prosa-Wortschatz des deutschen Realismus. Unter besonderer Berücksichtigung des vorausgehenden Sprachwandels 1835–1855 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; 27), Bonn: Bouvier 1964, S. V.

[34] Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 30, 1956, S. 267‒294.

[35] Germanisch-romanische Monatsschrift N. F. 2, 1951/52, S. 36‒47.

[36] Germanisch-romanische Monatsschrift N. F. 7, 1957, S. 244‒253.

[37] Wolfdieter Rasch (Hrsg.): Festschrift für Franz Rolf Schröder. Zu seinem 65. Geburtstag, Heidelberg: Winter 1959, S. 214–228.

[38] Gansberg: Der Prosa-Wortschatz, 1964, S. IX‒XXI.

[39] Ebd., S. XVII.

[40] Ebd., S. XIX

[41] Ebd., S. XVII.

[42] Werner Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert, Berlin: Bondi 1903.

[43] Georg Lukács: Essays über Realismus, Berlin: Aufbau Verlag 1948. Ders.: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Bern: Francke 1951. Ders.: Probleme des Realismus, Berlin: Aufbau-Verlag 1955 (hierbei handelt es sich um die zweite Auflage der Essays über Realismus).

[44] Eva D. Becker: Der deutsche Roman um 1780. Mit einem Vorwort von Friedrich Sengle (Germanistische Abhandlungen; 5), Stuttgart: Metzler 1964. Der Seitenumfang der gedruckten Fassung von Beckers Dissertation beträgt 231 Seiten, der Gansbergs 313.

[45] Im Bouvier-Verlag war 1954 die 424 Seiten umfassende Dissertation von Jürgen Habermas ‒ Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken ‒ erschienen.

[46] 1955‒1999 sind in der Verlagsreihe „Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft“ 402 Bände erschienen. Der Exemplifikation mögen drei weitere Titel aus dieser Reihe dienen: Dietrich Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik. Ein Beitrag zur Publizistik im Dritten Reich, 2., verb. u. mit einem Register ausgestattete Aufl. Bonn: Bouvier 1963 (1. Aufl. 1960, 4. Aufl. 1985). Hans Norbert Fügen: Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie und ihre Methoden. Ein Beitrag zur literatursoziologischen Theorie, Bonn: Bouvier 1964 (6. Aufl. 1974). Marion Beaujean: Der Trivialroman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Ursprünge des modernen Unterhaltungsromans, Bonn: Bouvier 1964 (2., erg. Aufl. 1969).

[47] Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815‒1848, Bd. 3: Die Dichter, Stuttgart: Metzler 1980, darin: „VERZEICHNIS der im Zusammenhang mit dieser Epochendarstellung entstandenen Dissertationen in chronologischer Reihenfolge“ (S. 1073‒1074).

[48] Werner Weiland: Der junge Friedrich Schlegel oder die Revolution in der Frühromantik (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur; 6), Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer 1968. Die Arbeit im Umfang von 58 Seiten enthält einen Abschnitt „Zur Emanzipation der Frauen und der Sklaven“. ‒ Siehe auch Werner Weiland: Politische Romantikinterpretation, in: Dieter Bänsch (Hrsg.), Zur Modernität der Romantik (Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften; 8), Stuttgart: Metzler 1978, S. 1‒59.

[49] Werner Weiland: Die Revolution in der deutschen Frühromantik. Der junge Friedrich Schlegel, Heidelberg, Philosophische Fakultät, Dissertation vom 24. Febr. 1964, ungezählte Seite nach S. 60 (Lebenslauf). Universitäts- und Staatsbibliothek Köln: U67/7951.

[50] Der aus Sachsen stammende germanistische Mediävist Peter von Polenz (1928‒2011) war wegen Berufsverbots in die BRD geflohen. Er hatte sich 1959 in Marburg habilitiert, ehe er 1961 an die Universität Heidelberg wechselte, wo er 1964 eine ordentliche Professur für deutsche Philologie und Linguistik erhielt.

[51] Für das Marburger Germanistenfest 1958 verfassten Studierende einen „Choral der Senglisten“, in dem es heißt: „Warum ist nach Bee von Wiese / die Tendenz der Analyse | Unsrer gegenwärtigen Krise / eine so besonders miese? | Das lernen wir im Audi max von zwölf bis eins, von zwölf bis eins | Und es versetzt uns keinen Schock: Das liegt alles am Barock.“ Das Informationsblatt, dem diese Zeilen entstammen, machte mir Eva D. Becker in Kopie zugänglich.

[52] Elisabeth Blochmann (1892‒1972), 1952‒1960 die erste Professorin für Pädagogik in Marburg, war 1934 nach England emigriert und korrespondierte zwischen 1918 und 1969 mit Martin Heidegger. Vgl. Eva D. Becker: „Armes Deutschland“ – „Glückliches England“: Elisabeth Blochmann in Oxford 1934 bis 1952, in: Pädagogische Rundschau 59, 2005, 4, S. 433‒450.

[53] Die Aussage zielt einerseits auf die Sprachwissenschaftlerin Luise Berthold (1891‒1983), andererseits auf Elisabeth Blochmann. Anlässlich des Marburger Germanistenfestes 1958 charakterisierten Studierende Berthold in ihrem „Germanistenlexikon“ wie folgt: „Emeritierte Philologin, privater Sprachatlas; vertritt heterogenste studentische Belange; atavistische Rhetorik und Garderobe verbergen einen exceptionell altruistischen Charakter.“

[54] Mit „Völker“ ist der germanistische Mediävist, politische Aktivist und Marxist Paul-Gerhard Völker (1937–2011) gemeint.

[55] Gekämpft wurde für mehr weibliches Hochschulpersonal im Mittel- und Oberbau. Eva D. Becker: Alma Mater ‒ Mutter Universität? Zur Geschichte der Frauen an der Universität des Saarlandes, in: Annette Keinhorst, Petra Messinger (Hrsg.), Hilde Hoherz (Mitarbeit), Die Saarbrückerinnen. Beiträge zur Stadtgeschichte, St. Ingbert: Röhrig 1998, S. 277–294.

[56] Eine Buchhändlerin in Gießen. Meyer versorgte Gansberg mit Literatur, begleitete die Sterbende im Marburger Hospiz und organisierte die Trauerfeier zu Ehren der Verstorbenen.

[57] Doktorandin von Gansberg in den Jahren 1988‒1991. Vgl. Madeleine Marti: Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbischer Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart: M & P, Verlag für Wissenschaft und Forschung 1991 (1992 neu aufgelegt in der Reihe „Metzler-Studienausgabe“).

[58] Madeleine Marti: Lesbische Lichtblicke: Die erste Lesbenorganisation und die erste lesbisch-schwule Zeitschrift in der Schweiz der 30er Jahre, in: Eva Rieger, Hiltrud Schroeder (Hrsg.), „Diese Frau ist der Rede wert“. Festschrift für Luise Pusch (Thetis; 11), Herbolzheim: Centaurus 2004, S. 86–98.

[59] E-Mail von Roger Paulin an die Verf., Cambridge, 9.1.2018. Vgl. Roger Paulin: Gryphius’ Cardenio und Celinde und Arnims Halle und Jerusalem, Heidelberg, Philosophische Fakultät, Dissertation vom 29. November 1965. Paulin lehrte von 1989 bis zu seiner Emeritierung 2005 an der Universität Cambridge Germanistik. Vgl. Thomas Bürger: Ein Leser par excellence ‒ Roger Paulin zum 80. Geburtstag, URL: https://blog.slub-dresden.de/beitrag/2017/12/18/-ein-leser-par-excellence-roger-paulin-zum-80-geburtstag/ (18.12.2017).

[60] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 26.6.1962: „[…] am Vormittag verkündete der Dekan Baldinger mir das ‚Bestanden‘, die Noten und händigte mir eine vorläufige Bestätigung des Examens ein. Also: Arbeit von beiden Gutachtern mit Magna cum laude, der eine (Henkel) knüpft allerdings die Bedingung einer ‚stilistischen Überarbeitung‘ daran!! Im Mündlichen Cum laude. Bunte Reihe, wie vermutet: Sengle eins, Sternberger zwei, Wapnewski: rite! Aber die Ehre ist mit dem Zweier-Prädikat ja noch gerade gerettet, Sengle atmete sichtlich auf, als er es am Nachmittag hörte!“

[61] Sie trat die Stelle am 1.8.1962 an (Personalakte Gansberg der Universität München, Laufzeit: 1962‒1970. Universitätsarchiv Marburg: 305 f Nr. 802). Ab 1.1.1963 war sie „geschäftsführender Assistent“.

[62] Briefkarte von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 7.5.1962.

[63] Die Stelle wurde bis 30.4.1965 verlängert. Brief von Friedrich Sengle an das Rektorat der Universität Heidelberg, Heidelberg, 14.5.1964. Personalakte Gansberg der Universität München, Laufzeit: 1962‒1970. Universitätsarchiv Marburg: 305 f Nr. 802.

[64] Marie Luise Gansberg: Zur Sprache in Hebbels Dramen, in: Helmut Kreuzer (Hrsg.), Hebbel in neuer Sicht (Sprache und Literatur; 9), Stuttgart: Kohlhammer 1963 (2., durchges. Aufl. 1969), S. 59–79. Zu dem Band trugen des Weiteren bei: Wolfgang Hecht, Jost Hermand, Helmut Kreuzer, Ingrid Kreuzer, Wolfgang Liepe, Fritz Martini, Peter Michelsen, Joachim Müller, Lawrence Ryan, Martin Stern, Benno von Wiese, Wolfgang Wittkowski und Klaus Ziegler.

[65] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 12.5.1962.

[66] Auskunft Roger Paulin.

[67] Kurzbrief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 20.8.1964. Gansberg wollte in Berlin zu Heinrich Mann forschen.

[68] Jürgen Habermas: Karl Löwiths stoischer Rückzug vom historischen Bewußtsein, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 17, 1963, 185, S. 576‒590. Wiederabdruck in: Jürgen Habermas: Theorie und Praxis – Sozialphilosophische Studien, Neuwied, Berlin: Luchterhand 1963, S. 352‒370 (von Gansberg herangezogene Ausgabe). Wiederabdruck in: Jürgen Habermas: Philosophisch-politische Profile [Essays zu Heidegger, Jaspers, Löwith, Wittgenstein, Bloch, Herbert Marcuse, Adorno, Arnold Gehlen], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 116‒140.

[69] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 26.10.1964.

[70] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 17.1.1965.

[71] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 26.10.1964.

[72] Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Leipzig: Kröner 1924. Vgl. auch Dieter Borchmeyer (Hrsg.): „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Nietzsche und die Erinnerung in der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.

[73] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 17.1.1965.

[74] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 25.1.1965.

[75] Der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1908‒1982) leitete 1950‒1967 die von ihm gegründete Klinik für Psychosomatische Medizin an der Universität Heidelberg und 1960‒1976 das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Vgl. Alexander Mitscherlich, Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München: Piper 1967 (23. Aufl. 2012).

[76] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 17.1.1965.

[77] Walter Jens (1923‒2013) habilitierte sich 1949 über „Tacitus und die Freiheit“. Seit 1950 gehörte er der Gruppe 47 an. 1963‒1988 lehrte er Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen.

[78] Hans Egon Holthusen (1913‒1997) absolvierte ein Studium der Germanistik. Bis 1961 lebte er als freier Schriftsteller. 1961‒1964 war er Programmdirektor am Goethe-Haus in New York. Die Berliner Akademie der Künste, der er seit 1956 als Mitglied angehörte, verließ er 1983 mit der Begründung, unter der Präsidentschaft von Günter Grass habe sich die Akademie zum „Instrument der Friedensbewegung“ und der politischen Linken entwickelt. Vgl. Carmen Asshoff: Hans Egon Holthusen, in: Dieter-Rüdiger Moser (Hrsg.), Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945, München: dtv 1993, S. 541‒544, hier S. 541.

[79] Der österreichische Zoologe und Medizin-Nobelpreisträger Konrad Lorenz (1903‒1989) erforschte die Psychologie von Tieren.

[80] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 17.1.1965.

[81] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 21.2.1965. Gansbergs allmähliche Abnabelung von Sengle macht auch ihr Brief vom 21.2.1965 an Eva D. Becker sichtbar: „Ich hörte auch mal wieder einige Vorlesungen von Sengle (wie 59 Modernes Drama ‒ er ist nun wieder ‚durch‘ mit dem Repertoire) und lernte allerhand. Einmal Ähnlichkeit mit Lukács, wenn er gegen die faschistische u. präfaschistische Barbarei zu Felde zieht (inclusive den ganzen unzureichenden Verallgemeinerungen) und andererseits das regressiv abgeschirmte Bewußtsein gegen Sternheim, Brecht, usw. Das ist ja alles noch viel bornierter als es uns 59 schon vorkam, wo man natürlich auch noch nicht viel wußte. Er behauptet ja nun sogar schon, das wahre Talent, das Brecht einmal ausstechen könnte, säße viell. irgendwo im Verborgenen, viell. sei es Johst oder so jemand, den die Demokratie u. die Gruppe 47! nicht hochkommen ließen. Worauf ich nur sagen konnte, Jünger u. Co hätten bereits eine Gesamt-Ausgabe.“

[82] Aufgrund der Toxizität bei höheren Dosen werden Barbiturate heute nicht mehr als Tranquilizer und als Hypnotika verwendet.

[83] Sich an Eva D. Becker richtend, betonte Müller-Seidel 1997 sein durchgehend gutes Verhältnis zu Sengle: „Ich sende Ihnen beiliegend, wie versprochen, meinen Nachruf auf Friedrich Sengle. Wir haben uns gegenseitig geschätzt und keinen Streit miteinander gehabt. Bis in die letzten Jahre hinein haben wir ‒ Frau Kuhn, meine Frau und ich ‒ Sengles, meistens im November, besucht. Den Biedermeier-Begriff habe ich nie akzeptiert, das wußte er. Wie sich [Jost] Hermand in seiner miserablen ‚Geschichte der Germanistik‘ äußert, finde ich ungeziemend.“ Brief von Walter Müller-Seidel an Eva D. Becker, München, 23.6.1997.

[84] Der germanistische Mediävist Hugo Kuhn besuchte als Tübinger Student verstärkt die Vorlesungen von Paul Kluckhohn und Hermann Schneider.

[85] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 21.2.1965. Manfred Windfuhr nennt Friedrich Sengle den bedeutendsten Historiker unter den Neugermanisten nach 1945. Vgl. Manfred Windfuhr: Sengle, Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie 24, 2010, S. 260‒261, hier S. 261.

[86] Brief von Marie Luise Gansberg an Eva D. Becker, Heidelberg, 17.1.1965.

[87] Die Stelle wurde, wie auch andere Forschungsstellen an der Universität München, von der Bertelsmann-Stiftung finanziert.

[88] Der spätere SPD-Politiker Peter Glotz (1939‒2005) und der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang R. Langenbucher gaben 1965 die um Nostalgiefreiheit bemühte Anthologie Versäumte Lektionen. Entwurf eines Lesebuches (Gütersloh: Sigbert Mohn Verlag) heraus (letzte nachweisbare Ausgabe 1980). Siehe die anonyme Besprechung „Lesebücher. Dunkles Geraune“ in: Der Spiegel 19, 1965, Nr. 47, 17.11.1965, S. 144, 147.

[89] Sigbert Mohn (Sigbert Mohn Verlag Gütersloh, Schwerpunkte: Literatur, Kunst, Zeitgeschichte und Jugendbuch), Bruder von Gerd Mohn (Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn) und Reinhard Mohn (Bertelsmann Verlag), musste 1967 Insolvenz anmelden.

[90] Eva D. Becker: Nachwort, in: dies., Literarisches Leben. Umschreibungen der Literaturgeschichte (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft; 45), St. Ingbert: Röhrig 1994, S. 233.

[91] Sengle promovierte und habilitierte bei Paul Kluckhohn (1886‒1957). 1956‒1961 gab er die 1923 von Kluckhohn und Erich Rothacker gegründete Zeitschrift Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte heraus. 1965 etablierte er zusammen mit Richard Brinkmann und Klaus Ziegler die Reihe „Studien zur deutschen Literatur“ (Tübingen: Niemeyer), 1976 in Verbindung mit Georg Jäger und Alberto Martino die Zeitschrift Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur. Vgl. Dirk Niefanger: Sengle, Friedrich, in: Christoph König (Hrsg.), Internationales Germanistenlexikon 1800‒1950, Bd. 3: R‒Z, Berlin, New York: De Gruyter 2003, S. 1714‒1715, hier S. 1715.

[92] Ludwig-Maximilians-Universität München: Personen- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1965/66, München: Verlag Uni-Druck 1965, S. 151. Fromm, Kuhn, Müller-Seidel und Sengle gaben zwischen 1966 und 1976 im Kohlhammer-Verlag die auf 24 Bände anwachsende Reihe „Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur“ heraus

[93] Da Gansberg sich erst am 1.5.1965 auf eine wissenschaftliche Assistentenstelle bewarb, erhielt sie bis zur Vereidigung am 29.7.1965 übergangsweise das Gehalt einer wissenschaftlichen Hilfskraft. Personalakte Gansberg der Universität München, Laufzeit: 1962‒1970. Universitätsarchiv Marburg: 305 f Nr. 802.

[94] Ebd.

[95] Mündliche Mitteilung Madeleine Marti, Zürich.

[96] Auskunft Walter Pietrusziak, DFG, zuständig für die Aufgabengebiete Informationstechnik und Infrastruktur. Vgl. Eckhard Heftrich, Paul-Gerhard Klussmann, Hans Joachim Schrimpf (Hrsg.): Stefan-George-Kolloquium, Köln: Wienand 1971, S. 13 (in der Teilnehmerliste ist Gansberg verzeichnet). Die Diskussionsbeiträge zum Kolloquium sind im Band dokumentiert. Vorträge hielten Roger Bauer, Claus Victor Bock, Hans-Georg Gadamer, Rainer Gruenter, Vincent J. Günther, Gerhard Hay, Urs Jaeggi, Horst Keller, Paul Gerhard Klussmann, Peter Plütz, Erwin Rotermund, Kurt Lothar Tank und Kurt Weigand.

[97] Brief von Friedrich Sengle an Eva D. Becker, München, 15.12.1970.

[98] Über das Typoskript mit der Signatur 03WH/CA/10,1 aus dem Nachlass von Walter Höllerer (Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg) setzte mich Sandra Schell, Doktorandin an der Universität Heidelberg, am 2.7.2021 in Kenntnis. Darüber hinaus machte Frau Schell mich darauf aufmerksam, dass 2020 zu Ehren von Manfred Windfuhr, der in jenem Jahr seinen 90. Geburtstag beging, ein Kolloquium angedacht war. Der Geehrte schlug stattdessen ein Kolloquium zur Sengle-Schule vor, das allerdings aufgrund der Corona-Pandemie nicht durchgeführt werden konnte. Auf diesem Hintergrund entstand der Aufsatz von Yvonne Zimmermann und Sandra Schell zur Sengle-Schule am Beispiel von Marie Luise Gansberg und Jost Hermand (Druck in Vorbereitung).

[99] Möglicherweise wird hier auf die ein neues Thema erschließende Studie Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein (Neuwied: Luchterhand 1961, 2. Aufl. 1967), verfasst von Jürgen Habermas in Verbindung mit Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler und Friedrich Weltz, angespielt.

[100] Vgl. auch die Übersichtsarbeit: Marie Luise Gansberg: Massenemigration deutscher Schriftsteller 1933‒47, in: Beiträge zu den Fortbildungskursen des Goethe-Instituts für ausländische Deutschlehrer an Schulen und Hochschulen 2, 1966, S. 24‒29.

[101] Anonym: Studenten / SDS. Sex und Marx, in: Der Spiegel 21, 1967, Nr. 29, 10.7.1967, S. 27. Vgl. auch Richard Heigl: Oppositionspolitik. Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken, Hamburg: Argument-Verlag 2008.

[102] Heinz Jung: Abendroth-Schule, in: Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1: Abbau des Staates bis Avantgarde, Hamburg, Berlin: Argument-Verlag 1994, Sp. 21‒29, Sp. 22: „In den 1950er und 60er Jahren war Abendroth der einzige offen als Marxist auftretende Hochschullehrer in der BRD.“

[103] Christine Schäfer, Christiane Wilke: Die Neue Frauenbewegung in München 1968‒1985. Eine Dokumentation, hrsg. von der Frauenakademie München e.V., München: Buchendorfer Verlag 2000.

[104] apo press ‒ Informationsdienst für die Außerparlamentarische Opposition 1, 1968, Nr. 17, 23.9.1968, S. 7.

[105] Der Faksimile-Nachdruck erschien in der Reihe „Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des 18. Jahrhunderts“ (1964‒1975) des Metzler Verlages. Die Herausgeber der Sammlung „Deutsche Neudrucke“ waren Karl Stackmann, Erich Trunz, Paul Böckmann, Friedrich Sengle, Arthur Henkel und Walther Killy. Die Herausgabe der „Texte des 18. Jahrhunderts“ lag in der Verantwortung von Paul Böckmann und Friedrich Sengle.

[106] Ira Wilhelm: Wilhelm Heinse liest Jean Paul, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 34, 1999, S. 144‒155.

[107] Welt-Verlachung und „das rechte Land“. Ein literatursoziologischer Beitrag zu Jean Pauls Flegeljahren, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42, 1968, S. 373–398. Wiederabdruck in: Uwe Schweikert (Hrsg.): Jean Paul (Wege der Forschung; 336), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, S. 353–388. Der Sammelband vereinigt Beiträge von Uwe Schweikert (Einleitung), Friedrich Theodor Vischer, Lucie Stern, Käte Hamburger, Walter Benjamin, Emil Staiger, Eduard Berend, Roger Ayrault, Peter von Haselberg, Herman Meyer, Robert Minder, Kurt Wölfel, Ralph-Rainer Wuthenow, Berhard Böschenstein, Marie-Luise Gansberg, Heinz Schlaffer, Burkhardt Lindner und Ursula Naumann.

[108] Marie Luise Gansberg an Werner Heisenberg, München, 12.6.1967. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Nachlass Werner Heisenberg: Abt. III., Rep. 93, Nr. 172, S. 179‒182, hier S. 181. Mit Unterschriftenliste versehen, sollte die Münchener Erklärung an die Berliner Universitätspräsidien, den Akademischen Senat wie auch den AStA der FU und die Presse-Agenturen gesandt werden; die Aktion kam aber offenbar mangels Zuspruch nicht zustande.

[109] Wie er die „unzumutbaren Verhältnisse“ verstanden wissen will, teilte Paulin mir am 4.1.2018 in einer E-Mail mit: „Damit kein Missverständnis vorliegt: Ich war nie ein Anhänger von 1968. Was ich ‚unzumutbare Verhältnisse‘ nenne, ist die mangelhafte Karrierestruktur an deutschen Universitäten, die sich trotz oder vielleicht gerade wegen 1968 kaum gebessert hat: Macht der Ordinarien, überlange Habilitationen ohne Karrierechancen (Habilitierte mit 50 noch brotlos), Abhängigkeitsverhältnis der Assistenten u.a.m. Das zumindest hat das anglo-amerikanische Uni-System einigermaßen hingekriegt, das deutsche bis jetzt nicht oder höchstens mit Strukturen, die nicht funktioniert haben (Juniorprofessoren, Exzellenzinitiativen). Diese Faktoren gerieten im Trubel des 68er-Geschehens leicht aus dem Blickfeld und eine berechtigte und höchst nötige Reformwelle an den deutschen Unis wurde politisiert.“

[110] Briefkarte von Marie Luise Gansberg an Friedrich Sengle, ohne Ort, 1.1.1968. Das Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf hat den umfangreichen Nachlass Friedrich Sengle, in dem sich diese Karte befindet, übernommen.

[111] Der Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf (1880‒1931) gehörte zum George-Kreis.

[112] E-Mail von Roger Paulin an die Verf., Cambridge, 4.1.2018.

[113] Nachrichten für Germanisten an der Universität München, Flugblatt 9 (Verantwortlicher Redakteur: Christian Lesczcynski), 20.12.1967 (Umfang: 1 Blatt). Privatbesitz Holger Ambrosius, Berlin.

[114] Brief von Marie Luise Gansberg an Friedrich Sengle, Gießen, 10.11.1979. Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Nachlass Friedrich Sengle.

[115] In die Forschung eingeführt hat das Dokument Jörg Schönert: Walter Müller-Seidel in Konfliktkonstellationen an den Seminaren für Deutsche Philologie der LMU München in den Jahren um 1970, URL: http://www.walter-mueller-seidel.de/materialien.php (2011), S. 1‒19, hier S. 4‒8, 11.

[116] Wertvolle Unterstützung bei der Korrektur des von mir verfassten Völker-Artikels erhielt ich von der germanistischen Mediävistin Gisela Kornrumpf, München.

[117] Vgl. Hans-Wolf Jäger: Resignation als Gefühl, Stimmung, Haltung, Freiburg im Breisgau, Philosophische Fakultät, Dissertation vom 29. März 1960. Jägers Doktorvater, der Philosoph Max Müller (1906–1994), war der Lehrer von Odo Marquard (1928‒2015), der wiederum der Lehrer von Gansbergs Gießener Hochhausnachbarn Heinrich Brinkmann war.

[118] Vgl. Paul-Gerhard Völker: Die deutschen Schriften des Franziskaners Konrad Bömlin, Tl. 1: Überlieferung und Untersuchung (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters; 8), München: Beck 1964 [mehr nicht erschienen]. Völkers Doktorvater war Hugo Kuhn.

[119] Die Erziehungswissenschaftlerin Mechthild Wolff ordnet „fehlende Entschuldigungskultur dem Phänomen Kultur der Macht“ zu: Ursachen für Phänomene der Gewalt und des Machtmissbrauchs in Institutionen, http://www.bistum-muenster.de/downloads/Seel-sorge/2012/Ursachen_Gewalt_Machtmissbrauch120508.pdf (8.5.2012).

[120] Weiland wurde von Sengle mehr als publizistisches denn wissenschaftliches Temperament wahrgenommen (Brief von Friedrich Sengle an Eva D. Becker, München, 17.11.1967). Roger Paulin erlebte den Heidelberger Kommilitonen Weiland im Seminar als wenig kritikfähig.

[121] Bereits habilitiert, bewarb sich Völker 1976 an der Universität Bremen auf eine Hochschullehrerstelle auf Lebenszeit. Die Akten zu dieser Bewerbung dokumentieren die Rat- und Hilflosigkeit der Berufungskommission angesichts des unter der Regierung von Willy Brandt auf den Weg gebrachten, jedoch heftigst umstrittenen Radikalenerlasses, der die Überprüfung der Verfassungstreue von sich für den öffentlichen Dienst Bewerbenden und der im öffentlichen Bereich Beschäftigten vorsah.

[122] Beide Stellungnahmen werden auf der verdienstvollen Website „Walter Müller-Seidel: Dokumente ‒ Informationen ‒ Meinungen ‒ Analysen“ (http://www.walter-mueller-seidel.de) angezeigt. Vgl. Walter Müller-Seidel: Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln, Graz: Böhlau 1961 (3. Aufl. 1971) (das Buch ging aus der Kölner Habilitationsschrift des Verfassers hervor). Ders. (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays (Wege der Forschung; 147), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967.

[123] Lehrauftrag Dr. Völker, in: Informationen der Seminare für Deutsche Philologie Universität München 2, 1969, Nr. 5, unpag. [S. 8]. Vgl. auch Jörg Schönert (Hrsg.): Zum Konflikt um den Lehrbeauftragten Paul Gerhard Völker (1968/69). Zwei Artikel in der Süddeutschen Zeitung, URL: http://www.walter-mueller-seidel.de/materialien.php. Siehe auch: Schönert: Walter Müller-Seidel in Konfliktkonstellationen, 2011, S. 7.

[124] Ich gebe die Meinung der germanistischen Mediävistin Erika Kartschoke wieder, die Paul-Gerhard Völker persönlich kannte.

[125] Diese Kunst setzt Empathie voraus. Vgl. Martina Hartkemeyer, Johannes F. Hartkemeyer, L. Freeman Dhority: Miteinander denken. Das Geheimnis des Dialogs, Stuttgart: Klett-Cotta 1998.

[126] Siehe die Zielsetzung des Hanuman-Instituts Berlins (http://www.hanuman-institut.de): „Mit unserem Engagement an verschiedenen Universitäten und Hochschulen […] leisten wir einen relevanten Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Verpflichtung gegenüber unserem Nachwuchs. […] Die Inhalte und Methoden unserer Seminare haben zum Ziel, Akademikerinnen und Akademikern eine ganzheitliche Einsicht in Kommunikationsprozesse zu geben, einschließlich Entscheidungs-, Konflikt- und unwillkürlicher Präsentationsprozesse sowie prozess-orientierte Führungskunst. Dabei sind wir weniger an kurzatmiger Informationsvermittlung interessiert als an dem Anstoßen eines langfristigen Selbstlernprozesses.“

[127] Nicht ohne Grund zierte Werner Weiland in seinem Artikel „Literaturwissenschaft, materialistische“ (erschienen in: Diether Krywalski [Hrsg.], Handlexikon zur Literaturwissenschaft, München: Ehrenwirth 1974, S. 281‒286) die Habilitationsschrift des mit Berufsverbot belegten Soziologen Horst Holzer (1935‒2000): Gescheiterte Aufklärung? Politik, Ökonomie und Kommunikation in der Bundesrepublik Deutschland, München: Piper 1971 (2. Aufl. 1972).

[128] Gert Melville, Karl S. Rehberg (Hrsg.): Dimensionen institutioneller Macht. Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2012. Helmut Willems, Dieter Ferring (Hrsg.): Macht und Missbrauch in Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven auf institutionelle Kontexte und Strategien der Prävention, Wiesbaden: Springer VS 2014.

[129] Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. V. „Der Dr. Georg Kuhlmann aus Holstein“ oder die Prophetie des wahren Sozialismus [entstanden 1845/46], in: Marx/Engels Werke, Bd. 3, Berlin: Dietz 1962, S. 521‒530, hier S. 514.

[130] Zu einigen populären Vorurteilen gegen materialistische Literaturwissenschaft, in: Marie Luise Gansberg, Paul Gerhard Völker, Methodenkritik der Germanistik. Materialistische Literaturtheorie und bürgerliche Praxis, Stuttgart: Metzler 1970 (4., teilw. überarb. Aufl. 1973), S. 7–39, 133–139. Siehe die unausgewogene, polemisch-attackierende Kritik, die Friedrich Sengle an diesem Aufsatz Gansbergs übte: Zur Überwindung des anachronistischen Methodenstreits in der heutigen Literaturwissenschaft [1972], in: ders., Literaturgeschichtsschreibung ohne Schulungsauftrag. Werkstattberichte, Methodenlehre, Kritik, Tübingen: Niemeyer 1980, S. 89‒102, hier S. 93‒94, 100.

[131] Jörg Drews: Für eine neue Germanistik. Diskussion in der Münchner Universität, in: Süddeutsche Zeitung 25, 1969, Nr. 21, 24.1.1969, S. 11. Jörg Drews wurde 1973 an der 1969 gegründeten Campus-Universität Bielefeld Professor für Sprach- und Stilkritik.

[132] Brief von Siegfried Unseld an Marie Luise Gansberg, Frankfurt am Main, 29.1.1969. Literaturarchiv Marbach: SUA:Suhrkamp/01 VL/Allg. Korresp.; SU.10.2.

[133] Brief von Siegfried Unseld an Marie Luise Gansberg, Frankfurt am Main, 19.8.1969. Literaturarchiv Marbach: SUA:Suhrkamp/01 VL/Allg. Korresp.; SU.10.2. ‒ Laut Vorlesungsverzeichnis der LMU München wohnte Gansberg in der „Clemensstraße 86/V“ in München-Schwabing, adressiert war das Schreiben jedoch an die „Clemensstraße 26, V. Stock“.

[134] Ähnlich auch das Urteil von Karl-Heinz Götze: „Bescheidenheit hätte Völker besser bei der Benennung seines zweiten, in diesen Sammelband aufgenommenen Aufsatzes ‚Skizze einer marxistischen Literaturwissenschaft‘ walten lassen sollen.“ Das Argument 14, 1972, Nr. 72, S. 352‒355, hier S. 353. Götze war 1974‒1981 Redakteur der Zeitschrift Das Argument. Vgl. auch Karl-Heinz Götze, Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Die Ästhetik des Widerstands lesen. Über Peter Weiss. Mit Beiträgen von Volker Braun, Christian Geissler, Lisa Abendroth, Wolfgang Abendroth, Wolfgang Fritz Haug, Jost Hermand u. a. (Literatur im historischen Prozess N. F.; 1), Berlin: Argument-Verlag 1981.

[135] Die Angaben zur Auflagenhöhe im Impressum lauten: 1.‒3. Tausend 1970, 4.‒6. Tausend 1971, 7.‒9. Tausend 1971, 10.‒13. Tausend 1973. Das Buch wurde vom Metzler Verlag bereits ein Jahr vor seinem Erscheinen beworben. Vgl. Jahrbuch für internationale Germanistik 1, 1969, S. 323 („150 Seiten, kartoniert 7, — DM“).

[136] Sabine Koloch: Rollenspektrumerfassung ‒ eine heuristische Methode zur Erschließung des Wirkungspotenzials von Autor/inn/en am Beispiel von Sidonia Hedwig Zäunemann. Mit Randbemerkungen zur Krise der literaturwissenschaftlichen Germanistik und mit Vorschlägen zu einem Literaturlexikon der Zukunft, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 48, 2016, 1, S. 73‒120, hier S. 110.

[137] Sabine Koloch: Des Kaisers neue Kleider: Über Erfolgssimulation, kontraproduktive Ausleseprozesse und Wissenschaftslenkung (URL: www2.bdwi.de/uploads/koloch_des_kaisers_neue_kleider.pdf; 21.09.2016), S. 11, Anm. 39: „Unter Grundlagenforschung verstehe ich Quellenerschließung, Datenerhebung, Faktengewinnung sowie Erarbeitung von fundamental neuen Fragestellungen, Methoden, Begrifflichkeiten, Theoriebausteinen“. Der Aufsatz erschien stark gekürzt in: Forum Wissenschaft [Marburg: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler] 33 (2016), Nr. 3, S. 47‒50.

[138] Ebd., S. 16: „Erfolg im Sinne von ‚erreichen‘ stellt sich bei wissenschaftlichen Großprojekten und bei Grundlagenforschung manchmal erst nach Jahrzehnten ein.“

[139] Es handelt sich bei dem Satz mit Ausnahme des fehlenden Kommas um die wörtliche Wiedergabe der ersten Refrainzeile der Internationalen, des Kampflieds der internationalen Arbeiterbewegung: „Völker, hört die Signale! | Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale | erkämpft das Menschenrecht.“

[140] Das Naturbild als politische Metapher im Vormärz, in: Jost Hermand, Manfred Windfuhr (Hrsg.), Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815‒1848. Forschungsreferate und Aufsätze. Friedrich Sengle zum 60. Geburtstag von seinen Schülern, Stuttgart: Metzler 1970, S. 405‒440. An der Festschrift beteiligten sich zwei Frauen, darunter die Studentin Ute Radlik, Düsseldorf.

[141] E-Mail von Roger Paulin an die Verf., Cambridge, 9.1.2018.

[142] Hartmuth Becker (Hrsg.): Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution, Graz, Stuttgart: Stocker 2003.

[143] Die vorliegenden Ausführungen zu Gansberg ergänzen die Darstellung von Ute Kätzel: Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, Berlin: Rowohlt 2002 (Neuausgabe Königstein im Taunus: Helmer 2008).

[144] Marie Luise Gansberg 4. Mai 1933 ‒ 4. Februar 2003 (unveröffentlichte Gedenkschrift), Nachruf Eva D. Becker.

[145] Am 22.9.1970 genehmigte der Kanzler der Universität Marburg Gansbergs Versetzungsantrag, am 8.10.1970 der Rektor der LMU, Peter Walter. Personalakte Gansberg der Universität München, Laufzeit: 1962‒1970. Universitätsarchiv Marburg: 305 f Nr. 802.

[146] Ebd., Nr. 800.

[147] Anne Rohstock: Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957‒1976, München: Oldenbourg 2010, S. 342: „Allein von 1970 bis 1972 […] wurden 480 wissenschaftliche Assistenten der Universitäten Gießen, Frankfurt und Marburg in den Dozentenstatus (284) und zu H2- (179) bzw. H3-Professoren (17) übergeleitet. Der überwiegende Teil fand demnach eine Anstellung als ‚Assistenzprofessor‘ (in Hessen: Dozenten) ‒ dem heutigen Juniorprofessor nicht unähnlich. Nicht mehr die Habilitation war entscheidend für die Ernennung, sondern eine herausragende Promotion und pädagogische Eignung. Der bisher im Vergleich zu den Professoren ‚rechtlose‘ Mittelbau der Universität sollte durch diese Maßnahme praktisch abgeschafft werden.“

[148] Personalakte Gansberg der Universität Marburg, Laufzeit: 1971 (Überleitung auf eine H3-Professur). Universitätsarchiv Marburg: 305 f Nr. 801. Zu den „Hessenprofessuren“ vgl. Eike Hennig: Links, jenseits der Realität. Wolfgang Abendroths Hoffen auf ein Fortwirken Walter Ulbrichts, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 46, 2007, Nr. 179, S. 120‒127.

[149] Catalogus professorum Academiae Marburgensis. Bearbeitet von Inge Auerbach (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen; 15/2), Bd. 2: Von 1911–1971, Marburg: Elwert 1979, S. 681.

[150] Gerhard Bauer studierte 1955‒1957 bei Sengle, Jost Hermand wurde 1955 von Sengle promoviert.

[151] „In seiner ungedruckten Habilitationsschrift (Kleist. Seine Lessing- und Schillerrezeption. Marburg 1984) ist Werner Weiland diesem Aspekt nachgegangen.“ Gerhart Pickerodt: Penthesilea und Kleist. Tragödie der Leidenschaft und Leidenschaft der Tragödie, in: Germanisch-romanische Monatsschrift N.F. 37, 1987, S. 52‒67, hier S. 66.

[152] Vgl. Werner Weiland: Büchners Spiel mit Goethemustern. Zeitstücke zwischen der Kunstperiode und Brecht, Würzburg: Königshausen und Neumann 2001.

[153] Im Literaturarchiv Marbach liegt ein von dem Romanisten Karlheinz Barck (1934‒2012) und Marie Luise Gansberg verfasstes Manuskript (2 Blatt), das von Luise Bertholt handelt.

[154] Von der LMU München kommend, verließ Barbara Bauer nach acht Jahren Marburg. Im Wintersemester 2017/18 lehrten am Marburger Institut für Neuere deutsche Literatur zwei Professorinnen: Jutta Osinski und Marion Schmaus (Zahlenverhältnis Frauen/Männer: 2 zu 5).

[155] Voss und Gansberg planten vor ihrem Tod unabhängig voneinander eine Publikation zu Ingeborg Bachmann (freundlicher Hinweis E. Theodor Voss, Marburg). Vgl. Helmuth Nürnberger: Nachruf auf Liselotte Voss, in: Fontane-Blätter 61, 1996, S. 201.

[156] Die Rolle der Pionierin bedeutet nach Britta Schinzel psychische Vereinzelung, sowohl als Frau unter Männern als auch unter anderen Frauen. Britta Schinzel: Informatik und weibliche Kultur, in: Wolfgang Coy, Frieder Nake, Jörg-Martin Pflüger, Arno Rolf, Jürgen Seetzen, Dirk Siefkes, Reinhard Stransfeld (Hrsg.), Sichtweisen der Informatik, Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1992, S. 249‒275, hier S. 268.

[157] Zum zeitgeschichtlichen Kontext vgl. Dieter Kramer, Christina Vanja (Hrsg.): Universität und demokratische Bewegung. Ein Lesebuch zur 450-Jahrfeier der Philipps-Universität Marburg (Schriftenreihe für Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung der Studiengesellschaft für Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung Marburg; 5), Marburg: Verlag Arbeiterbewegung und Gesellschaftswissenschaft 1977.

[158] Für diesen Hinweis danke ich Ulla Bock, Berlin.

[159] Vgl. Marie Luise Gansberg: Irmtraud Morgner in: Neue Deutsche Biographie, 18, 1997, S. 121–123.

[160] Die hierzu einschlägigen Aufsätze sind in dem von mir 2016/17 neu angelegten Wikipedia-Artikel zu Marie Luise Gansberg verzeichnet.

[161] Die erste mir bekannte deutschsprachige Veröffentlichung, bei der im Titel die Bezeichnung „feministische Literaturwissenschaft“ verwendet wird, stammt von der Anglistin Gudrun G. Boch: Feministische Literaturwissenschaft. Eine Bilanz und ein Plädoyer, in: Frauenstudien: Theorie und Praxis in den USA und Großbritannien (Gulliver. Deutsch-englische Jahrbücher; 10), Berlin: Argument-Verlag 1981, S. 38‒55.

[162] Zum Beispiel findet Marie Luise Gansberg keine Erwähnung bei Katrin Gut: Feministische Literaturwissenschaft, in: Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt, Klaus Weimar (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Berlin, New York: De Gruyter 1997, S. 575–577, und bei Ulla Bock: Pionierarbeit. Die ersten Professorinnen für Frauen- und Geschlechterforschung an deutschsprachigen Hochschulen 1984–2014 (Politik und Geschlechterverhältnisse; 55), Frankfurt am Main: Campus 2015.

[163] Der Bremer Frauenbuchladen Hagazussa lud Gansberg Ende 1988 ein, ihren Vortrag über unnütze Frauen in Bremen zu halten. Brief von Margrit von den Bula an Marie Luise Gansberg, Bremen, 31.1.1989. Privatbesitz Madeleine Marti, Zürich.

[164] Sabine Koloch: Wissenschaft, Geschlecht, Gender, Terminologiearbeit ‒ Die deutsche Literaturwissenschaft, München: Epodium Verlag 2017, S. 89–90, Anm. 253.

[165] Elke zur Nieden: Studien zum Frauenbild bei Franziska Gräfin zu Reventlow. Unter Berücksichtigung des gesellschaftlich-historischen Lebenszusammenhangs der Autorin, Universität Marburg, Fachbereich 09, Magisterarbeit 1984. Elke zur Nieden wurde 1954 in Marburg geboren. Ihr Erstlingsroman, die Kriminalsatire Eine Schlange frißt keinen Glencheck, erschien 1984 im nur kurze Zeit bestehenden Medea-Frauenverlag Frankfurt am Main (1981–1984) und 1990 in der Reihe „Die Frau in der Gesellschaft“ des Fischer Taschenbuch Verlages.

[166] Hans Heinz Holz (1927‒2011) war ein marxistischer Philosoph. Mit Holz’ Utopie und Anarchismus. Zur kritischen Theorie Herbert Marcuses eröffnete der in Köln ansässige Verlag Pahl-Rugenstein 1968 seine Reihe „Kleine Bibliothek Politik, Wissenschaft, Zukunft“.

[167] Marie Luise Gansberg 4. Mai 1933 ‒ 4. Februar 2003 (unveröffentlichte Gedenkschrift), Nachruf Elke zur Nieden.

[168] Helga Gallas: Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, Neuwied, Berlin: Luchterhand 1971 (17.‒213. Tausend 1974; Neuausgabe Frankfurt am Main: Verlag Roter Stern 1978). Helga Gallas lehrte 1974‒2005 Deutsche Literaturwissenschaft mit den Schwerpunkten Literaturtheorie und Interpretationsmethoden an der Universität Bremen.

[169] Gert Mattenklott, Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Literatur der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jahrhundert. Ansätze materialistischer Literaturwissenschaft: Analysen, Materialien, Studienmodelle (Literatur im historischen Prozeß; 1), Kronberg/Taunus: Scriptor Verlag 1973. Dies. (Hrsg.): Positionen der literarischen Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperialismus (Literatur im historischen Prozeß; 2), Kronberg/Taunus: Scriptor Verlag 1973. Vgl. auch Gert Mattenklott, Gerhart Pickerodt (Hrsg.): Literatur der siebziger Jahre (Literatur im historischen Prozeß N.F.; 8), Berlin: Argument-Verlag 1985.

[170] Fotis Jannidis: Marxistische Literaturwissenschaft, in: Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt, Klaus Weimar (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 2, Berlin, New York: De Gruyter 2000, S. 541‒546, hier S. 545.

[171] Barbara Seifert: Untersuchungen zum Liebesbegriff im Werk der Schriftstellerin Christa Wolf anhand ausgewählter Werke, Universität Marburg, Fachbereich 09, Magisterarbeit 1984.

[172] Barbara Seifert: Schriftstellerinnen in Marburg, in: „Kind. Weib. Geliebte. Mutter. Poet dazu.“ Autorinnen in Marburg. Texte der Schreibwerkstatt Marburg, Marburg: Verlag Blaues Schloss 2015, S. 85‒100.

[173] Anette (Anna) Rheinsberg: Leid als Prinzip. Das masochistische Frauenbild der Dichterin Claire Goll, Universität Marburg, Fachbereich 09, Magisterarbeit 1983. Vgl. auch Anna Rheinsberg [Hrsg.]: Bubikopf. Aufbruch in den Zwanzigern. Texte von Frauen, Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1988 (2. Aufl. 1989).

[174] Anna Rheinsberg: Das grüne Kleid. Ein Reigen, Hamburg: Edition Nautilus 2011, S. 50‒53, hier S. 52.

[175] Ahima Beerlage: Lesbisch. Eine Liebe mit Geschichte, Berlin: Krug & Schadenberg 2018, S. 27.

[176] Ebd., S. 26‒27.

[177] Heinrich Brinkmann: Von Demos, Teach-ins, Kinderläden. Die Studentenbewegung der späten 60er und frühen 70er Jahre in Gießen, in: Spiegel der Forschung. Wissenschaftsmagazin [Universität Gießen] 24, 2007, 2, S. 63‒71. Vgl. auch Otto Wilfert (Hrsg.): Lästige Linke. Ein Überblick über die außerparlamentarische Opposition der Intellektuellen, Studenten und Gewerkschafter, Mainz: Barbara Asche Verlag für politische Texte 1968 (3., verb. u. akt. Aufl. 1968).

[178] Sie zog von der Weidenhäuser Straße 7 unweit der in Türmen untergebrachten Geisteswissenschaftlichen Institute der Universität Marburg in das 15-stöckige Gießener Hochhaus Diezstraße 7 mit Blick auf die Dächer der Stadt und das Gleiberger Land. Die im siebten Stock befindlichen Wohnungen von Brinkmann und Gansberg lagen einander gegenüber.

[179] Marie Luise Gansberg 4. Mai 1933 ‒ 4. Februar 2003 (unveröffentlichte Gedenkschrift), Nachruf Heinrich Brinkmann.

[180] Mechthild Beerlage: Formen der Satire im Werk Christa Reinigs und die Rezeption in der Literaturkritik, Universität Marburg, Fachbereich 09, Magisterarbeit 1986. Vgl. auch Ahima Beerlage: Sterne im Bauch. Roman, Berlin: Krug und Schadenberg 1998.

[181] Koloch: Wissenschaft, Geschlecht, Gender, Terminologiearbeit, 2017, S. 87: „Der Verlag Frauenoffensive München wurde 1974 von achtzehn Frauen der Münchner Frauenbewegung gegründet. Er gilt als das älteste autonome feministische Projekt Deutschlands. Im Themenheft Lyrik des Frauenoffensive Journals kam 1978 die ‚Deutsche Literaturliste‘ zum Abdruck […]. Verlag und Liste sind Dokumente von Frauenkultur in Reinform“.

[182] Brief von Marie Luise Gansberg an Friedrich Sengle, Gießen, 11.11.1985. Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Nachlass Friedrich Sengle. ‒ Zur Redaktion der Zeitschrift Text + Kritik (1963‒) gehört aktuell eine Frau (Claudia Stockinger). Von den unzähligen Heften dieser Zeitschrift, die im Zeitraum 1963‒1985 publiziert wurden, sind nur sechs Hefte je einer Autorin gewidmet: Ingeborg Bachmann 1964 (Heft 6), Nelly Sachs 1969 (Heft 23), Anna Seghers 1973 (Heft 38), Christa Wolf 1975 (Heft 46), Marieluise Fleißer 1979 (Heft 64), Friederike Mayröcker 1984 (Heft 84).

[183] Erkennen, was die Rettung ist. Christa Reinig im Gespräch mit Marie Luise Gansberg und Mechthild Beerlage, München: Verlag Frauenoffensive 1986, S. 7‒9, hier S. 8f. Angezeigt wird das Buch unter anderem in: Frauenbuchversand Wiesbaden: Bücherkatalog 1988/89, Fulda: Fuldaer Verlagsanstalt 1988, S. 59. ‒ Ich möchte an dieser Stelle Madeleine Marti für die großzügige Unterstützung danken, insbesondere für die Übersendung von Schriften Gansbergs sowie für das Übermitteln von Informationen, weiterführenden Hinweisen und Korrekturen.

[184] Adolf Guggenbühl-Craig: Macht als Gefahr beim Helfer (Psychologische Praxis; 45), Basel, München, Paris, London, New York, Sydney: Karger 1971. Michael Märtens, Hilarion Petzold (Hrsg.): Therapieschäden. Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 2002. Stefan Bienenstein, Mathias Rother: Fehler in der Psychotherapie. Theorie, Beispiele und Lösungsansätze für die Praxis, Wien, New York: Springer 2009.

[185] Christoph J. Schmidt-Jellek, Barbara Heimannsberg (Hrsg.): Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie, Köln: Edition Humanistische Psychologie 1995. Werner Tschan: Missbrauchtes Vertrauen ‒ Grenzverletzungen in professionellen Beziehungen. Ursachen und Folgen. Eine interdisziplinäre Darstellung, Basel, Freiburg, Paris […]: Karger 2001. Luise Reddemann: Würde. Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie, Stuttgart: Klett-Cotta 2008.

[186] Hanns-Stefan Finke: Leserbrief zu Jürgen von Rutenberg: Der therapierte Mann (Zeitmagazin Nr. 36, 25.8.2016, S. 21‒39), in: Die Zeit 71, 2016, Nr. 38, 8.9.2016, S. 18.

[187] Das Amtsgericht Bremen legte 1959 den offiziellen Zeitpunkt des Todes von Fritz Wilhelm Gansberg (* 1904) auf den 31.12.1945 fest. Staatsarchiv Bremen: 4,75/12-4571.

[188] Meldekarte von Johannes Friedrich Gansberg 1900‒1968. Staatsarchiv Bremen: 4,82/1-4116 (423). Das Kürzel „vd“ bedeutet „verschieden“ im Sinne von: ohne Konfession.

[189] Ausschlaggebend für Gansbergs Versetzung in den Ruhestand aufgrund von Dienstunfähigkeit war eine amtsärztliche Untersuchung.

[190] Marburger Uni-Journal 5, 2003, Nr. 17, S. 16: „Prof. Dr. Marie Luise Gansberg, Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften, verstarb am 4. Februar 2003 im Alter von 69 Jahren. Die Verstorbene lehrte bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1993 Neuere deutsche Literatur und hat dem Fach in Marburg neue Impulse vermittelt. Die Universität wird sie dafür in ehrender Erinnerung behalten.“

[191] Brief von Marie Luise Gansberg an Friedrich Sengle, Gießen, 10.11.1979. Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Nachlass Sengle.

[192] Brief (Duplikat ohne Unterschrift) von Friedrich Sengle an Marie Luise Gansberg, Seefeld (Oberbayern), 27.11.1979. Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Nachlass Sengle.