Der leidende Liedermacher

Rede auf Wolf Biermann aus Anlass der Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1991)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Der Saal ist überfüllt. Auf dem Podium erscheint, heiter und wohl selbstsicher, jener, auf den alle warten. Er wird lautstark begrüßt und stürmisch gefeiert. Er plaudert ein wenig, zunächst verlegen und bald verwegen, er klimpert, wie unentschlossen, auf seiner Gitarre, endlich beginnt er zu singen. Schön kann man seine Stimme nicht nennen, sie klingt etwas heiser. Und dann, gleich nach dem ersten Lied, jubelt das Publikum. Wieder einmal triumphiert er, wieder einmal hat er es geschafft, alle in entschiedener Zustimmung zu vereinen. Wirklich? Ist das denn überhaupt möglich? Nein, der Eindruck täuscht – und er entsteht, weil zu seinen Konzerten meist jene kommen, die nicht nur hören, sondern auch klatschen wollen, seine Anhänger, Bewunderer und Gesinnungsgenossen, seine große und treue Gemeinde. Eintracht zu stiften ist seine Sache nicht. Seine Kunst wirkt nicht vereinigend, sie spaltet das Publikum.

Und die Kritik? Oft bereitet er den Redaktionen Kummer. Wer soll denn über seinen Abend schreiben? Der Literaturkritiker will nicht recht, das sei doch etwas für den Musikkritiker; dieser wiederum meint, dessen sollte sich der Kollege annehmen, der für Unterhaltung und Kabarett zuständig sei. Einer schiebt es auf den anderen ab. Weshalb? Aus Furcht vor der Aufgabe, gar aus Hochachtung? Oder ist es stille Nichtachtung, vielleicht gar Verachtung? So viel ist sicher: Von ihm wird, ähnlich wie das Publikum, auch die Kritik polarisiert, zumal die Literaturkritik. Also Hymnen und Verrisse? Eben nicht. In der Regel dominieren freundliche, gelegentlich begeisterte Besprechungen. Er wird selten abgelehnt, aber häufig ignoriert – nämlich von den bekannten und anerkannten Kritikern. Sie urteilen durch Abwesenheit. Warum wohl? Die Antwort hat mit seiner Rolle zu tun und mit seiner Eigenart.

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