Ein fundierter Überblick
Vier Autor:innen legen eine kompakte Einführung in die Gender Studies vor
Von Michael Fassel
Um es gleich vorwegzunehmen: Für eine Einführung in die sehr vielseitige wissenschaftliche Disziplin der Gender Studies ist der vorliegende Band erstaunlich umfangreich. Die Autor:innen Katharina Hajek, Ina Kerner, Iwona Kocjan und Nicola Mühlhäußer überzeugen mit einer sinnvollen Strukturierung und legen mit Gender Studies zur Einführung einen klaren Fokus auf einen Übersichtscharakter.
Gegliedert ist die Einführung in elf Kapitel, weshalb hier nicht auf jedes Kapitel gesondert eingegangen werden kann. In der informativen Einleitung umreißen die Autor:innen Fragestellungen, die sie in weiteren Kapiteln differenziert beantworten. Dabei geht es sowohl um grundlegende Fragen (etwa danach, ob ,Gender‘ das dasselbe sei wie ,Geschlecht‘) als auch um weiterführende Problemkomplexe (etwa die Rolle von Männern oder Menschen jenseits der Binarität von Mann und Frau). Die fundierte Einführung berührt auch politische Aspekte. So werden die Gender Studies in den vergangenen Jahren von rechten Kräften bedroht. Ein Blick über den Tellerrand zeigt, dass die relativ junge Forschungsdisziplin in Ländern wie Ungarn Repressionen ausgesetzt ist. Die Autor:innen zeichnen zugleich die Entwicklung der Gender Studies beispielhaft in asiatischen und südamerikanischen Ländern nach. Dass die Geschlechterforschung beispielsweise in Indien eine „bis in die 1970er Jahre zurückreichende Tradition“ hat, mag einige verblüffen.
Neben der systematischen erfolgt eine historische Annäherung an die Gender Studies. Die Autor:innen setzen jedoch nicht bei den 1960er Jahren an, wenn die Disziplin allmählich Eingang in das akademische Bewusstsein findet. Schon zuvor gab es kontroverse Debatten um die Relevanz von Geschlechterrollen; der Fokus lag in diesem Kontext noch auf der Vernachlässigung und Benachteiligung der Frauenrolle. Die Autor:innen zeichnen diese kritischen Geschlechterfragen anhand von dreizehn „Wegbereiterinnen der Gender Studies“ nach und begeben sich damit auf einen historischen Streifzug, der im späten Mittelalter beginnt.
Anhand des Schlüsselwerks Das Buch von der Stadt der Frauen (1404/05) von Christine de Pizan wird aufgezeigt, dass es schon im Spätmittelalter feministische Bestrebungen gab. Mit ihrem Buch, in dem eine utopische Stadt beschrieben wird, in der nur Frauen leben, reagierte de Pizan auf eine misogyne Schmähschrift. Als weitere Wegbereiterinnen, die sich engagiert im Kampf um Rechtsgleichheit und der ersten Frauenbewegung eingesetzt haben, werden u.a. Olympe de Gouges (1748–1793) und Emma Goldman (1869–1940) vorgestellt; für die Frauenbewegung ab den 1940er Jahren werden die Überlegungen der auch heute viel zitierten Simone de Beauvoir ins Feld geführt. Die Auswahl erscheint ausgewogen und bietet auch bislang eher unbekannten Vordenkerinnen eine Stimme.
Die Autor:innen befassen sich in Kapitel 3 mit dem Bedeutungsgehalt des Gender-Begriffs und stellen in diesem Zusammenhang verschiedene theoretische Ansätze der Gender Studies differenziert vor. Sie berücksichtigen dabei auch die Debatte um Gleichheit und Differenz innerhalb des geschlechtertheoretischen Diskurses der 1970er Jahre, in dem es noch verstärkt um rechtliche Fragen und die Stellung der Frau ging. Positionen von Vertreter:innen der Gleichheitstheorie werden mit Positionen von Differenztheoretiker:innen kontrastiert. Inwiefern Sex und Geschlecht entnaturalisiert werden, erläutern die Autor:innen anhand der Reflexionen der bis heute einflussreichen Gendertheoretikerin und Philosophin Judith Butler, die „die feministische Kritik an der Normierung von Geschlecht auf Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität“ ausgedehnt und infolgedessen Sex entnaturalisiert hat. Auch die Performativitätstheorie, nach der Wiederholungshandlungen Geschlechterrollen hervorbringen und festigen, wird in gebotener Kürze skizziert. „Wie diese Wiederholung vor sich geht, sei jedoch teilweise offen. Geschlecht ist diesem Verständnis nach performativ. Das heißt unter anderem, dass die geschlechtlichen Normierungen, denen jeder Mensch ausgesetzt ist, niemals enden.“
Ein Set an methodischen Werkzeugen bündeln die Autor:innen in Kapitel 4. Das Repertoire umfasst beispielsweise materialistische, diskurstheoretische sowie psychoanalytische Zugänge. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, wie Konstruktionsprozesse von Geschlecht funktionieren und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. „Und so mag es nicht verwundern, dass hier ganz unterschiedlich gelagerte Erklärungsmuster vorliegen.“ Während der materialistische Ansatz u.a. Geschlechterverhältnisse im Zusammenhang „mit der kapitalistischen Produktionsweise und ihren Veränderungen“ untersucht, konzentriert sich der psychoanalytische Ansatz auf das Unbewusste und somit auch die psychische Dimension. Reflektiert stellen die Autor:innen in chronologischer Reihenfolge Freuds Theorie der Weiblichkeit vor, beispielsweise differenztheoretische Perspektiven, Ansätze der Écriture féminine sowie poststrukturalistische Kerngedanken. Dieses Kapitel ist insofern von zentralem Gehalt, als die verschiedenen Ansätze für die akademische Beschäftigung in Forschung und Lehre Relevanz haben dürften und angesichts der dargelegten Implikationen den Blick für weiterführende Fragestellungen schärfen.
Dies gilt etwa auch für Intersektionalität (Kapitel 5), die Queer Studies (Kapitel 6) sowie die kritische Männer- und Männlichkeitsforschung (Kapitel 7). Der Begriff ,Intersektionalität‘ wird zwar in der Einführung relativ früh verwendet – etwa im Hinweis darauf, dass „Intersektionalität zu einer Öffnung hin zu Feldern wie der Rassismus- und Migrationsforschung oder den Disability Studies [führt]“ –, jedoch erst in diesem ihm gewidmeten Kapitel genauer definiert und anhand früherer aktivistischer Texte in seiner geschichtlichen Entwicklung präsentiert. Während die Bostoner Aktivistengruppe The Combahee River Collective mit ihrem identitätspolitischen Positionspapier „A Black Feminist Statement“ ein Manifest veröffentlicht, wird der Begriff ,Intersektionalität‘ durch die US-amerikanische Rechtstheoretikerin Kimberlé Crenshaw erst Ende der 1980er Jahre eingeführt. Die Autor:innen machen des Weiteren darauf aufmerksam, dass angesichts der „Ausweitung des Bedeutungsbereichs“ des Begriffs Sortierungsversuche unternommen werden, und verweisen auf den in diesem Zusammenhang einflussreichen Aufsatz „The Complexity of Intersectionality“ der Sozialwissenschaftlerin Leslie McCall.
Intersektionale Perspektiven lassen sich überdies auch im Rahmen einer Auseinandersetzung mit den Queer Studies gewinnbringend einsetzen. Wie auch in den Kapiteln zuvor stellen die Autor:innen die Entstehung und Verwendung von Begrifflichkeiten wie ,Queer Studies‘ vor und zeichnen die Entwicklung queertheoretischer Reflexionen historisch nach. Eine der zentralen Theoretiker:innen ist z.B. Monique Wittig, die u.a. für die „Entnaturalisierung sowohl von Geschlecht als auch von Heterosexualität“ plädierte. Als prägend für die Queer Studies hat sich auch Gayle Rubin erwiesen, die „jeden sexuellen Essenzialismus radikal infrage [stellt].“ Sie forderte überdies, „dass Sexualität zum Einsatzpunkt politischer, emanzipativer Kämpfe werden muss.“
Mit dem Fokus auf Männlichkeitsforschung betreten die Autor:innen ein Forschungsfeld, das sich in den vergangenen Jahren als sehr ergiebig erwiesen hat. Hintergrund sind beispielsweise die #metoo-Debatte oder die Attentate
durch junge Männer in Isla Vista, Halle oder Christchurch in den Jahren 2014 und 2019, die Konjunktur martialischer Männlichkeitsdarstellungen im Kontext von Krieg, aber auch die mediale Rede von den ,neuen Vätern‘ oder Prominenz genderfluider männlicher Film- und Popstars […].
Wegweisende Theorieansätze von Klaus Theweleit, Pierre Bourdieu, Raewyn Connell oder Eve Kosofsky Sedgwick, die die Männlichkeitsforschung bis heute entscheidend mitgeprägt haben, werden umrissen. Wie in den vorherigen Kapiteln verweisen die Autor:innen auch hier auf die politische Aktualität der Männlichkeitsforschung, die abgesehen von patriarchalen Begleiterscheinungen wie der toxischen Männlichkeit nicht nur negative Aspekte umfasst. Mittlerweile finden sich nämlich „rund um die Begriffe ,caring masculinity‘ und ,inclusive masculinity‘ auch Ansätze […], die nach positiven Facetten von Männlichkeit […] suchen.“
Der Begriff ,Care‘ im Sinne von sorgender Tätigkeit wird im letzten Kapitel der Einführung erörtert. Er erweist sich für feministische Beschäftigung innerhalb der Gender Studies als äußerst gewinnbringend. Care-Tätigkeiten, die überwiegend von Frauen oder feminisierten Personen übernommen werden, erhalten wenig Anerkennung und werden schlecht entlohnt. Die viel zitierte „Care-Krise“ ist längst Gegenstand akademischer Untersuchungen. Ihr Ansatz besteht darin,
dass sich im Kontext gegenwärtiger politischer, technologischer und kultureller Entwicklungen die soziale und ökonomische Abwertung sowie die tradierte Ungleichverteilung von Sorgearbeit entlang (hetero-)sexistischer und rassistischer Machtverhältnisse grundlegend neu artikuliere.
Hieran knüpfen die Autor:innen an und stellen Forschungsfelder vor, die sich u.a. damit befassen, wie sich soziale Reproduktion und die damit implizierten Machtverhältnisse verändern lassen.
Insgesamt bietet Gender Studies zur Einführung einen umfassenden Einblick. Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen der historisch gewachsenen und vergleichsweise jungen Forschungsdisziplin werden von den Autor:innen sehr verständlich ausgeführt. Die dicht formulierten Kerninhalte erweisen sich in ihrer Interdisziplinarität als anschlussfähig für weiterführende Überlegungen sowohl in der Forschung als auch in der Lehre sämtlicher Fachkulturen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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