Von der Heilung Einzelner zur Errettung der Welt

In „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ dekonstruiert Normann Ohler gleich zwei Mythen

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Zauberberg, die ganze Geschichte – ein solcher Titel macht neugierig, denn in ihm offenbaren sich Referenz und Reverenz gleichermaßen. Es ist ein Buch zum Buch, zum hundertjährigen Jubiläum von Thomas Manns Der Zauberberg, davon ist auszugehen, denn der Bezug bleibt weder im vordergründig verborgenen Intertext, so wie bei Empusion, Olga Tokarczuks Roman über Görbersdorf, das „schlesische Davos“, noch kommt er so prätentiös und pompös daher wie bei Heinz Strunk, der seinen jüngsten Roman zum Zauberberg 2 deklariert. Ohlers Titel trägt nichtsdestoweniger eine deutliche Programmatik vor sich her – „die ganze Geschichte“ –, wobei diese Totalität im Motto zum ersten Kapitel wieder zurückgenommen wird: „Ein bedeutendes Buch erzählt immer nur von nichts“. Bei „nichts“, so könnte man meinen, geht es weniger um den Gehalt als vielmehr um die Gestalt und/oder um ein „Nichts“ derart, wie es sich in der finalen Szene manifestiert.

Mit seiner vierzehnjährigen Tochter, ihren Freundinnen und deren Eltern fliegt Normann Ohler von Berlin aus in die höchstgelegene Stadt Europas, Davos, um dort drei Tage Skiurlaub zu verbringen. Im Hotel, einem ehemaligen Sanatorium, überlegt der Autor, ob er den Aufenthalt von den Steuern absetzen könne. Kurzerhand beschließt er, ihn für Recherchen über die Bergregion zu nutzen. Über Davos, auf dem „Zauberberg“ gelegen, von dem Thomas Manns Der Zauberberg lediglich ein „holografischer Splitter“ sei, wolle er einen Text schreiben, der vom „Aufstieg der Moderne und ihrem Niedergang“ berichte.

Der Aufstieg des abgelegenen Bergdorfs Davos (der Name entstand aus dem rätoromanischen Wort „davo“ = dahinter) beginnt mit dem Medizinstudenten Alexander Spengler, der im Juli 1853 dorthin flüchtete und feststellte, dass niemand im Dorf an Schwindsucht litt. Er begann, Kureinrichtungen ins Leben zu rufen, wobei sich die ersten Gäste als geschickte Strategen für den Ort erwiesen – ein Arzt, der nach seiner Genesung für Davos warb und ein Buchhändler, der die Davoser Blätter gründete. Ein niederländischer Bankier und Spengler selbst mit seinem Buch Die Landschaft Davos als Kurort gegen Lungenschwindsucht taten ein Übriges, um den medizinischen Betrieb in Fahrt zu bringen. Dass Tuberkulose eine hochgradig infektiöse Krankheit war, entzog sich dem Wissen der Zeit – kaum erstaunlich also, dass die Rate der Genesenden geringer war als die Anzahl der Todesopfer. Zudem sei eine Art „internationale Säufergemeinschaft“ entstanden, weil einige Ärzte ihren Patient:innen mindestens einen halben Liter Veltliner täglich verordneten. Nach Kuraufenthalten, bei denen Feste und Geselligkeit feste Bestandteile des Alltags waren, bestand die Wende darin, dass auf ärztliches Geheiß strenge Liegekuren einzuhalten waren. Ärzte seien als Lokalheilige angesehen worden.

Nach und nach kamen Berühmtheiten jedweder Couleur nach Davos, unter anderem Arthur Conan Doyle, der als einer der Ersten Ski fuhr und maßgeblich dazu beitrug, dass sich der Sport verbreitete.

„Davos ist ein Schwindel“, erkannte Hedwig Pringsheim, Katia Manns Mutter, sehr früh. Tatsächlich konnten selbst die Forscher des in den 1920er Jahren gegründeten „Instituts für Hochgebirgsphysiologie und Tuberkuloseforschung“ keine Beweise für die Heilkraft der Luft erbringen.

Katia Mann, der Ohler ein Burnout attestiert, kam zum Kuraufenthalt nach Davos und inspirierte damit ihren Mann zum Zauberberg. Als er sie 1912 besuchte, habe er begierig ihren Erzählungen über den oft kuriosen Kurbetrieb gelauscht. Wenn man den Zauberberg heute lese und interpretiere, müsse man berücksichtigen, dass Thomas Mann seinen 1200seitigen Roman zu den „Quester-Legenden“ gezählt habe. Der Held und das Buch, so habe Thomas Mann betont, seien auf der Suche. Die Antwort darauf habe er im Kapitel „Schnee“ verortet.

In den 1920er Jahren hielt sich Alfred Henschke alias Klabund, der seit seinem 16. Lebensjahr an Schwindsucht litt, immer wieder in Davos auf, oft mit seiner Verlobten, der Schauspielerin Carola Neher. Ihm sei es nie um die „Schonung seiner selbst“ gegangen, ganz im Gegenteil, er habe intensiv gelebt, um seinen Stil zu verfeinern und seine Themen weiterzuentwickeln – gar eine „Literaturgeschichte der Schwindsüchtigen“ habe er verfassen wollen. Klabunds Gesamtwerk sei eine Art Anti-Zauberberg, was sich in seinem frühen Roman Die Krankheit niederschlage.

Klabund registrierte auch die intensiven Reaktionen auf die Veröffentlichung des Zauberbergs, weil er am 24. November 1924, als das Buch in den Handel kam, in Davos weilte. Es habe, so zitiert Ohler den Dichter, „bei Ärzten und Tuberkulosekranken Schaden angerichtet, wird aber bald vergessen sein“.

Obgleich sich in den 1920er Jahren viele Ärzte als kleine Machthaber stilisierten, deren edukative Autorität nicht unterwandert werden sollte, war der Ruf des Ortes, nicht zuletzt durch Manns Zauberberg, beschädigt. Pfiffige Werbestrategen kamen auf die Idee, die Davoser Hochschulkurse zu halten, „eine neue wissenschaftliche Initiative mit dem Ziel, den Ort wieder zum europäischen Treffpunkt zu machen“. Kein Geringerer als Albert Einstein hielt 1928 den Eröffnungsvortrag, bevor sich am 26. März 1929 Heidegger und Cassirer in der sogenannten Davoser Disputation gegenüberstanden. Diese Diskussion habe einen Endpunkt bezeichnet –

denn es waren vielleicht die letzten beiden Stunden in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, in denen das Denken als entscheidend empfunden wurde, bevor dann das geistabtötende NS-Regime dem intellektuellen Diskurs ein Ende bereitete, ihn durch eine Ära der Propaganda und fake news ersetzte, die die finale Phase dieser Endmoderne charakterisiert und bis heute noch auf uns ausstrahlt.

Sehr schnell habe sich in Davos der Nazismus verbreitet – „der Diktator von Davos“, Wilhelm Gustloff, 1917 als Tuberkulosepatient nach Davos gekommen, gründete bereits zwei Jahre vor Hitlers Machtübernahme die NSDAP-Ortsgruppe Davos, dann eine „Zelle Deutsches Kriegerkurhaus“ und eine „Zelle Deutsche Heilstätte“. Aufgerüttelt durch die Zeitläufte und antisemitische Vorfälle, die seine eigene Familie betrafen, erschoss der Medizinstudent David Frankfurter im Februar 1936 den Lokaldiktator Gustloff. Danach verbaten die Schweizer Behörden alle Landesleitungen und Kreisleitungen der NSDAP in der Schweiz. Frankfurter, der sich gestellt hatte und in Davos inhaftiert war, wurde 1945 begnadigt.  Eine Gedenktafel für ihn ist bis heute nicht errichtet worden, obwohl sich Initiativen dafür einsetzten.

Nachdem sich herausgestellt hatte, dass Antibiotika gut gegen Tuberkulose wirkten, befand sich die Karriere des Kurorts im Sinkflug. Dies kompensierend, wurde die Gegend um Davos weiträumig für das Skifahren erschlossen. Ebenso bietet der Ort die Bühne für das jährlich stattfindende Weltwirtschaftsforum, das eigentlich dazu dienen soll, den Zustand der Welt zu verbessern. Seine Besucher:innen tun aber alles dafür, um den Status quo zu erhalten – „World Economic Fiction“, so wie Ohler einen Abschnitt betitelt.

Der Autor beendet die Geschichte von Davos mit einem Blick auf seine eigene Situation: nach drei Tagen Recherche trinkt er im Schnee ein Bier und beobachtet seine Tochter. Sie hat drei Tage Skischule hinter sich hat und fährt nun sicher blaue und rote Pisten hinunter. Kurz vor der Heimreise erfährt er, dass seine Freundin Emma ihn besuchen möchte. Er verlängert seinen Aufenthalt, um auf sie zu warten. Sie kommt nicht. So wandert er in tiefverschneiter Landschaft allein über den Thomas-Mann-Weg.

Es ist davon auszugehen, dass Normann Ohler ganz bewusst auf eine Gattungsbezeichnung verzichtet hat. Sein Text ist offen autofiktional und ansonsten auf der Suche und/oder am ehesten das, was Ohler mit Bezug auf einzelne Abschnitte seines Kapitels zu Katia und Thomas Mann als „Remix“ bezeichnet. „Anreise – Remix“ sowie „Liegekur und Untersuchung – Remix“. Ein solches Framing legt nahe, dass zu Manns Zauberberg alles gesagt wurde. In der Tat muss sich alles, was neu dazu publiziert wird, in ein schier unendliches, vorgängiges Geflecht der Intertexte, der philologischen, literaturwissenschaftlichen, essayistischen und feuilletonistischen, einschreiben. Sie pfropfen sich auf den Roman und – eh man sich‘s versieht – bauen sie sich als riesiger Popanz vor den eigenen, genuinen Lektüreerfahrungen auf. Im „Remix“ ist man sich dieses Fundus bewusst, destilliert aus ihm eventuell eine Essenz, die jedoch das absolute Priorisieren des Eigenen nicht vergällt. Bei Ohler sind bei diesem Procedere locker perlende Sätze herausgekommen, die Nähe und Distanz zum Mythos Davos spiegeln, ihn sowohl adäquat resümieren als auch mit der Raffung der dafür notwendigen Fakten dekonstruieren. Dass die Bergluft gefährlichen Lungenkrankheiten den Garaus machen kann, ist genauso ein Mythos wie die Annahme, dass auf dem Weltwirtschaftsforum die Welt gerettet werden könne. Letzteres ist schon allein deshalb illusorisch, weil sich nicht nur während der exklusiven und exkludierenden Tagung, für die ein Promi-Ticket um die 30000 Euro kostet, der Schutz des Klimas und die Vermehrung des Kapitals duellieren.

Für Thomas Mann, so expliziert Ohler im entsprechenden Kapitel überzeugend, sei Davos vor allem eine Fundgrube für Stoffe, Themen und Motive gewesen. Mindestens genauso spannend zu lesen sind die Ausführungen zur Geschichte des Ortes, zu den Anfängen des Kurbetriebs, zu Klabund und David Frankfurter. Gepasst hätte es darüber hinaus, das Erstarken von Davos in dem Phänomen der Entdeckung der „Sommerfrische“ im Allgemeinen zu situieren, wovon zum Beispiel Guy de Maupassants Roman Mont Oriol Roman Zeugnis ablegt.

Im Umkreis der Tuberkulose hätte dem Text eine direkte Bezugnahme auf Susan Sontag, deren berühmtes Essay Krankheit als Metapher Ohler in seine Bibliografie integriert hat, gutgetan. Nachdem sie die Metaphorik der „Schwindsucht“ präzisiert hat, postuliert Sontag, dass Krebs ihr metaphorisches Erbe angetreten habe. Davon grenzt sich Ohler insofern ab, als er dazu tendiert, einen engen Konnex zwischen Tuberkulose und Depression zu sehen und letzterer eine ähnliche Bildlichkeit zuzuschreiben. Seine verheiratete Freundin Emma jedenfalls, mit der er seit geraumer Zeit eine On-Off-Beziehung unterhalte, sei elegant und leide an Depressionen und „wenn einst die Schwindsucht als elegante Krankheit gegolten hatte, da man sie von außen nicht sah, sie das Erscheinungsbild eines Menschen sogar verfeinerte“, könnte das genauso auf Depressionen zutreffen. Katia Mann ist in dieser Hinsicht nicht als Einzelfall zu begreifen.

Gegenüber der Thematisierung der conditio humana als solcher tritt die Reflexion über die ästhetischen Valenzen von Tuberkulose und Depression in den Hintergrund. Sich an Heidegger orientierend, schreibt Ohler von „jener kaum lösbaren Herausforderung der menschlichen Existenz“, nämlich „äußerlich begrenzt zu sein, zum Scheitern, zum Sterben verurteilt, innerlich jedoch unendlich“. Das damit involvierte „Hineingeworfen in die Welt“ – so habe Heidegger es wohl formuliert – begründet eine Art Engführung von Rahmenhandlung und Binnentext. Höhepunkt und bester Remix der „ganzen Geschichte“ ist demnach die Schneewanderung, eine Variation zu Manns Schneekapitel. So wie Hans Castorp irrt Normann Ohler durch einen Schnee, hinter dem sich immer mehr Schnee abzeichnet, landet in „einem der Schneefelder“, vor denen der Fremdenführer ihn gewarnt habe. Vielleicht habe sich Heidegger vor einer ähnlichen tabula rasa gefühlt, „als er zum ersten Mal nachgedacht“ habe oder „der Maler Kirchner, vor einer großen, leeren Leinwand. Oder Thomas Mann, als er die erste Seite seines Zauberbergs schrieb“. An einem solchen Nullpunkt fusionieren die Weite der Natur und die dem Menschen wesensgemäße Unendlichkeit – die Existenz als solche, so wie sie Jean-Paul Sartre in Der Ekel seinen Protagonisten Roquentin erleben lässt. Fraglich ist, ob sich diese momentane Intensität verlängern lässt – Ohler jedenfalls findet vor heftigem Schneegestöber Zuflucht in einem Schuppen, betrachtet von dort aus die im Tal liegende „Fiktion Davos, die sich in so viel Realität verwandelt hatte“. Ins Tal kehre er als neuer Mensch zurück. Seine Gedanken kreisen dabei um seine Tochter und sodann, aus extremrealistischen Sachzwängen heraus die äußerliche Begrenztheit des Menschen exemplifizierend, um den „geplanten Bericht an des Kreuzberger Finanzamt“.

Ziemlich unerheblich ist, ob der ebenfalls aus Limitation und materiellen Zwängen hervorgehende Hinweis auf die mögliche steuerliche Geltendmachung der Reise authentisch ist oder als autofiktional-realistischer Gag klassifiziert werden sollte. Wie dem auch sei – aus der dekonstruierenden Auseinandersetzung mit den Mythen um Davos konstruiert Ohler eine höchst gelungene (Re-)Mixtur aus Autofiktion, Essay und Historie.

Titelbild

Norman Ohler: Der Zauberberg, die ganze Geschichte.
Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2024.
272 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783257073188

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