Von den „Merseburger Zaubersprüchen“ zum demokratischen Umsturz

Der neue Band des Grimm-Briefwechsels setzt neue Maßstäbe der Erschließung und Kommentierung

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach heutiger Schätzung umfasst die Korrespondenz von Jacob und Wilhelm Grimm circa 21.600 Briefe. Darunter sind etwa 6.100 von Jacob und 4.500 von Wilhelm Grimm. Eine vollständige Ausgabe der Briefe, die bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert als „Gesammtgut der Nation“ bezeichnet wurden, galt immer schon als wünschenswert. Seit der Jahrtausendwende erscheint eine Kritische Ausgabe der Grimm-Briefwechsel in Einzelausgaben. Der im Herbst 2022 publizierte Band 8 umfasst die Briefwechsel der Brüder Grimm mit Johann Martin Lappenberg (103 Briefe), Friedrich Lisch (60 Briefe) und Georg Waitz (47 Briefe). Alle drei Korrespondenten sind nach der heutigen Disziplinbezeichnung Historiker, auf die auch die Brüder Grimm Anspruch erheben können, denn zu ihren Lebzeiten begann sich der altertumskundliche, historisch-juristisch-philologische Fachverband erst allmählich in die modernen institutionellen Einzeldisziplinen auszudifferenzieren. Der Band enthält neben den Briefen selbst zahlreiche Faksimiles und Bilder der Schreiber; der Umfang der sachkundigen Einleitungen und Kommentare, editorischen Hinweise und Register übertrifft den der Briefe bei weitem. Das ist der editionswissenschaftliche State of the Art, der die Benutzbarkeit und Haltbarkeit der Briefausgabe gewährleisten soll. Am Ende scheint in den edierten Briefen eine Pointe auf, die das Bild des Germanisten Jacob Grimm politisch schärft.

Am wenigsten Beachtung hat in der Forschung bislang die Korrespondenz der Brüder Grimm mit Friedrich Lisch (1801–1883) gefunden. Lisch, einer der ersten Hörer Karl Lachmanns in Berlin, war ein enthusiastischer Anhänger der neuen germanistischen Wissenschaft. Im heimatlichen Mecklenburg brachte er es zum „Großherzoglich-schwerinschen Archivar“, der als Gründer des Vereins (seit 1835) mit der gleichnamigen – von ihm herausgegebenen und oft selbst geschriebenen – Zeitschrift für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde bald ein überregionales Ansehen gewann. Seine Publikationstätigkeit erstreckte sich auf alle Gebiete der mecklenburgischen Altertumskunde, insbesondere auf Urkunden, Alben und Familienbücher. Brieflichen Austausch mit den Grimms suchte Lisch vor allem, weil er sich im Mecklenburgischen wissenschaftlich isoliert fühlte. Die Brüder, die ihm auch einige Male begegneten, gewährten ihm einen freundlichen Briefkontakt, der sich vor allem auf editorische Fragen und Funde aus der germanischen Frühzeit erstreckte. Im Gegenzug wurden Lisch und sein mecklenburgischer Freundeskreis allerdings auch kräftig in die Exzerptesammlung für das Deutsche Wörterbuch eingespannt.

Ein ganz anderes Format hat die – stets von wechselseitiger Hochachtung getragene – umfangreiche Korrespondenz der Brüder Grimm mit dem Hamburger Archivar Johann Martin Lappenberg (1794–1865), der aus dem wohlhabenden hanseatischen Bürgertum stammte. Als Student der Medizin und Staatswissenschaften hatte er während seines Studiums in Edinburgh schon früh Kontakt zu literarischen Kreisen um Walter Scott und William Wordsworth gewonnen. Nach der Promotion zum Dr. jur. in Göttingen wurde er Ministerresident Hamburgs in Berlin und fand Anschluss an den Kreis der Berliner Romantik um Achim von Arnim, Clemens Brentano, Rahel Varnhagen und Friedrich Karl von Savigny. Mit Savigny, der nach Lappenbergs Bekenntnis neben Grimm den stärksten Einfluss auf seine geistige und literarische Entwicklung hatte, hielt er die Verbindung bis zu dessen Tod. Der mit unterschiedlicher Korrespondenzdichte geführte Briefwechsel mit den Brüdern Grimm, denen er in Kassel schon 1816 und 1817 begegnet war, setzt im Jahre 1823 ein, in dem Lappenberg in Hamburg die Stelle des für das Archiv zuständigen Senatssekretärs erhielt, und endet 1863 in Jacob Grimms Todesjahr. In diesem Zeitraum, in dem Lappenberg die Brüder wiederholt besuchte und eine persönliche Beziehung zu ihnen anbahnte, gibt der Briefwechsel detailliert Auskunft über die gemeinsamen Interessen und Aktivitäten der Korrespondenten. Sie umfassen das Gesamtgebiet der Geschichte, Sprach- und Literaturgeschichte von der germanischen Frühzeit bis ins hohe Mittelalter; sie reichen vom angelsächsischen Vokalismus über die Reste der altenglischen Literatur zu Lappenbergs – von Friedrich Perthes angeregten – Werk Geschichte von England, über die zahllosen von ihm edierten Hamburger Verordnungen und Urkundenbücher der Hanse bis zu dem gigantischen Sammelwerk der Monumenta Germaniae Historica, für die Lappenberg die Werke norddeutscher Chronisten herausgab. Dem Verein für Hamburgische Geschichte präsidierte Lappenberg seit der Gründung 1839, und er war Herausgeber der seit 1841 erscheinenden gleichnamigen Zeitschrift des Vereins – nicht ohne regelmäßig über dieses zeitraubende Amt zu klagen. Die Korrespondenten informierten einander aber auch über einschneidende Zeitereignisse: Lappenberg berichtet etwa über den Hamburger Brand 1842, der trotz der beherzten Rettungsbemühungen des Archivars große Teile der bis ins Mittelalter zurückreichenden Hamburger Archivbestände vernichtete. Die Brüder Grimm berichten über ihre Amtsenthebung 1837, auf die der konservative Lappenberg nicht mit politischer Empörung, wohl aber mit – letztlich erfolglosen – Anstrengungen reagierte, die Brüder nach Hamburg an das Akademische Gymnasium zu ziehen – mit dem Ziel, aus ihm heraus eine künftige Universität zu gründen. Gelegentlich kommen auch familiäre Ereignisse zur Sprache wie die Taufe von Lappenbergs Sohn Fritz, dessen Patenschaft Jacob Grimm annahm. Gegen Ende des Briefwechsels berichtet Lappenberg ausführlich über seine Editionen zur deutschen Literatur, die ihm einen Platz auch in der Geschichte der deutschen Philologie sicherten: den von ihm – gegen den Rat Jacob Grimms – Thomas Murner zugeschriebenen Ulenspiegel, die niederdeutschen Gedichte Johann Laurembergs und Paul Flemings lateinische und deutsche Gedichte.

Der bislang nur in Auszügen publizierte Briefwechsel Jacob Grimms mit Georg Waitz ist nicht allein aus wissenschaftlichen, sondern auch aus politischen Gründen von Interesse. Waitz, der in Berlin bei Ranke, Lachmann und Savigny studiert hatte, trat mit einer, wie er schrieb, „Empfehlung meines Lehrer Prof. Ranke und des mir befreundeten Dr. Lappenberg“ in Jacob Grimms Korrespondentenkreis; Lappenbergs Empfehlung verdankte Waitz auch die frühe Aufnahme in den Mitarbeiterkreis der Monumenta Germaniae Historica. Über die Arbeit an den quellenkritischen Editionen für die Monumenta berichtete er Jacob Grimm ebenso wie über die Funde auf seinen Archivreisen durch ganz Europa. Zwei Funde waren für Jacob Grimm von besonderer Bedeutung: eine Quelle über die Lebensumstände des Übersetzers der gotischen Bibel, Bischof Ulfila, und die Entdeckung des ältesten deutschen vorchristlichen Texts, die Merseburger Zaubersprüche, deren Mitteilung Waitz Jacob Grimm für die Preußische Akademie überließ. Grimm wiederum konnte Waitz in sprachgeschichtlichen und mythologischen Belangen hilfreich sein. Die beiden einte eine breite Übereinstimmung in altertumswissenschaftlichen Fragen. Allerdings lehnte Waitz Grimms Bemühungen strikt ab, das Konzept der deutschen Geschichte bis in die germanische Vorzeit auszudehnen.

Ein Grundkonsens verband Grimm und Waitz auch in der politischen Orientierung. Seit Beginn ihrer Bekanntschaft, die in die Zeit des niedersächsischen Verfassungskonflikts 1837 fiel, setzten sich Grimm und Waitz für eine staatliche Einheit Deutschlands und für eine weitgehende Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins von Dänemark ein: auf den Germanistentagen von Frankfurt und Lübeck ebenso wie als Abgeordnete der Nationalversammlung von 1848. Jacob Grimms politische Entwicklung lässt sich für die letzten anderthalb Jahrzehnte seines Lebens aufgrund der hier vollständig gedruckten Briefe genauer rekonstruieren. Das gilt insbesondere im Hinblick auf seinen hier erstmals in vollem Wortlaut veröffentlichten (und faksimilierten) Brief aus dem Jahre 1858, den Waitz 1863 nur auszugsweise zitiert hatte. In diesem Brief verdeutlicht Grimm seine Auffassung, dass „die verfassung in das geleise der bestehenden verhältnisse zu zwängen“  zu „keinem heile führen“ könne und dass im Kampf gegen Adel und Dynastien Gewalt die einzige Option sei: „In England, Frankreich, Spanien sind alle dynastengeschlechter der macht des zeitgeists erlegen, warum sollen sie sich unter uns verewigen und unsere freiheit vernichten? es kann nur durch rücksichtslose gewalt geholfen werden, je älter ich werde, desto democratischer gesinnt bin ich.“

Der achte Band des Grimm-Briefwechsels dokumentiert die Korrespondenz der Brüder Grimm mit Johann Martin Lappenberg, Friedrich Lisch und Georg Waitz: eine Kommunikation im Übergang von Polyhistorie und romantischer Gelehrsamkeit zu den modernen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Edition ist aber auch ein Dokument sui generis: Zeugnis einer wissenschaftlichen (Editions-)Kultur, in die jahrzehntelange Vorarbeiten eingegangen sind und deren Niveau sehr selten erreicht wird.

Titelbild

Berthold Friemel / Vinzenz Hoppe (Hg.): Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Johann Martin Lappenberg, Friedrich Lisch und Georg Waitz. Im Anschluss an Wilhelm Braun und Ludwig Denecke. Herausgegeben von Berthold Friemel, Vinzenz Hoppe, Philip Kraut, Holger Ehrhardt und Roman Alexander Barton.
(Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Kritische Ausgabe, Band 8).
Hirzel Verlag, Stuttgart 2022.
835 Seiten , 86,00 EUR.
ISBN-13: 9783777626253

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