„Alles gut!“

Ein neues Sprachphänomen versaut den deutschen Alltag

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler und Stefanie von WietersheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim

Rätsel des Lebens. Wie konnte das nur passieren?

Wann wurden Sie heute gefragt: „Alles gut?“

Wann haben Sie heute geantwortet: „Alles gut!“

Wahrscheinlich sind diese beiden Worte schon in Ihr Ohr gesickert, bevor Sie den zweiten Cappuccino dieses Tages getrunken haben. Sie murmelten an der Brötchentheke „Alles gut!“, als die Verkäuferin Sie fragte, ob Sie noch ein Stück Kuchen wünschen. „Alles gut!“ haben Sie dem Kollegen geantwortet, als er Sie nach Ihrem Wochenende fragte. Und Sie sagten „Alles gut!“, als ein anderer Kollege sich nach dem Fortschritt eines Projektes erkundigte.

„Alles gut“ klebt seit einigen Jahren in der deutschen Sprache fest wie ein Spike-Protein am Coronavirus. Ein Gewebeschaden, in allen sozialen Schichten der Gesellschaft. Die nichts sagende Botschaft hat sich in die tiefsten Bereiche der Sprache gebohrt und hat die Lehrbuchantwort „Gut“ oder „Ganz gut“ abgelöst. Der Hermes-Paketbote sagt ihn ebenso wie der Vorstandsvorsitzende, die Mama aus der Kita wie der Frisör, die Grundschülerin wie der Großvater. „Alles gut!“, begleitet den Tag wie Sonne, Mond und Sterne.

Ist wirklich auf einmal „Alles gut“? Natürlich nicht. Denn die Welt war und ist ein Jammertal. Aber wenn Millionen Menschen in Interaktionen täglich „Alles gut“ antworten, muss diese Floskel eine wichtige Funktion haben.

Die erste Funktion: der schnelle „Freundliche Schirm“, ein schöner Schein. Ein wenig inhaltsleer, aber schützend für beide Seiten. Wenn der Frisör fragt, wie es Ihnen geht, erwartet er als Antwort nicht: „Ich bin am Rande meines Dispos, mein Sohn hat eine 5 in Mathe und mich ärgern zwei Stielwarzen.“

Die zweite Funktion: die „Feelgood-Brücke“. Der Trost der Welt. „Alles gut“, mit angedeuteter Kindergärtnerinnen-Mimik und heile-heile-Gänschen-Tonalität gesprochen, scheint dazu zu dienen, sich selbst und den anderen zu versichern, dass die Welt heute noch nicht untergeht. Dass die Tröstung des „Alles gut“ mehr als nötig ist in Zeiten der Pandemie, eines Militär- und Energiekrieges kann man verstehen. Denn nicht alles ist gut.

Die dritte Funktion: Mundfaulheit. Ob es nun um die Abstimmung zu einer Tiefbau-Projektskizze oder um die Vorbereitung eines Scheidungsprozesses geht: „Alles gut“ verhindert jegliche verbale Anstrengung. 

Für die Einführung von „Alles gut“ in die deutsche Sprache kann man die Moderatorin Nina Ruge verantwortlich machen. Sie wurde in den 2000er Jahren in ihrer Sendung „Leute heute“ damit bekannt, dass sie diesen Satz täglich verschwörerisch in die Kamera sprach. Von 1997 bis 2007 betete sie diese Tageslosung als Endsatz vor. Dieses „Alles wird gut“ gefiel den Deutschen so sehr, dass Ruge als Autorin und Moderatorin daraus ihr Markenzeichen machte. Ihre erfolgreichen Buchtitel lesen sich denn auch wie ein Mantra : „Alles wird gut im Job“, „Alles wird gut im Herzen“, „Alles wird gut – Beflügelnde Worte“, „Alles wird gut in der Liebe“, „Alles wird besser“.

Ein sprachlicher Neophyt

Wie so manches kommt die Redeweise „Alles gut“ auch aus der Übertragung US-amerikanischer Usancen, die Deutsche missverstanden haben. „How are you?“ ist dort die Standardbegrüßung der Person hinter der Kasse am Supermarkt, im Restaurant oder des Menschen, der sich neben Sie im Wartebereich der Abflughalle setzt. Im Kern ist es der Ersatz für die früher übliche Frage „How do you do?“, die auch heute noch in Großbritannien standardmäßig praktiziert wird.

Wörtlich ist es völliger Unsinn: „Wie bist Du?“ Gemeint ist keine echte Frage, wie es Ihnen geht. Der Mensch hätte auch ein guturales „HuaHua“ von sich geben können. Oder wie ein Hund bellen. Es geht einzig darum, erkennen zu geben, dass das Gegenüber Sie gesehen hat. So wie aus dem einstigen „Guten Tag“, das ja auch schon die Schwundform eines „Ich wünsche Ihnen einen guten Tag“ ist, ein simples „Tach“ geworden ist.

Und die Standarderwartung ist, dass Sie auf „How are you?“ antworten: „Fine“. Oder besser: „Couldn’t complain“, „Fine, and you?“ Gerne genommen werden auch: „Not bad, yourself?“, „Thanks for asking, I’m doing fine“, „Doing well, thanks. What about you?“ oder „I’m doing great today. And you?“ Und mittlerweile scheint sich durchgesetzt zu haben, dass hinzugefügt wird: „Everything is fine“.

Weder ist das eine „echte“ Frage noch ist die Antwort eine „echte“ Antwort. Es ist eine Floskel, freundlich gemeint, die eine gute Stimmung erzeugen möchte. Vergleichbar zu „See you later“, „We must see each other soon“, „We get in touch soon.“ Und es wird erwartet, dass Sie selbst genauso antworten. So wie erwartet wird, dass Sie das erwidern, was auch Sie hören: „Nice dress“ oder „I love your T-shirt“. Manche Deutsche, wenn sie erkennen, dass das alles gar nicht so gemeint ist, missverstehen solche Gebräuche als oberflächlich. Das verkennt die soziale Funktion solcher Umgangsformen.

Sollte eine Ihnen fremde Person – unerwartet – wirklich wissen wollen, wie es um Ihr Befinden steht, wie es Ihnen tatsächlich geht, wird sie das stimmlich markieren. Aus dem „How are you?“ würde dann ein „How ARE you?” werden. Und Sie hätten allen Grund zu stocken: „Will diese Person wirklich wissen, wie es mir wirklich geht? Warum?“ Vertraute Personen dürfen das fragen, unbekannte eigentlich nicht.

Die Engländer haben das Spiel Nichtfrage-Nichtantwort schon längst vervollkommnet: Auf „How do you do?“ wird (nicht) geantwortet „How do you do?“ Und dann kann das Gespräch über das Wetter beginnen.

Um solche Gebräuche zu verstehen, lohnt es sich, ausgewählte Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Erforschung zwischenmenschlichen Verhaltens zu präsentieren.

Das Krisenexperiment

In Anlehnung an die Forschungen des Soziologen Harold Garfinkel (1917-2011) schlagen wir folgendes Vorgehen vor, wenn Sie das nächste Mal gefragt werden: „Und, wie geht’s so?“

Sie antworten nicht „Alles gut“, sondern sehen dem Fragenden aufmerksam ins Gesicht und fragen zurück: „Wie meinen Sie das? Wie es mir in gesundheitlicher Hinsicht geht? In finanzieller? In meiner Beziehung zu meinen Eltern, Kindern, Partner? In sexueller Hinsicht? Was wollen Sie zuerst wissen?“ Irritation dürfte das Mindeste sein, was Sie erleben.

Noch spannender dürfte es werden, wenn Sie solche Spiele mit einer Ihnen sehr vertrauten Person machen, beispielsweise Ihrem Partner, Ihrer Partnerin. Sie werden gefragt: „Wie geht’s?“ und Sie antworten – wobei Sie Ihr Gegenüber dabei siezen sollten – „Wie meinen Sie das? Wie es mir in gesundheitlicher Hinsicht geht? In finanzieller? In meiner Beziehung zu Ihnen? Was wollen Sie zuerst wissen?“ Hier dürfte wohl mehr zu erwarten sein als Irritation. Ihr Gegenüber wird Sie für „verrückt“ erklären. Es kann zu Aggression kommen, zum Abbruch der Situation. Sie werden etwas zu erklären haben, wenn Sie nicht wollen, dass es bedrohlich wird. Es kann Ihre Beziehung aufs Spiel setzen.

Garfinkel hat solche „Krisenexperimente“ – im Englischen „Breaching experiments“ – mit seinen Studierenden an der University of California in Los Angeles durchgeführt. Er riet beispielsweise einer Studentin, sich an einem Abend ihren Eltern gegenüber auf diese Weise zu verhalten. Wobei das auf Englisch weniger drastisch verlaufen würde als in Deutschland, wo durch das Siezen die Fremdheit der Situation noch stärker akzentuiert sein dürfte. Garfinkel ermutigte seine Studierenden beispielsweise dazu, in einem Restaurant eine Umdrehung der Rollen zu spielen: Sie sollten den erstbesten Gast, der in das Lokal kam, ansprechen und ihn bitten, ihnen einen Tisch anzuweisen und die Speisekarte zu bringen. Er sollte als Servicekraft behandelt werden und nicht als Gast.

Klassisch war die Versuchsanordnung für den Fernsehabend eines Paares, bei dem die Frau bei Garfinkel studierte:

On Friday night my husband and I were watching television. My husband remarked that he was tired. I asked, “How are you tired? Physically, mentally, or just bored?”

He: “I don‘t know, I guess physically, mainly.”

She: “You mean that your muscles ache or your bones?”

He: “I guess so. Don‘t be so technical.”

(After more TV-watching)

He: “All these old movies have the same kind of old iron bedstead in them.”

She: “What do you mean? Do you mean all old movies, or some of them, or just the ones you have seen?”

He: “What’s the matter with you? You know what I mean.”

She: “I wish you would be more specific.”

He: “You know what I mean! Drop dead!”

Die Fragilität der „Normalität“

Sind solche Versuchsanordnungen nur Spinnereien kalifornischer Soziologiefreaks?

Es geht im Kern darum, die Konstruktion unserer sozialen Wirklichkeit aufzuzeigen. Und deren Zerbrechlichkeit. In dem Moment, in dem Menschen sich nicht so verhalten, wie wir das gewöhnt sind, wie es sich „gehört“, wie es „normal“ ist, bricht Verhaltensunsicherheit aus. Für eine funktionierende und störungsfreie soziale Interaktion wird vorausgesetzt, dass alle Mitwirkenden sich an ihre Rollenvorgaben halten. Erwachsene binden sich kein Lätzchen um, wenn sie sich an den gedeckten Tisch setzen. Erwachsene werfen Papiermüll in die blaue Tonne und nicht in die gelbe. Nur so, glauben wir, ist Alltag möglich. Alle Abweichungen werden entweder geleugnet („Kann einfach nicht wahr sein“) oder sanktioniert („Der Andere ist verrückt geworden“), bis hin zum Abbruch der Interaktion.

Wenn Sie es nicht glauben wollen, und die Kassiererin im Supermarkt freundlich fragt, „Wie geht’s?“ antworten Sie nicht mit „Alles gut“. Sondern fragen nach: „Wie meinen Sie das?“ Und dann berichten Sie davon, was Sie alles aktuell beschäftigt, was Sie unglücklich und sorgenvoll macht, was Sie freut. Und Sie sorgen sich nicht, dass die Schlange hinter Ihnen immer länger wird.

Wenn man jedoch die Beziehungen in seinem täglichen Umfeld nicht durch soziologische Experimente verderben möchte, kann man „Alles gut“ einfach als Balsam für die geplagten Seelen, als verbale Wellness sehen. Wir sind gespannt, wann die Abkürzung „Ag“ die „Besten Grüße“ (bG) oder den „Lieben Gruß“ (lG) in der digitalen Kommunikation ersetzt. Denn „Alles gut“ ist der ultimative Gegenzauber auch für Menschen, die nicht dem magischen Denken verfallen sind.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.