Vom Erwachsenwerden in der DDR

Mit „Straße der Jugend“ erzählt André Kubiczek die Abenteuer seines Helden aus „Skizze eines Sommers“ von 2017 weiter

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor vier Jahren hat der in Potsdam lebende Autor André Kubiczek in dem Roman Skizze eines Sommers seine Leser mit zurückgenommen in die DDR des Jahres 1985. Für seinen 16-jährigen Helden René bedeuteten die Sommermonate des Jahres, in dem Michail Gorbatschow neuer sowjetischer Parteichef geworden war und die Signale auf Glasnost und Perestroika gestellt hatte, Abschied und Neubeginn zugleich. Während sein Vater in Genf an den Verhandlungen über Frieden und Zusammenarbeit in Europa teilnahm, genoss der Sohn die Auszeit von dem nach dem Tod der Mutter komplizierter gewordenen familiären Zusammenleben, sammelte erste Erfahrungen mit Mädchen und bereitete sich auf den Umzug in das Hallenser Elite-Internat vor, in dem er die nächsten beiden Jahre verbringen würde. 

Straße der Jugend schließt zeitlich unmittelbar an Skizze eines Sommers an. Im selben unverkrampft-jugendlichen Ton, der schon den Vorgängerroman zu einem Lesevergnügen ganz eigener Art machte, berichtet der Ich-Erzähler, beginnend im September 1985, von seinen letzten Tagen in Potsdam, der Ankunft in Halle, neuen Freunden, alten Problemen und dem ersten Jahr an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät der Martin-Luther-Universität.

„Organisation der materiell-technischen Basis“ nennt sich das Fach, dessen Studium er zwei Jahre später, nach seinem Abitur, in Moskau beginnen soll. Vorher muss er freilich sein eigenes Leben im Übergang zum Erwachsensein auf die Reihe bekommen. Und das ist gar nicht so leicht. Denn zuhause in Potsdam drohen die Dinge genauso aus dem Ruder zu laufen wie in der neuen Schule. Kreuzen sich dort mit fatalen Folgen die Wege von Freundin Victoria, mit der er vor seiner Abreise zum ersten Mal eine Nacht verbracht hat, und der zwei Jahre älteren Rebecca, Tochter eines Künstlerehepaares und „heimliche Seelenfreundin und Wahlschwester“ Renés, so interessiert ihn in Halle bald die Literatur mehr als der trockene Lernstoff, mit dem man ihn die Vormittage über traktiert.

Dazu passt, dass ihn seine Potsdamer Kumpel Dirk und Michael zur Mitarbeit an einem Untergrundblatt einladen, das in Erinnerung an Majakowskis revolutionäres Zeitschriftenprojekt Linke Kunstfront (Lef) aus den 1920er Jahren Lef 2 heißen soll. Die bisher noch fehlenden Texte und Grafiken sieht man dabei weniger als Problem. Was zählt ist der Enthusiasmus, mit dem man sich der neuen Aufgabe stellt, und das Ziel einer fortschrittlichen „linken“ Kunst, „die zu einem wirklich revolutionären Sprung der Gesellschaft“ führen soll.

Dass ihr Vorhaben nicht nur mutig, sondern auch riskant ist, merken die drei Jungpoeten schnell. Denn offensichtlich hatte die Staatssicherheit – für René ist das natürlich die Firma „Horch & Guck“ – ihre Ohren mit im Gründungsgespräch der revolutionären Kunstpostille im Potsdamer Café „Heider“. Dass dem Vater Renés die alljährliche Westreise zu diplomatischen Zwecken gerade jetzt gecancelt wird, hat allerdings weniger mit den avantgardistischen Attitüden des Sohnes zu tun als mit der Tatsache, dass er sich nach anderthalb Trauerjahren neu verliebt hat und dabei an eine Frau mit Westverwandtschaft geraten ist.

Für Kubiczeks Helden ist die neue Verbindung seines „Altvorderen“ dabei doppelt problematisch. Denn einerseits hatte er sich schon auf einen weiteren langen Sommer ganz allein zu Hause gefreut, was nun ausfällt. Andererseits ist die Wahl des Vaters ausgerechnet auf die Mutter seiner Ex-Freundin Victoria gefallen, in der er nun seine Stiefschwester zu sehen hat.

Genau und vollgepackt mit Details ist das DDR-Bild des Romans. Gegen die ostdeutschen Autoren, mit denen die Schule die Heranwachsenden quält – Günter Görlich, Hermann Kant und Erik Neutsch finden Erwähnung, für René „ist immer zu viel sozialistischer Realismus“ in deren Werken – werden Bände aus der „Taschenbibliothek der Weltliteratur“, die der Aufbau Verlag zwischen 1977 und 1989 herausbrachte, und die Lyrikhefte der Reihe „Poesiealbum“ in Stellung gebracht. In den schmalen, grafisch aufgehübschten Heftchen erschienen ab 1967 Texte von Reiner Kunze, Kurt Bartsch, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger und Nicolas Born neben Lyrik-Klassikern und neuen ostdeutschen Stimmen.

Dass man einerseits im von den Medien propagierten „Jahrzehnt der Mikroelektronik“ lebt, andererseits die Städte zerfallen, „hundert Töne verschiedenen Graus“, die Halles Straßen dominieren, und die „trüben Fensterscheiben und […] schiefen Gardinen“ René an Gedichte von Rilke und George erinnern, empfindet Kubiczeks Held nicht als Widerspruch, sondern als „Poesie, die man betreten konnte“, eine „Wirklichkeit gewordene Kunst des Fin de Siècle“. Zu der auch irgendwie die düsteren Weltuntergangsszenarien zu passen scheinen, mit denen das Westfernsehen den Reaktorunfall in einem ukrainischen Atomkraftwerk kommentiert, der in den Berichten der DDR-Medien eine wesentlich geringere Rolle spielt.

Doch auch der frische Wind, der aus Gorbatschows Sowjetunion weht und mit „Perestroika“ und „Glasnost“ zwei Unruhe stiftende Begriffe auch in das östliche Deutschland einschmuggelt, spielt in der Welt von Kubiczeks Romanfiguren eine Rolle. Denn alles andere als die „ewige Leier von der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, vom „Kampf für den Frieden“ und von „Planerfüllung und […] Wohnungsbauprogramm“ findet sich plötzlich in Zeitschriften wie „Sputnik“ und „Neue Zeit“, die heimlich von Hand zu Hand gehen, als wären sie offiziell verboten.  

Straße der Jugend widmet sich den Fragen, wie einer erwachsen wird und wie er zum Schreiben als Passion und Lebensinhalt kommt. Dabei spielt das, was politisch rund um Kubiczeks Helden abgeht, nicht unbedingt eine Hauptrolle in dessen Leben. „Die Gesellschaft ist ja auch nur so eine Art Natur, die von Menschen gemacht wurde. Man wird da irgendwie mit seiner Geburt reingeworfen und muss dann darin zurechtkommen, egal, ob Kommissar Zufall Kapitalismus für einen ausgesucht hat oder Sozialismus“, lässt René in seinem flapsig-kumpelhaften Sound den Leser wissen.

Wie sich also verhalten, wenn der Staat das eine will, man selbst aber das andere nicht zu lassen gedenkt? „Aber das machen doch alle so“, fährt André Kubiczeks Ich-Erzähler fort, „in der Schule die Phrasen dreschen, die von einem verlangt werden, damit man seine Ruhe hat, und sich insgeheim seinen eigenen Teil denken.“ Richtig kommt einem diese Art, sein Leben zu leben, nicht unbedingt vor. Und Zeitgenossen, die unter anderen Umständen aufgewachsen sind, werden wohl auch weiterhin ihre Mühe damit haben, zu verstehen, wie es im östlichen Deutschland zuging. Aber richtig spannendes Leben gab es da schon, wenn man dem Falschen nicht zu viel Macht über sich einräumte.

Titelbild

André Kubiczek: Straße der Jugend.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020.
352 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100250

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