Der letzte Romantiker

Zum psychoanalytischen Roman "Liebeserklärung" von Michael Lentz

Von Axel SanjoséRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Sanjosé

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deutschland ist kein Wintermärchen. Deutschland ist bestenfalls die Summe der Bahnstrecken, die jemand in einem traurigen Monat November (oder Dezember) hinterlegt. Was bleibt, ist ein "Märchen ohne Winter", und dieser Verweis auf Heine (oder Shakespeare) enthält schon die analytische Dekonstruktion der Anspielung: das Auseinandertrennen ihrer Bestandteile. In Michael Lentz' erstem Roman "Liebeserklärung" geht es um Trennung. Oder genauer: um das Nicht-Vereint-Sein-Können, die Voraussetzung für Sehnsucht. "Andererseits liebte er sie doch nicht, denn er sehnte sich bloß nach ihr" - das Zitat von Kierkegaard, dem "Alten Dänen" und Autor von "Entweder-Oder", wird zum Leitmotiv, während der Erzähler kreuz und quer durch die deutschen Lande fährt, ein später Odysseus, dessen Irrfahrten nicht zu Penelope führen, sondern von ihr weg. "Ohne dich geht es mir besser. Und auch ohne mich würde es mir besser gehen." Ein Ich-Erzähler auf der Flucht vor sich selber, also auf der Suche nach sich selber. Ein Ich-Erzähler, der irgendwann nicht mehr weiß "Wer spricht?" und doch erkennt: "es ist immer ich, wenn ich du sage". Ein Du-Erzähler.

Sehnsucht geht einher mit "Unbehausung", und das ist keineswegs ein genuin modernes Phänomen. Es ist möglicherweise eine Konstante der conditio humana, und es war ganz besonders das Lebensgefühl der Romantik. Wohlgemerkt: der echten Romantik, die mit den trivialisierten Candle-Light- und Herz-Schmerz-Klischees denkbar wenig zu tun hat. Vielmehr derjenigen Romantik, die sich in Schlegels "Athenäum"-Fragmenten als progressive Universalpoesie definierte, die das Wandern/Reisen zum Lebensprinzip erhob und in Novalis' "Heinrich von Ofterdingen", auf die Frage, wohin man denn gehe, programmatisch formulierte: Immer nach Hause.

Lentz' Bahnfahrt durch Deutschland verläuft, ganz in diesem Geiste, nach dem Modell der Seelenlandschaft und dem Prinzip der romantischen Ironie. Die Außenwelt wird zum Spiegel der Innenwelt und umgekehrt, Realität und Allegorie greifen ineinander und verschmelzen zu einem universalpoetischen Ganzen. Allerdings bietet dieses Ganze wenig Trost, "dieses Einheitsschwarz, dieses Draußen", dafür umso mehr Angriffspunkte: den "Landesstillstand am Sonntag", das "Generationenbrackwasser", die "Verspätung", die "Verfrühung", die "Täglichkeit". Das Leben ist eine Zugfahrt - und eine Zugfahrt, die ist schrecklich. Aussichtslos. "Die Berge verstellen nur den Blick auf die Natur".

"Wie ist die Natur doch im allgemeinen so schön!" heißt es in der "Harzreise" von Heinrich Heine, und der galt bisher als der letzte Romantiker, weil er aus dem Geiste jener Bewegung schrieb und lebte, jedoch bereits deren Überwindung verkörperte, dort Distanz schuf, wo Ergriffenheit sich einzustellen drohte. Wie weiland Heine zieht auch Lentz über sein geliebtes Deutschland her, macht daraus kein Wintermärchen, sondern degradiert es zur topographischen Zusatzkennung: "Wartezustand Deutschland", "Gedächtniskirche Deutschland", "Raucherabteil Deutschland". Sein Unbehagen rührt gleichermaßen von der allgemeinen Dumpfheit, die ihn in den Zugabteilen begegnet, von der amts- und mediendeutschen Sprachdegenerierung, die er in Neologismen ("Vollanwesenheit", "Beiwohnwirklichkeit", "das Unentscheidenste" etc.) köstlich geißelt, und vom gesellschaftsfähig gewordenen Trivialhedonismus, dem er mit "schöner wohnen - billiger sterben - umsonst sterben" eine zynische Slogan-Trias liefert.

Aber mit solchen Äußerlichkeiten hält sich der Roman nur vorübergehend (sprich: -fahrend) auf. Weil es um eine Liebeserklärung geht, zumal an die Literatur, und besonders an die deutsche: an Döblin, Eich, Günter Bruno Fuchs, Gryphius, Hölderlin, Kafka und Kleist. Alles Romantiker auf ihre Art, keiner richtig, Verweigerer, Hyperrealisten, Hypersensible - und natürlich auch Hyperlinks zu des Autors innerem Wertesystem. Und weil es eben stets auch um das Innere geht, denn "Liebeserklärung" ist letztlich ein psychoanalytischer Roman.

Da erwägt zum Beispiel der Ich- (oder Du-)Erzähler, nach Leipzig zu ziehen, doch es kommt ihm das Völkerschlachtdenkmal in die Quere, und zwar auf allen Ebenen: auf der ästhetischen als sprachliche und architektonische Monstrosität, auf der ethischen als Monument nationalchauvinistischer Präpotenz und auf der tiefenpsychologischen als allgegenwärtiger Über-Phallus, als immanente Bedrohung, der sich das Ich vergeblich zu entziehen versucht. Aber: was heißt hier Ich? Der Ich-Du-Erzähler ist ebenfalls ein ausgesprochener Man-Erzähler, ein Jeder-Man ohne Erlösung, "milliardenfach läuft das so". Deswegen ist das, was er zu erzählen hat, von Interesse, auch wenn es kaum eine Handlung hat, auch wenn es mit einer ungewöhnlichen Erzähltechnik des geringfügigen Vor-und-Zurück erzählt wird, so wie der Zug beim Anfahren ruckt.

Von Belang ist es, weil hier der Phänotyp der Postmoderne Bilanz zieht, indem er seine gescheiterte Liebesbeziehung resümiert: "Die Beziehung ist nicht nur zu einem bloßen Gespräch über diese so genannte Beziehung geworden, diese so genannte Beziehung ist zu einem Bilanzieren, zu einer Schlussstrichaddition dieser so genannten Beziehung geworden." Was aber ist mit dieser so genannten Beziehung? Ein amour fou oder doch eher ein amour de fous, zumindest zweier unablässig von Bindungs- und Verlustängsten Gequälter, deren gegenseitiges Misstrauen und Missverstehen nicht zum Debakel führt, sondern das Debakel ist. Nur Handlungs- und Gesprächsfetzen lässt uns des "Selbstsängers Höflichkeit" mitbekommen, Ankunfts- und Abschiedsszenen, Anrufe am Handy, aber es genügt, um das "Untertönige" zu spüren, das über dieser Liebe lastet, die in perfektem Strategiedeutsch als "undurchführbar" bezeichnet wird.

Die Sehnsucht, geliebt zu werden, ist eben etwas anderes als die Liebe, das ist an sich nichts Neues. Aber in einer derart radikalen und authentischen, zugleich reflexartigen und reflektierenden Unmittelbarkeit habe ich das bislang selten gelesen. Die Erkenntnis ist schmerzhaft, aber "im anderen nur sich selbst zu sehen, ist das Schlimmste". Und es gibt kein Zurück, denn die "Verletzungen haben schon die Lebensgeschichte neu definierende Grenzen erreicht". Die Biographie konstituiert sich aus Verletzungen, und die sind tief, reichen weit zurück in die anale und orale Phase ("der Mund ist ein Arschloch"), in der sich die Spaltung vollzogen haben muss.

"[E]rst ist da ja die Familie, und danach erholt man sich nicht mehr davon, ein Leben lang." Das zielt auf die Kleinfamilie als bürgerliche Institution, aber weniger auf ihre Funktion als tendenziell repressives Sozialisationsmedium als vielmehr auf den fatalen Mechanismus, der ihr inhärent ist. "Familie ist der Grundschaden" - die Unzulänglichkeiten und Ängste übertragen sich von Generation zu Generation, werden zum prägenden Modell menschlichen Zusammenlebens: "eine Familie ist ja immer kurz vor dem Scheitern". Das Kind erlebt das Versagen der Kommunikation als Bedrohung und Zurückweisung, als nicht wiedergutzumachenden Verlust: "und dass Mutter sagte, ich werde dir noch gute Nacht sagen, als du gerade gelernt hattest, all diese Worte voneinander zu unterscheiden, [...] und dann hat sie bis heute nicht gute Nacht gesagt, sie ging raus aus dem Zimmer und ist nicht mehr hereingekommen, bis heute ist sie in dieses Zimmer nicht mehr hereingekommen".

Auf diese Weise wird die "selbst geschlossene Anstalt, die man selber ist" errichtet und, nur scheinbar paradoxerweise, das "unablässige nicht Abgeschlossensein" als Grundgefühl implantiert: die Sehnsucht. Lentz' Roman ist von großer poetischer Kraft. In einer eigenartigen Zusammenführung von intimem, behördlichem und theoretischem Duktus findet und schafft er immer wieder Ausdrücke, Wortfügungen und Bilder von äußerster Präzision und Suggestivität. Kombinatorik, Wortspiele, rhythmische Ostinati sind nie willkürliche Beigaben, sondern dienen der Eindringlichkeit des Erzählens, das sich andererseits durch sprachkritische Distanz und ironische Brechungen denkbar fern von Sentimentalität und Verlassenheits-Pseudoromantik hält.

Das Wintermärchen findet dennoch statt. Es ist die Weihnachtsgeschichte vom ausgehöhlten Esel, eine ergreifende Parabel von der narzisstischen Urverletzung: dem Verlust des wahren Selbst. Was bleibt, ist eine "nicht mehr zu stopfende Erinnerung", ein falsches Ich, weil es das Urvertrauen verloren hat und nun kontrollierend, bilanzierend, rechtfertigend und verletzend durch die Welt ziehen muss, denn nichts wäre furchtbarer, als "bei bloßer Existenz ertappt zu werden". Wie kann man da noch auf Liebe hoffen? Doch wahrscheinlich "ist Liebe bloß ein falscher Sprachgebrauch". Michael Lentz' "Liebeserklärung" ist ein sehr trauriges Buch, bei dem ich oft gelacht habe. Daran erkenne ich ein gutes Buch.

Titelbild

Michael Lentz: Liebeserklärung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
192 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3100439236

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