Herr Müller fährt mit dem Zug
Titus Müllers „Einsteigen“ ist eine außerordentliche Lobpreisung des Bahnreisens
Von Walter Delabar
Es gibt Leute, die fahren mit dem Rad, es gibt andere, die fahren nur mit dem Auto, wählen den Flug – und sei es, weils schick ist –, ganz andere wiederum benutzen den Bus und einige sogar die Bahn, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Man könnte also meinen, dass ein jeder die Fortbewegung oder sogar das Reisen so handhaben mag, wie es ihm gefällt, und es dabei belassen. Aber dem ist nicht so.
Denn wer nur kann, der schimpft auf die Bahn und ihre Unpünktlichkeit. Das reicht bis in die Medien hinein, in denen es allgemeine Gewohnheit geworden ist, despektierlich von der Bahn zu sprechen, davon, wie herabgewirtschaftet sie ist und welch peinlichen Eindruck sie bei allerhand Großveranstaltungen macht, wenn sie es nicht schaffe, einigermaßen für Pünktlichkeit zu sorgen. Das sehe im Ausland ganz anders aus und dann ist die Rede von Japan, der Schweiz oder sogar von Italien. Abweichende Stimmen, die davon erzählen, dass auch Bahnunternehmen in anderen Ländern mit Problemen zu kämpfen haben, sind selten oder verhallen, fast ungehört.
Der schlechte Ruf der Bahn reicht sogar bin in die Fernzüge hinein, bei denen einigermaßen ahnungslose Reisende miterleben dürfen, mit welcher Haltlosigkeit Bahnmitarbeiter beiderlei Geschlechts von Reisenden beschimpft werden. Vergleichbares erleben wohl nur Postboten, die gleichfalls für alles, was auch immer schief gehen kann, zur Rechenschaft gezogen werden. Und sei es durch den kundenseitigen Schäferhund, der an das Gartentür auf das nächste Postbotenbein wartet.
Während man sogar von Stautourismus munkeln hört, also von Leuten, die sich ins Auto setzen, um sich mit voller Absicht und höchstem Vergnügen in einen Stau zu stellen, erregen Bahnverspätungen allerhöchste Abscheu, der zudem völlig hemmungslos Ausdruck gegeben wird.
Da ist Titus Müller ein ganz anderes Kaliber. Im Arche Verlag hat der durch historische Romane bekannt gewordene Autor eine kleine, nur 150 Seiten kurze Schrift über das Bahnfahren vorgelegt, in der er seiner Begeisterung für die Fortbewegung auf Schienen Ausdruck gibt. Müller, der heute mit seiner Familie in Süddeutschland lebt, macht viel Werbung für seine Bücher und geht anscheinend intensiv auf Lesereisen. Auch mit der Familie entscheidet er sich anscheinend immer wieder dafür, die ganze Bagage in den Zug zu packen und loszufahren, auch wenn das bedeuten mag, das Gepäck auf tragbare Mengen und Größen zu reduzieren und sich mit Fahrplänen und anderem arrangieren zu müssen. Selbst die Reise mit dem Liegewagen hat ihre Reize, eben nicht nur für die wilden Söhne des Autors, sondern auch für ihn selbst. Die Stinkfüße der eigenen Familie und deren Essgewohnheiten sind immerhin vertraut genug.
Titus Müller genießt offensichtlich die Fahrten mit dem Zug, die für ihn pure Erholung sind. Er freut sich an den vorbeiziehenden Landschaften, die sich im Zug gedankenverloren und zugleich vollständig genießen lassen, während bei der Autofahrt der Verkehr einen größeren Teil der Aufmerksamkeit auf sich zieht. Autofahren ist für Müller Stress.
Zugfahren ist für ihn Erholung, ein Genuss und zugleich die Möglichkeit, nach Belieben zwischen verschiedenen Tätigkeiten und Haltungen zu wechseln. Und allesamt sind sie in dieser Form in anderen Reiseformaten nicht zu praktizieren. Selbst Flugreisen vor allem innereuropäisch reiht er hinter die Zugreise ein. Wenn Müller also die Wahl hat zwischen zwei und vier Stunden Anfahrten und Wartezeiten plus einer Stunde Reise und einigen Stunden Bahnreisen, wählt er die Bahnreise. Die könne man entspannt im Sitzen verbringen, meinethalben mit einer sinnvollen Tätigkeit, während die Flugreise einen dafür kaum Zeit lasse.
Hinzu kommt, dass man mit dem Zug anders als mit Auto und Flugzeug eigentlich fast immer mitten hinein ins Geschehen fährt: Roma termini? Der Hauptbahnhof von Amsterdam? Ja selbst der Berliner Hauptbahnhof, von dem man aufs Regierungsviertel schaut, oder die Wiener und Pariser Ringbahnhöfe – man ist, wenn man ankommt, gleich mitten in der Stadt und nicht irgendwo am Rand und muss dann noch weiter.
Hinzu kommen die angenehmen bis aufregenden Erfahrungen oder Beobachtungen, die sich mit Mitreisenden machen lassen. Ja, es gibt auch die Stiesel und Unverschämten, die den Zug am liebsten ganz für sich gepachtet hätten (in etwa so: „Ich setze mich hier hin, weil ich hier meine Beine ausstrecken kann, lassen Sie also Ihr Gepäck verschwinden.“ Im Vergleich dazu sind die demonstrativen Laptop-Tipper und Lauthalstelefonierer zurückhaltende Zeitgenossen.) Aber die sind seltener, als man denkt, während es auffallend viele gute Erfahrungen mit den fremden Leuten in der Bahn gibt, die einem etwa aushelfen, wenns mit dem Ticket nicht klappt, die den Platz räumen, wenn Leute mit kleinen Kindern verzweifelt einen Sitzplatz suchen, die einfach nur so miteinander ins Gespräch kommen, weil der Zufall sie zusammengeführt hat. Das hat ein bisschen was von den Postkutschenfahrten früherer Zeiten, bei denen Reisende das Gespräch suchten und nicht ihre Ruhe. Das Simmelʼsche Attest, dass das moderne Reisen wie das urbane Leben die „Blasiertheit“ und „Reserviertheit“ als notwendige Haltungen des modernen Menschen erzeugt habe, lässt sich beim Bahnfahren also nicht immer bestätigen. Was einiges für sich hat.
Selbst wenn es auf der Fahrt mal hakt, ist das meist nicht weiter schlimm. Nur in den aller seltensten Fällen geht es nicht weiter, und in der Tat, dann zahlt einem die Bahn sogar die Übernachtung, bevor man am nächsten Tag die Fahrt fortsetzen kann. Und selbst wenn der Zug einen nicht pünktlich abliefert, sind die Folgen meist gering.
Nun denn, Müllers Begeisterung wird man nicht in allen Belangen teilen wollen. Wer viel unterwegs ist und auch viel Bahn fährt, hat auch seine schlechten Erfahrungen gemacht. Aber wer könnte das nicht von Autotouren oder Flugreisen erzählen? 500 km in 15 Stunden? Alles schon erlebt. Aber wer Bahn fährt, weiß auch warum, und weiß die Vorteile dieser Art des Reisens zu schätzen. Wer nicht so viel unterwegs ist oder Aufmunterung braucht, möge sich an Titus Müller wenden.
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