Wer vom Tod spricht, erzählt stets auch vom Leben
Ulrich Kochs grenzsprengender Gedichtband „Letzte Hilfe Kurs“ bietet zum Teil Überragendes
Von Marie Isabel Matthews-Schlinzig
Über den Tod reden die meisten von uns nur ungern. Dabei gehört er zum Leben. Wer sich dies vergegenwärtigen möchte, dem sei ein Blick auf die eilenden Zahlenticker des worldometers empfohlen, das neben Todesfällen Geburten und anderes erfasst. Wobei es für die tägliche Dosis memento mori ja reicht, allabendlich die Nachrichten einzuschalten.
Oder man hält sich an Bücher wie Ulrich Kochs jüngsten Gedichtband Letzte Hilfe Kurs. Der Titel signalisiert gleich mehreres: Dass es zwar um letzte Dinge und den Tod als großen Gleichmacher geht, dies aber nicht nur schwergenommen wird; dass es sich um eine Art Reise (in sieben Teilen) handelt, auf der man andere Kursteilnehmer*innen kennenlernen wird (menschliche, nichtmenschliche, Anthropophagen, und andere); und (wobei damit keineswegs der Deutungen Ende erreicht sein soll): dass die Lektüre in eine Richtung weist, die die eigene Erkenntnis potenziell erweitern mag.
Kochs Buch entfaltet einen dunkel humorvollen, ambivalenten, häufig surrealen Reigen. Eine seiner Tonlagen zeigt das Eingangsgedicht, Stellt euch vor an:
Stellt euch vor, stellt euch vor
Wir sterben nie
Und als Tote steigen wir nur zum Himmel auf
Als tauchten wir auf vom Grund
Aus einer flachen flachen Tiefe
Und steigen steigen steigen und
Sinken wieder zurück
Mit einem Klavier im Mund
Und spielen draußen
Spielen spielen, bis es dämmert
Etüden
Bis uns jemand
Nach drinnen
Zum Essen
Waschen
Schlafen
Riefe
Man stelle sich Totsein vor als ein fortgesetzter musikalischer Kindheitszustand. Anfang und Ende, Steigen und Fallen, Ausgeliefert- und Behütetsein verschränken sich ungezwungen miteinander. Was auf den ersten Blick humorvoll und tröstlich (sowie nicht zuletzt ob der Wiederholungen beschwörend) wirkt, entpuppt sich beim zweiten Hinsehen als anstrengender Kreislauf: Wer würde beispielsweise wirklich gern in alle Ewigkeit Etüden spielen? Zudem wird, selbst wenn der „Himmel“ zur Sprache kommt, im Laufe der weiteren Lektüre klar, dass ein tröstender Gott in diesem Versuniversum nicht vorkommt: „Dafür sind wir jetzt ortskundig in der Verlorenheit“ heißt es entsprechend in La vie est dure, le mort est Dürer.
Das hier sowie in Stellt euch vor und den meisten Gedichten Kochs präsente Neben- bzw. Ineinanderblenden von Gegenteiligem, von ungewöhnlichen Bildern, ist zielführend, denn so lassen sich Wahrnehmungen anders und neu freilegen. Dazu passend lösen viele der Gedichte Grenzen auf: etwa zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem, Organischem und Nichtorganischem. Belebtheit erfasst Dinge wie Tote; die eigentliche Handlungsmacht kommt – den Tatsachen entsprechend – der Natur zu (wodurch der Mensch wenigstens dezentriert erscheint); es wimmelt von Wiedergängern, von denen manche über ihr Auftauchen in anderen Gedichten reflektieren (zum Beispiel in Solo); gelegentlich bröckelt die Grenze zwischen Lesenden und Buch, etwa wenn Lass mich verraten diese direkt anspricht.
Die sieben Teile der Sammlung fokussieren auf bestimmte Themen, doch lose genug, um anderes zuzulassen. Nicht nur deshalb werden abschnittübergreifend immer wieder Echos hörbar, und zwar mit Blick auf das Wortmaterial als auch die Motive. Mit Blick auf den Bandtitel wenig überraschend beschäftigen sich viele Texte mit der Vergänglichkeit und Verletzlichkeit alles Lebendigen, Todes- und Leichenarten, der Verlorenheit im Alltäglichen oder dem (zu pflegenden) Alter. Mehrfach geht es um das eigene Älterwerden beziehungsweise das der Eltern. Während das Nachsinnen über Ersteres immer wieder auch ins Ausleuchten von Kindheitserinnerungen – frühen und andauernden, teils schreckenden Prägungen – mündet, handhaben die Verse Letzteres mit zarter und furchtsamer Hand: Bedeutet doch das Gehen der vorigen Generation, dass man selbst dem Tod näher rückt (Das Sterben der Eltern).
Speziell wenn alte Menschen, deren Armut, Vereinsamung und oft leises Verschwinden in den Mittelpunkt der Gedichte treten (man lese dazu unbedingt Aphasie ist die Sprache der Liebe), wird Kochs Schreiben überraschend sozial und politisch. In ähnlicher Weise bevölkern andere, nicht nur lyrisch oft Marginalisierte die Texte: Reinigungskräfte, Fernfahrer, „Trinker“ oder der als Kurier arbeitende Vater. Das wiederholt auftauchende Motiv vom Menschen als Todesgrund der eigenen wie anderer Spezies gehört ebenfalls in diese Kategorie des Tagesaktuellen.
Auf schockierende Weise gegenwärtig sind jene Gedichte, die bestimmte Gewaltszenarien entwickeln, seien es das willkürliche Töten in Diktaturen, Massenhinrichtungen oder Kriegswirren. So gerät in Vor dem Krieg hatte dieses Gedicht zwei Bewohner, das auf den Angriff Russlands gegen die Ukraine anspielt, jedwede Poetisierung zur entleerten Geste. In Drohne wird einer solchen der Status eines (Nutz-)Tiers zugeschrieben, das seinem Schöpfer sowohl Urlaubsbilder liefert als auch bei Bedarf Menschen töten kann.
Gewalt figuriert schließlich auch neben tiefer Zuneigung in den Paar- und familiären Beziehungen, die der Band schildert. Da knobeln Kinder darum, welches die Eltern töten darf; eine Ehefrau und Mutter tröstet wechselweise den Vater, der weint, weil er das Kind geschlagen hat, und das weinende Kind (Die Falle). Liebe, (gelebtes und verpasstes) Verlangen, die Angst davor, dass der Partner vor einem sterben könnte, als vergeblich markierte Ausbruchsversuche aus dem Lauf der Dinge – all das und mehr verhandelt dieser Themenkreis.
Schließlich kann ein Lyriker wohl nicht vom Tod handeln, ohne den Akt des Schreibens zu reflektieren. Dies geschieht mit schonungslos (selbst-)zerlegendem, satirischem Einschlag und nimmt nicht zuletzt den Alltag und Betrieb der Literatur vergnüglich aufs Korn. Dabei stellen Dichter teils lächerliche und zugleich enorm notwendige Gestalten dar. Schreiben (ja vielleicht die Kunstpraxis insgesamt) wird gleichzeitig zum Scheitern verurteilt und bleibt allerletzte Hoffnung, denn „Durch all die verschwendete Druckerschwärze | quillt ab und zu noch aus dem Himmel Licht“. Entsprechend ist der Band gespickt mit Anspielungen auf andere literarische Texte, Bilder, Filme beziehungsweise deren Schöpfer.
Themenunabhängig ist Kochs Sprache zugänglich, oft (fast barock) verspielt, jedoch nie unnötig verkompliziert. Seine Metaphern faszinieren – wobei sich nicht alle immer unmittelbar erschließen. Vereinzelt wirkt ein Bild schief oder klischiert, etwa wenn in dem ansonsten wunderbaren Sonnenaufgang, „eine“ von der „Putzkolonne“ einen „Staubsauger Gassi [führt]“. Die Länge und formale Komplexität der Gedichte reicht von fein geknüpften Gespinsten bis zurückhaltend sparsam, längere Narrative wechseln ab mit Wortfotografien und Miniaturen.
Trotz oder vielleicht aufgrund der surrealen Perspektivierung wirken sämtliche der Gedichte in konkreten Details gegründet: Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Emotionalität des Daseins werden in all ihren Facetten nicht nur herausgestellt, sondern mit präziser Hand daraufhin abgetastet, wie sie in Sprache Gestalt annehmen. Manchmal meint man, dem Dichter selbst nahezukommen: Wenn Betrachtungen norddeutscher Landschaften und deren Jahreszeitenwechsel zu Momentaufnahmen der Vergänglichkeit werden (Wie hoch bei Salzwedel der Weizen steht) oder ein berührendes Selbstporträt entsteht (Sechzehnter Januar).
Neben Wiederholungen setzt Koch immer wieder auf Endreime, die der Emphase dienen – mal humorvoll, mal verstörend. Die Beziehung zwischen Titel und Gedicht ist spannend und gibt durchaus Rätsel auf. Wie im gesamten Band arbeitet der Autor diesbezüglich mit (teils mehrsprachigen) Wortspielen, Ironie, sowie (schwarzem) Humor – man schaue sich beispielgebend Die apokalyptischen Writer an.
Kritisch angemerkt sei, dass einige wenige der Texte trotz mehrmaliger Lektüre eher in sich verkapselt bleiben. Buchstäblich schwerer ins Gewicht fallen der Umfang des Bands von nicht weniger als 176 Seiten und der damit verbundene Umstand, dass in der Gesamtschau das Profil der einzelnen Teile eher verschwimmt. Letzteres mag gewollt sein – spiegelt es doch die aufgelöste Grenzziehung zwischen Lebenden, Toten, Menschlichem und Nichtmenschlichem. Allerdings wirkt dies gemeinsam mit der schieren Anzahl der Gedichte selbst auf die gutwilligste Leserin zu wenig nuanciert und leider etwas langatmig. Eine leichte Straffung hätte dem Band gutgetan.
Trotz dieser kleineren Einwände sei das von Jung und Jung übrigens ausgesprochen schön präsentierte Buch mit Nachdruck empfohlen – nicht zuletzt, weil die Qualität mancher Gedichte eigentlich nur mit dem Wort ‚überragend‘ beschreibbar ist. Sie fassen einen an und haken sich fest, indem sie die Welt in fremde Lichter tauchen und dennoch Anknüpfungspunkte für die Lebensreiseerfahrungen der Leser*innen bieten. Diese tiefere Begegnung mit dem Autor macht definitiv Lust Lust darauf, sein beachtliches dichterisches Werk weiter zu entdecken.
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